Urteil des LG Aachen vom 09.02.2009

LG Aachen: härte, nachzahlung, herkunft, sozialhilfe, verwertung, regress, vergütung, alter, pflegebedürftigkeit, behinderung

Landgericht Aachen, 3 T 454/08
Datum:
09.02.2009
Gericht:
Landgericht Aachen
Spruchkörper:
3. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 T 454/08
Vorinstanz:
Amtsgericht Aachen, 69 XVII M 611
Schlagworte:
Vergütung, Regress, Vermögen, Härte, Nachzahlung von
Grundsicherungsleistungen
Normen:
FGG §§ 69e, 56g Abs. 5; BGB §§ 1908i Abs. 1, 1836c Nr. 2; SGB XII §
90
Leitsätze:
Eine Härte im Sinne von § 90 SGB XII liegt vor, wenn auf Grund
besonderer Umstände des Einzelfalles, wie z.B. die Art, Schwere und
Dauer der Hilfe, das Alter, der Familienstand oder die sonstigen
Belastungen des Vermögensinhabers und seiner Angehörigen eine
typische Vermögenslage deshalb zu einer besonderen Situation wird,
weil die soziale Stellung des Hilfesuchenden insbesondere wegen einer
Behinderung, Krankheit oder Pflegebedürftigkeit nachhaltig
beeinträchtigt ist. Bei der Prüfung des Einzelfalles kann ausnahmsweise
auch die Herkunft des Vermögens mit berücksichtigt werden. In
Einzelfällen kann die Herkunft des Vermögens dieses so prägen, dass
seine Verwertung eine Härte darstellen kann. Dies gilt insbesondere für
Vermögen, das aufgrund einer durch fehlerhafte Bearbeitung der
Sozialbehörde verursachte Nachzahlung von
Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII erworben wurde und
dem geistig und körperlich schwer behinderten Betreuten erst die
Befriedigung von sozialhilferechtlich anerkannten Grundbedürfnissen
ermöglichen soll.
Tenor:
Der Beschluss des Amtsgerichts Aachen vom 05.12.2008 - 69 XVII M
611 - wird aufgehoben.
Die Beteiligte zu 2 ist als Betreuerin des Betroffenen unter anderem für den
Aufgabenkreis der Vermögenssorge bestellt (Bl. 13, 51 d.A.).
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Mit Schreiben vom 15.11.2008 (Bl. 72 d.A.) teilte die Betreuerin dem
Vormundschaftsgericht u.a. mit, an den – seit Jahren mittellosen - Betroffenen würden in
Kürze Grundsicherungsleistungen für den Zeitraum 01.01.2003 bis 31.10.2006 in Höhe
von 5.236,- EUR nachgezahlt – diese Nachzahlung erfolge, da dem Betreuten in dieser
Zeit rechtswidrig das an seine Mutter gezahlte Kindergeld als Einkommen angerechnet
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worden sei. Diesen Umstand nahm der Rechtspfleger des Vormundschaftsgerichts zum
Anlass, dem Betroffenen mit Schreiben vom 25.11.2008 (Bl. 96 VergH) einen Regress
hinsichtlich aus der Landeskasse gezahlter Vergütungen und Aufwendungen
anzukündigen. Hiergegen wand sich die Beteiligte zu 2 mit Schreiben vom 01.12.2008
(Bl. 97 VergH) und vertrat die Auffassung, der dem Betreuten zufließende Betrag sei
nicht als Vermögen im Sinne des § 90 SGB XII anzusehen; wenn das Sozialamt im
Zeitraum 2003 bis 2006 rechtmäßig gehandelt hätte, hätte der Betroffene jeden Monat
154,- Euro mehr erhalten und sicherlich auch verbraucht. Dennoch hat das Amtsgericht
Aachen den Betroffenen mit Beschluss vom 05.12.2008 (Bl. 98 VergH) in Höhe von
2.636,- EUR in Regress genommen. Zur Begründung wurde ausgeführt, das derzeitige
Vermögen des Betroffenen liege über dem Schonbetrag nach §§ 1908i, 1836c BGB, 90
SGB XII – auf dessen Herkunft komme es nicht an. Selbst bei Ansparung von monatlich
gezahlten und nicht verbrauchten Sozialleistungen fehle es im Gesetz an einem
besonderen Schutz, so dass durch die fehlerhafte Bearbeitung der Sozialbehörde
verursachte Nachzahlung der Schonbetrag überschritten sei.
