Urteil des LAG Hessen vom 28.08.2009

LAG Frankfurt: behinderung, entschädigung, vorstellungsgespräch, verbot des rechtsmissbrauchs, stellenausschreibung, öffentliches amt, erfüllung, umschulung, dokumentation, beschäftigungspflicht

1
2
3
4
5
6
7
Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
19. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
19/3 Sa 1636/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 15 Abs 2 AGG, § 6 Abs 1 S
2 AGG, § 82 S 2 SGB 9, § 7
Abs 1 AGG, § 1 AGG
Entschädigung wegen Benachteiligung aufgrund
Behinderung - keine Einladung zum Vorstellungsgespräch -
Unterrichtungspflicht - Widerlegung
Tenor
Die Berufungen des Klägers und der Beklagten gegen das Urteil des
Arbeitsgerichts Darmstadt vom 21. August 2008 – 12 Ca 215/08 –
werden zurückgewiesen.
Von den Kosten des Berufungsverfahrens hat der Kläger 2/3 und die
Beklagte 1/3 zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte an den Kläger eine Entschädigung
wegen Benachteiligung aufgrund Behinderung zu zahlen hat.
Die Beklagte ist eine Gebietskörperschaft. Bei ihr waren im Jahr 2007 12,07% der
Arbeitsplätze mit behinderten Menschen besetzt. Eine
Schwerbehindertenvertretung besteht bei der Beklagten nicht. Am 12. Januar 2008
schrieb sie eine auf zwei Jahre befristete Stelle für eine/n
Verwaltungsfachangestellte/n für den Geschäftsbereich Einwohnerservice aus (Bl.
6 d. A.). Die monatliche Vergütung für diese Stelle sollte 1.984,68 Euro betragen.
Als Einstellungsvoraussetzungen sind u. a. genannt:
- Abgeschlossene Ausbildung als Verwaltungsfachangestellte/r oder
vergleichbare Verwaltungsausbildung
- Gute EDV-Kenntnisse (MS-Office)
Weiter wird in der Stellenausschreibung darauf hingewiesen, dass Erfahrungen im
Bereich Einwohnerwesen von Vorteil wären. Am 10. Januar 2007 hatte die Beklagte
die Stellenausschreibung bereits der Agentur für Arbeit gemeldet und sie um
Aufnahme der Stellenausschreibung in die Stellenangebote gebeten.
Mit Schreiben vom 19. Januar 2008, wegen dessen Wortlaut auf Bl. 8 d. A.
verwiesen wird, bewarb sich der am 25. März 1962 geborene, verheiratete und mit
einem Grad der Behinderung von 60 schwerbehinderte Kläger auf diese
Stellenanzeige und wies auf seine Schwerbehinderung hin. Vor der Bewerbung
hatte der Kläger, der ausgebildeter Krankenpfleger ist und aufgrund
gesundheitlicher Einschränkungen nicht mehr als Krankenpfleger einsetzbar war,
eine vom Rentenversicherungsträger geförderte Umschulung zum
Verwaltungsfachangestellten absolviert und am 28. September 2006 erfolgreich
abgeschlossen. Nach seiner Umschulung bewarb sich der Kläger auf ca. 120
Stellen im Rhein-Main-Gebiet, darunter auch auf Teilzeitstellen mit einem deutlich
niedrigeren Gehalt und einer Entfernung von bis zu 50 km zu seinem Wohnort.
8
9
10
11
12
13
14
15
niedrigeren Gehalt und einer Entfernung von bis zu 50 km zu seinem Wohnort.
Nachdem das Integrationsamt einem Antrag des früheren Arbeitgebers auf
Zustimmung zum Ausspruch einer ordentlichen Kündigung im Jahr 2006 nicht
entsprochen hatte, weil der Kläger ordentlich unkündbar war, erteilte das
Integrationsamt am 25. Oktober 2007 die Zustimmung zum Ausspruch einer
außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist. Am 25. Februar 2008
schloss der Kläger mit seinem früheren Arbeitgeber einen Aufhebungsvertrag, der
die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31. März 2009 und im Fall der
vorzeitigen Beendigung eine Abfindung in Höhe des eingesparten Gehalts vorsah.
Zum 1. Mai 2008 trat der Kläger eine neue Stelle an und stellte seine
Bewerbungstätigkeit ein.
Die Beklagte lud den Kläger nicht zu einem Bewerbungsgespräch ein. Mit
Schreiben vom 12. März 2008 lehnte die Beklagte die Bewerbung des Klägers
ohne nähere Begründung mit dem Hinweis ab, die Entscheidung sei auf eine
andere Bewerberin gefallen. Dabei handelte es sich um eine Bewerberin, die über
Erfahrungen im Bereich des Einwohnerwesens verfügte. Mit Schreiben seiner
Prozessbevollmächtigten vom 19. März 2008 (Bl. 10 d. A.) rügte der Kläger die
Verletzung von § 82 SGB Satz 2 SGB IX und weiterer Verfahrensregeln nach § 81
SGB IX und machte eine Entschädigung in Höhe von drei
Bruttomonatsvergütungen geltend. Nachdem die Haftpflichtversicherung der
Beklagten die Zahlung mit Schreiben vom 16. April 2008 abgelehnt hatte, hat der
Kläger am 05. Mai 2008 die vorliegende Klage erhoben, die der Beklagten am 15.
Mai 2008 zugestellt worden ist. Bei dieser Klage handelt es sich um eine von ca. 40
Entschädigungsklagen des Klägers.
Der Kläger hat behauptet, von der Beklagten im Bewerbungsverfahren wegen
seiner Behinderung diskriminiert worden zu sein. Das beweise der Umstand, dass
die Beklagte ihn trotz seiner Eignung für die Stelle nicht zu einem
Vorstellungsgespräch eingeladen habe. Für die Diskriminierung spreche des
Weiteren die Verletzung der Anhörung- und Unterrichtungspflicht gemäß § 81 Abs.
1 Satz 8 und 9 SGB IX.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn eine Entschädigung, deren Höhe in das
Ermessen des Gerichts gestellt wird, aber 3 Bruttomonatsgehälter nicht
unterschreiten sollte, zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 16. Mai 2008 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat bestritten, den Kläger wegen seiner Behinderung benachteiligt zu
haben. Sie hat die Ansicht vertreten, nicht zur Einladung des Klägers zum
Vorstellungsgespräch verpflichtet gewesen zu sein. Dazu hat sie behauptet, der
Kläger verfüge nicht über gute EDV-Kenntnisse und keine Kenntnisse
bürgerspezifischer EDV-Programme. Ferner habe schon vor dem
Auswahlverfahren festgestanden, dass Erfahrungen im Bereich des
Einwohnerwesens eine zwingende Einstellungsvoraussetzung sei. Jedenfalls könne
– so die Ansicht der Beklagten – ein einzelner Verfahrensverstoß nicht die
Vermutung der Benachteiligung wegen Behinderung begründen; das gelte
jedenfalls bei Berücksichtigung der Einhaltung der übrigen Verfahrensvorschriften
und der Erfüllung der Beschäftigungspflicht. Die Beklagte hat behauptet, die
Schwerbehinderung des Klägers habe bei der Entscheidung keine Rolle gespielt;
die Stelle sei nach objektiven Kriterien und den Grundsätzen der Bestenauslese
besetzt worden. Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, das Verhalten des
Klägers sei rechtsmissbräuchlich und dazu behauptet, dass der Kläger sich nicht
ernsthaft beworben habe. Es sei anzunehmen, dass es dem Kläger nur um die
Erlangung von Entschädigungen gegangen sei. Dafür spräche die Vielzahl der
Bewerbungen und Entschädigungsklagen, in denen er Verfahrensverstöße "ins
Blaue hinein" behaupte.
Das Arbeitsgericht Darmstadt hat mit Urteil vom 21. August 2008 die Beklagte zur
Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 1.984 Euro verurteilt und die Klage im
Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Vermutung der
Benachteiligung dadurch begründet sei, dass die Beklagte den Kläger nicht zum
Vorstellungsgespräch eingeladen habe. Der Kläger sei nicht offensichtlich
ungeeignet. Der Einwand der Beklagten, die EDV-Kenntnisse des Klägers seien
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
ungeeignet. Der Einwand der Beklagten, die EDV-Kenntnisse des Klägers seien
nicht gut, stelle seine prinzipielle Eignung nicht in Frage stelle. Da laut
Stellenausschreibung Erfahrungen im Einwohnerwesen nicht vorausgesetzt
gewesen seien und die Beklagte nicht substantiiert vorgetragen habe, wann sie sie
entschieden haben, Erfahrungen im Einwohnerwesen als unerlässliche
Einstellungsvoraussetzung anzusehen, könne eine offensichtlich fehlende fachliche
Eignung des Klägers nicht mit dem Fehlen von Erfahrungen im Einwohnerwesen
begründet werden. Die Vermutung der Benachteiligung wegen Behinderung sei
auch deshalb begründet, weil die Beklagte die Ablehnung der klägerischen
Bewerbung nicht begründet habe. Aufgrund der fehlenden Begründung der
Ablehnung sei es der Beklagten verwehrt, sich auf sachliche Ablehnungsgründe zu
berufen. Für die Annahme, die Bewerbung des Klägers sei nicht ernsthaft, lägen
keine ausreichenden Anhaltspunkte vor. Die Höhe der Entschädigung sei unter
Berücksichtigung der Pflichtverletzungen einerseits und der erfolgten Meldung an
die Agentur für Arbeit, der Erfüllung der Beschäftigungsquote und des Umstands,
dass der Kläger eine neue Arbeitsstelle gefunden habe, andererseits mit einem
Bruttomonatsgehalt ausreichend hoch bemessen.
Gegen dieses Urteil, das dem Kläger am 19. September 2008 und der Beklagten
am 22. September 2008 zugestellt worden ist, haben beide Parteien Berufung
eingelegt, der Kläger mit Schriftsatz vom 14. Oktober 2007, eingegangen beim
Hessischen Landesarbeitsgericht am selben Tag, und die Beklagte mit Schriftsatz
vom 17. Oktober 2008, eingegangen beim Hessischen Landesarbeitsgericht am
17. Oktober 2008. Der Kläger hat seine Berufung mit Schriftsatz vom 11.
November 2008, der am selben Tag beim Hessischen Landesarbeitsgericht
eingegangen ist, begründet. Die Beklagte hat ihre Berufung – nach rechtzeitig
beantragter Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 22. Dezember 2008
– mit Schriftsatz vom 28. November 2008, eingegangen beim Hessischen
Landesarbeitsgericht am 01. Dezember 2008, begründet.