Gegen diesen, dem Betroffenen und dem Betreuer jeweils am 10.12.2008 zugestellten
Beschluss legte die Beteiligte zu 2 mit Schreiben vom 12.12.2008 (Bl. 103 VergH)
"Widerspruch" ein und vertrat darin die Ansicht, dass die Verwertung des unstreitig
derzeit vorhandenen Vermögens für den Betreuten unter Berücksichtigung seiner
besonderen Situation als geistig und körperlich schwer behinderter Betroffener eine
unzumutbare Härte im Sinne des § 90 Abs. 3 SGB XII darstelle. Der Bezirksrevisor als
Vertreter der Landeskasse nahm mit Schreiben vom 16.01.2009 (Bl. 110 VergH) zum
Verfahren Stellung und hielt die Beschwerde für begründet. Wegen der weiteren
Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
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II.
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Das als sofortige Beschwerde auszulegende Rechtsmittel des Beteiligten zu 2 ist
gemäß § 11 Abs. 1 RPflG i.V.m. §§ 69e, 56g Abs. 5 FGG statthaft; insbesondere ist der
Beteiligte zu 2 als Betreuer (auch) für den Bereich der Vermögenssorge auch
beschwerdeberechtigt im Interesse des eigentlich beschwerten Betroffenen. Die
Beschwerdesumme von 150,00 Euro überschritten. Die sofortige Beschwerde ist auch
im Übrigen zulässig, insbesondere innerhalb der 2-Wochen-Frist des § 22 Abs. 1 FGG
eingelegt worden.
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Das Rechtsmittel ist in der Sache selbst auch begründet. Der Staatskasse steht derzeit
kein Regressanspruch wegen verauslagter Vergütungen und Aufwendungen für
Betreuer und Verfahrenspfleger gegen den Betroffenen zu. Gemäß §§ 1908i Abs. 1,
1836c, 1836e BGB gehen die Ansprüche des Betreuers gegen den Betreuten auf die
Staatskasse über, soweit diese die Ansprüche des Betreuers befriedigt hat. Dieser
übergegangene Anspruch erlischt in 10 Jahren vom Ablauf des Jahres, in dem die
Staatskasse die jeweilige Vergütung bezahlt hat.
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Es kann offen bleiben, ob diese Voraussetzungen hier vorliegen, da der Betroffene nach
der zutreffenden Ansicht der Beteiligten zu 2 jedenfalls im Ergebnis als mittellos
anzusehen ist (§ 1908i Abs. 1, 1836d BGB). Für die Kosten der Betreuung hat der
Betreute gemäß §§ 1908i Abs. 1, 1836c Nr. 1 BGB in Verbindung mit § 87 SGB XII
grundsätzlich sein Einkommen und nach § 1836c Nr. 2 BGB in Verbindung mit § 90
SGB XII sein gesamtes verwertbares Vermögen einzusetzen. Dabei sind nach § 82 Abs.
1 und 2 SGB XII Leistungen nach dem SGB XII wie insbesondere auch
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Grundsicherungsleistungen nicht als Einkommen anzusehen (Palandt/Diederichsen,
BGB, 68. Aufl. 2009, § 1836c Rn 3; Schellhorn, SGB XII – Sozialhilfe, 17. Aufl. 2006, §
82 Rn 20). Gemäß § 90 Abs. 2 SGB XII und der aufgrund dieser Vorschrift erlassenen
Durchführungsverordnung beträgt der anrechnungsfreie Betrag (Schonbetrag) derzeit
2.600,00 EUR. Das Vermögen, das diesen Schonbetrag übersteigt, muss der Betroffene
zur Deckung der Betreuungskosten einsetzen.
Zwar ist aufgrund der Nachzahlung von Grundsicherungsleistungen durch das
Sozialamt der Stadt X2 in Höhe von 5.236,- EUR unstreitig das Schonvermögen
überschritten. Allerdings ist die Kammer mit der Betreuerin und auch dem Bezirksrevisor
der Auffassung, dass der Einsatz des den Schonbetrag übersteigenden
Vermögensbetrags in Höhe von 2.636,- EUR im vorliegenden Fall für den Betroffenen
eine Härte im Sinne von § 90 Abs. 3 SGB XII bedeuten würde. Der Begriff der Härte ist
zunächst im Zusammenhang mit den Vorschriften über das Schonvermögen nach § 90
Abs. 2 SGB XII zu sehen, d.h., das Ziel der Härtevorschrift muss in Einklang mit den
Bestimmungen über das Schonvermögen stehen, nämlich dem Sozialhilfeempfänger
(Betreuten) einen gewissen Spielraum in seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit zu
erhalten (Urteil des BSG vom 11.12.2007, B 8/9b SO 20/06 R – zitiert nach Juris).