Die Beklagte wiederholt und ergänzt ihr erstinstanzliches Vorbringen. Sie
behauptet, dass der Kläger ausweislich seines Abschlusszeugnisses nicht die
vorausgesetzten guten EDV-Kenntnisse habe. Das verzögere die Einarbeitung und
sei wegen der Befristung der Stelle ein erheblicher Nachteil für die Beklagte.
Bereits vor dem Erscheinen der Stellenanzeige habe für die Mitglieder des
Kompetenzteams, welches die Vor- und Endauswahl vorgenommen habe,
festgestanden, dass Erfahrungen im Einwohnerbereich ein wichtiges und zentrales
Auswahlkriterium sei. Die Beklagte vertritt die Ansicht, dass eine Pflicht zur
Begründung der Absage aufgrund der Erfüllung der Beschäftigungsquote nicht
bestanden habe. Schon deshalb sei die Beklagte nicht mit der Geltendmachung
sachlicher Gründe für die Ablehnung des Klägers ausgeschlossen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 21. August 2008 – 12 Ca
215/08 – abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
1. die Berufung der Beklagten zurückzuweisen;
2. das Urteil des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 21. August 2008 – 12
Ca 215/08 – abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 5.952,00
Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit
16. Mai 2008 zu zahlen.
Der Kläger hält die Bemessung der Entschädigung für zu gering. Die Erfüllung der
gesetzlichen Pflichten und die Erlangung einer Arbeitsstelle könne sich nicht
mindernd auf die Entschädigung auswirken. Aufgrund der Schwere des Verstoßes
durch Verletzung von zwei Pflichten, der schwerwiegenden Verletzung des
Persönlichkeitsrechts des Klägers, des Ausmaßes des Verschuldens und der
fehlenden Einsicht der Beklagten erscheine eine Entschädigung von 3
Bruttomonatsgehältern angemessen. Im Übrigen verteidigt er das Urteil unter
Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens
Die Beklagte bittet um Zurückweisung der Berufung des Klägers.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien im Berufungsrechtszug wird auf
den vorgetragenen Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze sowie auf die
Niederschrift über die Berufungsverhandlung am 28. August 2009 (Bl. 191 f. d. A.)
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
Niederschrift über die Berufungsverhandlung am 28. August 2009 (Bl. 191 f. d. A.)
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
A. Die Berufungen der Parteien sind zulässig. Sie sind gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs.
1, 2 b ArbGG nach dem Wert des Beschwerdegegenstandes statthaft. Ferner sind
sie gemäß §§ 64 Abs. 6, 66 Abs. 1 ArbGG in Verbindung mit §§ 519, 520 ZPO form-
und fristgerecht eingelegt sowie rechtzeitig und ordnungsgemäß begründet
worden.
B. Die Berufungen beider Parteien sind unbegründet. Die Klage ist zulässig und in
dem Umfang, in dem das Arbeitsgericht Darmstadt ihr stattgegeben hat,
begründet. Ein höherer Entschädigungsanspruch steht dem Kläger nicht zu.
I. Die Klage ist zulässig. Nachdem der Kläger im ersten Rechtszug einen –
zulässigen – unbezifferten Zahlungsantrag gestellt hatte, hat er im
Berufungsrechtszug den Antrag beziffert. Darin liegt keine Klageänderung (§ 264
Nr. 2 ZPO). Mit seiner Berufung begehrt der Kläger die Zahlung einer
Entschädigung von insgesamt 5.952 Euro und damit die Abänderung des
erstinstanzlichen Urteils dahingehend, dass die Beklagte zur Zahlung von weiteren
3.968 Euro verurteilt wird.
II. Die Klage ist in dem Umfang, in dem das Arbeitsgericht ihr stattgegeben hat,
begründet. Dem Kläger steht gegenüber der Beklagten ein
Entschädigungsanspruch wegen Benachteiligung bei der Begründung eines
Arbeitsverhältnisses nach § 15 Abs. 2 AGG zu. Diesen hat das Arbeitsgericht in
angemessener Höhe mit dem Betrag von 1.984 Euro, der etwa einem
Bruttomonatsgehalt entspricht, festgesetzt.
1. Dem Kläger steht nach § 15 Abs. 2 AGG ein Entschädigungsanspruch zu, den er
fristgerecht geltend gemacht hat.
a) Der Kläger hat die für Entschädigung einzuhaltenden Ausschlussfristen der §§
15 Abs. 4, 61 b Abs. 1 ArbGG beachtet.
aa) Nach § 15 Abs. 4 AGG muss der Anspruch nach § 15 Abs. 2 AGG innerhalb
einer Frist von zwei Monaten schriftlich geltend gemacht werden. Der Fristbeginn
ist im Falle der Bewerbung der Zugang der Absage. Nach § 61 b Abs. 1 ArbGG
muss eine Klage auf Entschädigung nach § 15 AGG innerhalb von drei Monaten,
nachdem der Anspruch schriftlich geltend gemacht worden ist, erhoben werden.
bb) Diese Fristen sind eingehalten. Nachdem die Beklagte die Bewerbung des
Klägers mit Schreiben vom 12. März 2008 abschlägig beschieden hatte, hat der
Kläger mit Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom 19. März 2008 den auf
§ 15 Abs. 2 AGG gestützten Entschädigungsanspruch geltend gemacht.
Unschädlich ist das Fehlen eines bezifferten Entschädigungsanspruch im
Geltendmachungsschreiben (
). Wie sich aus dem Antwortschreiben der
Versicherung der Beklagten vom 16. April 2008 ergibt, ist die schriftliche
Geltendmachung der Beklagten innerhalb von zwei Monaten nach der Absage
zugegangen. Die Klage ist am 05. Mai 2008 eingereicht und der Beklagten am 15.
Mai 2008 zugestellt und damit innerhalb von drei Monaten nach der schriftlichen
Geltendmachung erhoben worden.
b) Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 AGG sind erfüllt. Der Kläger ist als
Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG
Beschäftigter im Sinne der Norm. Er ist unstreitig schwerbehindert im Sinne des
SGB IX und damit behindert im Sinne des AGG. Nach dem Vorbringen der Parteien
ist davon auszugehen, dass die Beklagte den Kläger wegen seiner Behinderung
benachteiligt hat. Die Entschädigungsklage ist nicht rechtsmissbräuchlich.
aa) Die Beklagte hat den Kläger wegen seiner Behinderung benachteiligt hat. Die
durch die Verletzung der Pflicht nach § 82 Satz 2 SGB IX begründete Vermutung
einer Benachteiligung wegen der Behinderung hat die Beklagte nicht entkräftet.
36
37
38
39
40
41
42
(1) Nach § 7 Abs. 1 AGG dürfen Beschäftigte nicht wegen eines in § 1 AGG
genannten Grundes – und damit u. a. wegen ihrer Behinderung – benachteiligt
werden. Das Verbot der Benachteiligung schwerbehinderter Beschäftigter regelt
zudem § 81 Abs. 2 SGB IX. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG liegt eine Benachteiligung
vor, wenn eine Person wegen der Behinderung eine weniger günstige Behandlung
erfährt als eine Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder
erfahren würde.
Nach den allgemeinen Darlegungs- und Beweislastregeln muss der
schwerbehinderte Bewerber, der eine Entschädigungszahlung wegen Verstoßes
gegen das Diskriminierungsverbot geltend macht, darlegen, dass er beim
Auswahl- bzw. Einstellungsverfahren wegen seiner Behinderung benachteiligt
worden ist. Seiner Darlegungs- und Beweispflicht genügt der schwerbehinderte
Bewerber nach § 22 AGG, wenn er im Streitfall Indizien beweist, die eine
Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen. Solche
Indiztatsachen, die eine Benachteiligung wegen des u. a. in § 1 AGG genannten
Grunds der Behinderung eines Menschen vermuten lassen, können auch Verstöße
gegen die Verfahrensvorschriften des §§ 81 Abs. 1, 82 SGB IX sein. Das Gericht
muss die Überzeugung einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit für die Kausalität
zwischen der Behinderung und dem Nachteil gewinnen (
). In diesem Fall trägt die andere Partei die
Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor
Benachteiligung vorgelegen hat. Hierzu hat sie Umstände darzulegen, welche den
Schluss zulassen, dass die Behinderung in dem Motivbündel, das die Entscheidung
beeinflusst hat, nicht als negatives Merkmal enthalten ist (
.
(2) Nach diesen Grundsätzen ist von einer Benachteiligung wegen Behinderung
auszugehen. Die Beklagte hat entgegen ihrer Verpflichtung aus § 82 Satz 2 SGB IX
den Kläger nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Das begründet die
Vermutung, dass die Beklagte den Kläger wegen seiner Behinderung benachteiligt
hat. Diese Vermutung hat die Beklagte nicht entkräftet.
(a) Die Beklagte hat die Pflicht, den Kläger zu einem Vorstellungsgespräch
einzuladen (§ 82 Satz 2 SGB IX), verletzt. Eine Verletzung der Pflichten nach § 81
Abs. 1 Satz 8 und 9 SGB IX ist hingegen nicht festzustellen.
(aa) Die Beklagte hat die Pflicht, den schwerbehinderten Kläger zu einem
Vorstellungsgespräch einzuladen (§ 82 Satz 2 SGB IX), verletzt.
(aaa) Die Verletzung der Pflicht, den schwerbehinderten Bewerber zu einem
Vorstellungsgespräch einzuladen (§ 82 Satz 2 SGB IX), ist geeignet, die
Vermutung einer Benachteiligung wegen der Behinderung zu begründen (
).