Während die Vorschriften über das Schonvermögen typische Lebenssachverhalte
regeln, bei denen es als unbillig erscheint, die Sozialhilfe vom Einsatz bestimmter
Vermögensgegenstände abhängig zu machen, regelt § 90 Abs. 3 SGB XII atypische
Fallgestaltungen, die mit den Regelbeispielen des § 90 Abs. 2 SGB XII vergleichbar
sind und zu einem den Leitvorstellungen des § 90 Abs. 2 SGB XII entsprechenden
Ergebnis führen (vgl.: BVerwGE 23, 149, 158 f; Schellhorn, a.a.O. § 90 Rn 75). Eine
Härte liegt danach vor, wenn auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalles, wie z.B.
die Art, Schwere und Dauer der Hilfe, das Alter, der Familienstand oder die sonstigen
Belastungen des Vermögensinhabers und seiner Angehörigen eine typische
Vermögenslage deshalb zu einer besonderen Situation wird, weil die soziale Stellung
des Hilfesuchenden insbesondere wegen einer Behinderung, Krankheit oder
Pflegebedürftigkeit nachhaltig beeinträchtigt ist (BSG a.a.O.). Zwar spielt dabei die
Herkunft des Vermögens grundsätzlich keine entscheidende Rolle (Schellhorn, a.a.O. §
90 Rn 77), dies gilt jedoch nicht ausnahmslos. In Einzelfällen kann die Herkunft des
Vermögens dieses so prägen, dass seine Verwertung eine Härte darstellen kann. Dies
hat die Rechtsprechung insbesondere in Fällen angenommen, in denen
anrechnungsfreies Einkommen angespart wurde oder aus entsprechenden
Nachzahlungen resultierte (BSG a.a.O.).
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Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist bei dem Betroffenen von einer
unzumutbaren Härte im Sinne von § 90 Abs. 3 SGB XII auszugehen. Insoweit ist
zunächst darauf hinzuweisen, dass die Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII
nicht zum einsetzbaren Vermögen gehören. Ferner leidet der Betreute ausweislich des
Attestes des Dr. T2 vom 03.10.2005 (Bl. 50 d.A.) seit Jahren an einer schweren
Leukodystrophie (genetisch bedingte fortschreitende Degeneration des zentralen und
peripheren Nervensystems), ist geistig und körperlich schwer behindert und wurde nach
Mitteilung der Betreuerin erst kürzlich in die Pflegestufe 3 eingestuft. Aus den jährlichen
Betreuungsberichten an das Vormundschaftsgericht geht hervor, dass der Betroffene
zudem seit vielen Jahren mit seiner Mutter und seinem Bruder in einer
Obdachlosenunterkunft wohnt. Nach Mitteilung der Beteiligten zu 2 wird der Betroffene
demnächst mit seiner Familie in eine andere, behindertengerechte
Obdachlosenunterkunft umziehen müssen, so dass die Nachzahlung von rechtswidrig
einbehaltenen Sozialhilfebeträgen für die Jahre 2003 bis 2006 im Zusammenhang mit
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dem Umzug für die Anschaffung von Möbeln etc. verwandt werden könnte. Auch nach
Ansicht der Kammer werden dadurch Grundbedürfnisse des Betroffenen und seiner
Angehörigen befriedigt, für deren Gewährung die Sozialhilfe auch gedacht ist - mit der
Folge, dass der den Schonbetrag übersteigende Betrag aus der Nachzahlung der
Grundsicherungsleistung außer Ansatz zu bleiben hat.
Die sofortige weitere Beschwerde wird nicht zugelassen, da grundsätzliche Fragen nicht
aufgeworfen werden (56g Abs. 5 S. 2 FGG).
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Beschwerdewert:
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Dr. W N C
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Vorsitzender Richter am Richter am Landgericht Richter
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Landgericht
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