Nach § 82 Satz 2 SGB IX haben öffentliche Arbeitgeber, zu denen die Beklagte als
Gebietskörperschaft zählt (§ 71 Abs. 3 Nr. 3 SGB IX), sich bewerbende
schwerbehinderte Menschen zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Diese
Pflicht besteht nur dann nicht, wenn dem schwerbehinderten Menschen die
fachliche Eignung offensichtlich fehlt (§ 82 Satz 3 SGB IX). Ein schwerbehinderter
Bewerber muss bei einem öffentlichen Arbeitgeber die Chance eines
Vorstellungsgesprächs bekommen, wenn seine fachliche Eignung zweifelhaft, aber
nicht offensichtlich ausgeschlossen ist. Selbst wenn sich der öffentliche
Arbeitgeber aufgrund der Bewerbungsunterlagen schon die Meinung gebildet hat,
ein oder mehrere Bewerber seien so gut geeignet, dass der schwerbehinderte
Bewerber nicht mehr in die nähere Auswahl kommt, muss er den Bewerber nach
dem Gesetzesziel einladen. Der schwerbehinderte Bewerber soll den Arbeitgeber
im Vorstellungsgespräch von seiner Eignung überzeugen können. Wird ihm diese
Möglichkeit genommen, liegt darin eine weniger günstige Behandlung, als sie das
Gesetz zur Herstellung gleicher Bewerbungschancen gegenüber anderen
nichtbehinderten Bewerber für erforderlich hält. Der zugleich damit verbundene
Ausschluss aus dem weiteren Bewerbungsverfahren stellt sich als eine
Benachteiligung dar, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit der
Behinderung steht (
43
44
45
46
47
Behinderung steht (
).
Ob ein Bewerber offensichtlich nicht die notwendige fachliche Eignung hat, ist
anhand eines Vergleichs des für die zu besetzende Stelle bestehenden
Anforderungs- mit dem Leistungsprofil des behinderten Bewerbers zu ermitteln.
Die fachliche Eignung fehlt, wenn der Bewerber über die für die zu besetzende
Stelle bestehenden Ausbildungs- oder Prüfungsvoraussetzungen oder sonstige
Voraussetzungen, wie z. B. die nach der Stelle geforderten ausreichenden
praktischen Erfahrungen nicht verfügt (
). Im Hinblick auf das geforderte Anforderungsprofil ist der öffentliche
Arbeitgeber gehalten, dieses ausschließlich nach objektiven Kriterien, d. h. unter
Berücksichtigung der Anforderungen der auszuübenden Tätigkeit, festzulegen.
Ansonsten würde der Arbeitgeber des Öffentlichen Dienstes das durch Art. 33 Abs.
2 GG gewährleistete Recht auf Zugang zu einem öffentlichen Amt einschränken,
ohne dass dies durch Gründe in der Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung
des Bewerbers gerechtfertigt wäre. Daher ist es unzulässig, einen für die Art der
auszuübenden Tätigkeit nicht erforderlichen Ausbildungsabschluss zu verlangen (
). Gleiches muss in Bezug auf
geforderte praktische Fähigkeiten und Kenntnisse gelten, sofern sie für die
auszuübende Tätigkeit nicht notwendig sind. Zwar muss der schwerbehinderte
Bewerber bei der angestrebten Einstellung nicht bereits alle geforderten
Kenntnisse und Erfahrungen besitzen, um sofort den Arbeitsplatz ausfüllen zu
können. Allerdings muss der Stellenbewerber in der Lage sein, sich fehlende
Kenntnisse und Erfahrungen in einer zumutbaren Einarbeitungszeit anzueignen.
Dies kann in der Regel nicht angenommen werden, wenn er über überhaupt keine
praktischen Berufserfahrungen verfügt und das nach den Anforderungen der
ausgeübten Tätigkeit ein zulässiges Kriterium im Anforderungsprofil der Stelle ist.
(bbb) Unter Beachtung der vorstehenden Grundsätze bestand eine Pflicht, den
Kläger zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Dem Kläger fehlte nicht
offensichtlich die fachliche Eignung für die ausgeschriebene Stelle.
Nach der Stellenausschreibung ist eine abgeschlossene Ausbildung als
Verwaltungsfachangestellter oder eine vergleichbare Verwaltungsausbildung
vorausgesetzt. Die Qualifikation hat der Kläger im Rahmen seiner Umschulung
erworben.
Des Weiteren sind nach der Stellenausschreibung gute EDV-Kenntnisse
erforderlich. Dass der Kläger EDV-Kenntnisse hat, ist zwischen den Parteien
unstreitig. Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass die EDV-Kenntnisse
ausweislich des Abschlusszeugnisses des Kläger mit "befriedigend" bewertet
worden sind. Das stellt die grundsätzliche Eignung des Klägers für die Stelle nicht
in Frage. Aufgrund der Unterschiedlichkeit von Bewertungen belegt die Note im
Abschlusszeugnis schon nicht, dass die EDV-Kenntnisse des Klägers nicht "gut" im
Sinne der Stellenausschreibung sind. Jedenfalls kann auf diese Bewertung nicht die
Annahme gestützt werden, der Kläger sei offensichtlich nicht geeignet. Selbst
wenn der Kläger nicht alle geforderten EDV-Kenntnisse besessen hätte, um sofort
den Arbeitsplatz ausfüllen zu können, kann das nicht die Annahme einer fehlenden
Eignung rechtfertigen. Die Beklagte hat nicht dargelegt, dass der Kläger nicht in
der Lage gewesen wäre, sich fehlende Kenntnisse und Erfahrungen in einer
zumutbaren Einarbeitungszeit anzueignen.
Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, der Kläger habe keine Erfahrungen im
Einwohnerwesen und in der Kommunalverwaltung aufweisen können. Sie hat das
Anforderungsprofil in der Stellenausschreibung dokumentiert. Nach der
Stellenausschreibung waren die Erfahrungen nicht vorausgesetzt, sondern nur
"von Vorteil". An dem Wortlaut der Stellenausschreibung muss sich die Beklagte
festhalten lassen. Sie hat insbesondere nicht substantiiert dargelegt, ein anderes
Anforderungsprofil vor Durchführung des Stellenbesetzungsverfahrens festgelegt
und dokumentiert zu haben. Ihre Behauptung, bereits vor dem Erscheinen der
Stellenanzeige habe für die Mitglieder des Kompetenzteams, welches die Vor- und
Endauswahl vorgenommen habe, festgestanden, dass Erfahrungen im
Einwohnerbereich ein wichtiges und zentrales Auswahlkriterium seien, ist schon
hinsichtlich des Vorliegen einer Entscheidung zur Änderung des Stellenprofils
unsubstantiiert. Sie enthält zudem keine Behauptung zur Dokumentation. Da die
48
49
50
51
52
53
54
55
unsubstantiiert. Sie enthält zudem keine Behauptung zur Dokumentation. Da die
Erfahrungen im Einwohnerwesen keine zwingende Einstellungsvoraussetzung war,
kommt es nicht mehr auf die Frage an, ob diese Anforderung für die auszuübende
Tätigkeit notwendig war.
Die Beklagte hat schließlich nicht behauptet, dass dem Kläger eine der anderen
Einstellungsvoraussetzungen fehlte.
(bb) Der Kläger kann sich zur Darlegung eines Verfahrensfehlers, der die
Vermutung einer Benachteiligung indiziert, dagegen nicht auf den Umstand
berufen, dass die Beklagte ihn nicht angehört und ihm im Ablehnungsschreiben
oder unverzüglich danach nicht die Gründe für die von ihm getroffen Entscheidung
mitgeteilt hat.
(aaa) Die Regelungen zur Anhörung und Unterrichtung in § 81 Abs. 1 Satz 8 und 9
SGB IX beziehen sich – was sowohl aus ihrem Wortlaut als auch aus dem Sinn und
Zweck der Regelung folgt – nur auf den Tatbestand des § 81 Abs. 1 Satz 7 SGB IX
und betreffen damit nur Fälle, in denen der Arbeitgeber seine
Beschäftigungspflicht nicht erfüllt und die Schwerbehindertenvertretung oder eine
in § 95 SGB IX genannte Vertretung mit der beabsichtigten Entscheidung des
Arbeitgebers nicht einverstanden ist. Denn nur dann kommt es nach dieser
Regelung zu einer Erörterung mit den Vertretungen unter Darlegung der Gründe,
bei der der betroffene schwerbehinderte Mensch angehört wird
).
Vorliegend bestand aufgrund des Umstands, dass die Beklagte bereits die
Beschäftigungsquote erfüllte, keine Veranlassung zur Durchführung des
Erörterungsverfahrens und damit auch nicht zu einer Anhörung und zur
Unterrichtung über Darlegung der Gründe der Entscheidung.
(bbb) Selbst wenn man davon ausginge, dass die Unterrichtungspflicht in jedem
Fall – also unabhängig von dem Verfahren nach § 81 Abs. 1 Satz 7 SGB IX –
bestände, lässt die fehlende Begründung der Ablehnung nicht auf eine
Benachteiligung wegen Behinderung schließen. Die Beklagte hat den Kläger zwar
nicht über die Gründe der Entscheidung unterrichtet. Es ist aber zu
berücksichtigen, dass das Verhalten der Beklagten insoweit mit der
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in Einklang steht. In der Entscheidung
vom 15. Februar 2005 (
) hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass die
Regelung des § 81 Abs. 1 Satz 9 SGB IX sich auf den Tatbestand des § 81 Abs. 1
Satz 7 SGB IX bezieht und damit nur Fälle betrifft, in denen der Arbeitgeber seine
Beschäftigungspflicht nicht erfüllt. Diese Rechtsprechung hat das
Bundesarbeitsgericht bisher nicht aufgegeben
.
(b) Aufgrund der Verletzung der Pflicht, den schwerbehinderten Bewerber zum
Vorstellungsgespräch einzuladen (§ 82 Satz 2 SGB IX), ist die Vermutung einer
Benachteiligung wegen der Behinderung begründet.
Die Verletzung dieser Pflicht ist grundsätzlich geeignet, die Vermutung einer
Benachteiligung zu begründen (
). Entgegen der Ansicht der Beklagten bedarf es nicht stets des
Vorliegens von mindestens zwei Indiztatsachen bzw. Verfahrensverstößen, um die
Vermutung einer Benachteiligung anzunehmen zu können. Die Beurteilung, ob von
einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit einer Benachteiligung auszugehen ist, ist
vielmehr eine Frage des Einzelfalls, die nicht schematisch vorzunehmen ist
. Etwas anderes folgt auch nicht der
Verwendung der Pluralform "Indizien" in § 22 AGG. Das BAG hatte zuvor in seiner
Rechtsprechung zu § 611 a BGB a. F. die Begriffe "Hilfstatsachen" und "Indizien"
verwendet und auch das Vorliegen eines Indizes für die Vermutung einer
Diskriminierung ausreichen lassen (
). Eine inhaltliche Änderung hat sich durch die Verwendung des
Begriffs Indizien in § 22 AGG nicht ergeben
. Es kommt vielmehr auf die Umstände des Einzelfalls an.
Der Verstoß gegen die Pflicht aus § 82 Satz 2 SGB IX begründet im vorliegenden
Fall die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Behinderung. Das gilt
insbesondere deshalb, weil diese Verfahrensvorschrift eine zentrale Rolle für die
56
57
58
59
60
61
62
insbesondere deshalb, weil diese Verfahrensvorschrift eine zentrale Rolle für die
Chancen des schwerbehinderten Bewerbers spielt. Der schwerbehinderte Bewerber
soll den Arbeitgeber im Vorstellungsgespräch von seiner Eignung überzeugen
können.
Der Überzeugung einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit für die Kausalität
zwischen Schwerbehinderteneigenschaft und Nachteil steht weder die Erfüllung der
Schwerbehindertenquote noch die Einhaltung der Verfahrensvorschrift nach § 81
Abs. 1 Satz 2 SGB IX entgegen. Da die Feststellung einer Behinderung vielfach im
Laufe eines Arbeitsverhältnisses erfolgt, besagt allein die Erfüllung der
Beschäftigungsquote nicht, dass die Beklagte eine Behinderung in einem
Bewerbungsverfahren nicht negativ berücksichtigt. Die Meldung einer freien Stelle
an die Agentur für Arbeit hat für die Berücksichtigung einer Schwerbehinderung bei
Bewerbungen keinen Aussagewert.
(c) Die Beklagte hat die Vermutung einer Benachteiligung des Klägers wegen
Behinderung nicht entkräftet.
(aa) Die Beklagte kann sich auf alle geeigneten objektiven Tatsachen berufen, um
eine Benachteiligungsvermutung zu widerlegen. Daran ist sie nicht dadurch
gehindert, dass sie ihre Ablehnung nicht begründet hat (
). Allerdings sind die Besonderheiten des
Bewerbungsverfahrens für ein öffentliches Amt im Sinne von Art. 33 Abs. 2 GG zu
beachten. Aus Art. 19 Abs. 4 GG folgt, dass der öffentliche Arbeitgeber das
Anforderungsprofil und auch die Auswahlentscheidung so schriftlich dokumentieren
muss, dass die Auswahlentscheidung nach den Kriterien des Art. 33 Abs. 2 GG
überprüft werden kann. Der öffentliche Arbeitgeber kann sich nur auf
dokumentierte Auswahlgründe stützen. Im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens
ist zwar die Ergänzung, nicht aber die Nachholung der Dokumentation zulässig (
.
(bb) Die Beklagte hat zwar behauptet, dass die Schwerbehinderung des Klägers
bei der Auswahlentscheidung keine Rolle gespielt habe und dass sie die
Entscheidung nach den Grundsätzen der Bestenauslese allein anhand der
Qualifikationsmerkmale, zu denen die Erfahrungen im Einwohnerwesen bzw. der
Kommunalverwaltung und der EDV-Kenntnisse gezählt hätte, getroffen habe.
Dieser Vortrag ist jedoch unerheblich, da die Beklagte sich damit nicht auf eine
dokumentierte Auswahlentscheidung stützt. Die Beklagte hat eine schriftliche
Dokumentation der Auswahlgründe nicht behauptet. Der Prozessbevollmächtigte
hat auf Frage in der mündlichen Verhandlung angegeben, nicht zu wissen, ob es
eine dokumentierte Auswahlentscheidung gebe.
bb) Entgegen der Ansicht der Beklagten ist die Klage nicht rechtsmissbräuchlich.
(a) Einer Entschädigungsklage kann der Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegen
gehalten werden, wenn die Bewerbung nicht subjektiv ernsthaft, sondern nur zum
Zweck des Erwerbs von Entschädigungsansprüchen erfolgt ist (
. Das Verbot des Rechtsmissbrauchs ist ein anerkannter
Grundsatz des Gemeinschaftsrechts (
). Ob ein Fall des Rechtsmissbrauchs vorliegt,
ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen.
(b) Vorliegend besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass der Kläger sich nicht subjektiv
ernsthaft beworben hat. Der Kläger ist – wie oben dargelegt – für die Stelle nicht
objektiv ungeeignet. In seiner auf die Stellenausschreibung zugeschnittenen
Bewerbung schildert der Kläger seine Situation und hebt seine für die
ausgeschriebene Position wesentlichen Qualifikationen hervor. Da der Kläger
aufgrund der Kündigung seines früheren Arbeitgebers mit dem Verlust seines
Arbeitsplatzes rechnen musste, spricht die Zahl von 120 Bewerbungen innerhalb
von zwei Jahren nicht gegen die Ernsthaftigkeit der Bewerbung. Der Kläger hat
nach Abschluss seiner Umschulung mit der Bewerbungstätigkeit begonnen. Zu
diesem Zeitpunkt musste er damit rechnen, dass er seinen bisherigen
Arbeitsplatz als Krankenpfleger wegen fehlender Einsetzbarkeit verlieren und nicht
so schnell einen neuen Arbeitsplatz finden würde. Die Erwägung, dass der
63
64
65
66
67
so schnell einen neuen Arbeitsplatz finden würde. Die Erwägung, dass der
Arbeitsplatzwechsel nach Abschluss der Umschulung möglichst rasch, ggfs. auch
auf eine Teilzeitstelle, erfolgen sollte, um die erlernten Fähigkeiten bald
einzusetzen, Berufserfahrungen zu sammeln und "den Fuß in die Tür zu
bekommen", ist nachvollziehbar. Dass der Kläger sich in einem Fall auf eine Stelle
beworben hat, für die er nach dem Vortrag der Parteien im Prozess nicht geeignet
war, spricht nicht gegen die Ernsthaftigkeit der Bewerbungen. Das Gleiche gilt für
die Bewerbung des Klägers auf eine Teilzeitstelle, die bis zu 50 km von seinem
Wohnort entfernt war. Bewerbungen in einem größeren Radius um den Wohnort
sind üblich und werden von der Agentur für Arbeit gefordert. Es spricht vielmehr für
die Ernsthaftigkeit der Bewerbungen, dass der Kläger seine Bewerbungen auf das
Rhein-Main-Gebiet beschränkt hat und seine Bewerbungstätigkeit eingestellt hat,
als er eine neue Stelle gefunden hat. Das wird auch nicht dadurch in Frage gestellt,
dass der Kläger bald nach Abschluss des Aufhebungsvertrags mit seinem früheren
Arbeitgeber eine neue Stelle gefunden hat. Gegen die Ernsthaftigkeit spricht
schließlich nicht die Zahl der vom Kläger erhobenen Entschädigungsklagen. Es
kann dem Kläger nicht verwehrt werden, Entschädigungsklagen zu erheben, wenn
zahlreiche potentielle Arbeitgeber ihre Pflichten nach dem SGB IX verletzen. Neben
dem Schadensausgleich verfolgt das Gesetz auch eine generalpräventive
Zielsetzung (
).
2. Eine Entschädigung von einem Bruttomonatsgehalt ist unter Berücksichtigung
der Umstände des Einzelfalls angemessen.
a) Nach § 15 Abs. 2 AGG muss die Entschädigung angemessen sein. Das
bestimmt sich nach Art und Schwere der Benachteiligung, der Dauer und ihren
Folgen, dem Anlass und dem Beweggrund des Handelns, dem Grad der
Verantwortlichkeit des Arbeitgebers, etwa geleistete Wiedergutmachung oder
erhaltene Genugtuung und dem Vorliegen eines Wiederholungsfalls
. Ferner ist der Sanktionszweck der
Norm zu berücksichtigen. Die Entschädigung muss geeignet sein, eine
abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber zu haben, und in jedem Fall
in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen
. Es ist zu berücksichtigen, ob der Kläger bei der
Zugrundelegung der Grundsätze der Bestenauslese nach Art. 33 Abs. 2 hätte
eingestellt werden müssen (
).
b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist eine Entschädigung von einem
Bruttomonatsgehalt angemessen. Dabei sind zunächst die Zahl und die Art der
Verstöße zu berücksichtigen. Die Beklagte hat gegen die Pflicht, den Kläger zu
einem Vorstellungsgespräch einzuladen, verstoßen. Dadurch hat sie dem Kläger
trotz seiner offensichtlichen Eignung die Gelegenheit genommen, seine
Fähigkeiten in einem Bewerbungsgespräch darzulegen. Es ist zu berücksichtigen,
dass der Kläger nicht eingestellt worden wäre, da eine besser qualifizierte
Bewerberin mit Erfahrungen im Einwohnerwesen eingestellt worden ist. Da es um
die Entschädigung den immateriellen Schaden ausgleichen soll, ist es für die
Bemessung des Entschädigungsanspruchs nicht von Bedeutung, dass der Kläger
inzwischen eine Stelle gefunden hat. Dagegen ist bei der Bemessung der
Entschädigung zugunsten der Beklagten zu berücksichtigen, dass sie die
Verfahrensvorschrift des § 81 Abs. 1 Satz 2 SGB IX eingehalten hat und die
Beschäftigungspflicht erfüllt. Schließlich ist zu beachten, dass keine Anhaltspunkte
dafür vorliegen, dass die Beklagte in der Vergangenheit schon gegen
Diskriminierungsverbote verletzt hat. Angesichts dessen erscheint eine
Entschädigung von einem Bruttomonatsgehalt als ausreichend, auch im Hinblick
auf die abschreckende Wirkung für die Zukunft.
C. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97, 92 ZPO.
Für die Zulassung der Revision besteht keine gesetzlich begründete Veranlassung
(§ 72 Abs. 2 ArbGG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.