Urteil des KG Berlin vom 13.03.2017

KG Berlin: abbiegen, auflage, verkehrsunfall, verschulden, glaubwürdigkeit, kollision, fahrzeugführer, betriebsgefahr, link, quelle

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Gericht:
KG Berlin 12.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 U 41/05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 5 Abs 3 Nr 1 StVO, § 9 Abs 1
StVO, § 7 StVG, § 17 StVG, § 18
StVG
Haftung bei Verkehrsunfall: Voraussetzungen einer unklaren
Verkehrslage beim Überholen eines Linksabbiegers;
Anscheinsbeweis für ein Alleinverschulden des Linksabbiegers
Leitsatz
Das Berufungsgericht ist nach § 398 ZPO nicht gehindert, den vom Erstgericht nach
Zeugenvernehmung festgestellten Sachverhalt rechtlich anders zu werten, ohne die Zeugen
erneut vernommen zu haben.
Kommt es in einem unmittelbarem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem
Linksabbiegen zu einer Kollision mit einem links überholenden Fahrzeug, spricht der Beweis
des ersten Anscheins für eine Sorgfaltspflichtverletzung des Linksabbiegers (ständige
Rechtsprechung, vgl. Senat VM 1998, 34 Nr. 43; DAR 2002, 557 = VRS 103, 403 = KGR 2003,
3 = NZV 2003, 89 = VersR 2003, 259 (Ls.) = MDR 2003,507; MDR 2005, 806 = VRS 108, 410
= KGR 2005, 665 = NZV 2005, 413;).
Eine "unklare Verkehrslage", die nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO das Überholen verbietet, liegt vor,
wenn an einem vorausfahrenden oder stehenden Fahrzeug der linke Fahrtrichtungsanzeiger
betätigt wird, dies der nachfolgende Verkehr erkennen konnte und dem nachfolgenden
überholenden Fahrzeugführer noch ein angemessenes Reagieren - ohne Gefahrenbremsung -
möglich war.
Dagegen liegt eine unklare Verkehrslage nicht schon dann vor, wenn das vorausfahrende
Fahrzeug verlangsamt, selbst wenn es sich bereits etwas zur Fahrbahnmitte eingeordnet
haben sollte (ständige Rechtsprechung, vgl. Senat NJW-RR 1987, 1251; NZV 1993, 272: DAR
2002, 557 = VRS 103, 403 = KGR 2003, 3 = NZV 2003, 89 = VersR 2003, 259 (Ls.) = MDR
2003,507).
Wegen der besonderen Sorgfaltspflichten des Linksabbiegers haftet dieser im Falle der
Kollision mit einem ordnungsgemäß überholenden Kfz grundsätzlich allein, wobei die
Betriebsgefahr des Kfz des Überholers zurücktritt (ständige Rechtsprechung, vgl. Senat NJW-
RR 1987,1251; DAR 2002, 557 = VRS 103, 403 = KGR 2003, 3 = NZV 2003, 89 = VersR 2003,
259 (Ls.) = MDR 2003,507).
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 10. Februar 2005 verkündete Urteil des
Amtsgerichts Mitte - 105 C 3271/01 - abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.
1. Schadensersatzansprüche aus §§ 7, 17, 18 StVG, § 3 Nr. 1 und 2
Pflichtversicherungsgesetz, § 823 BGB stehen der Klägerin gegen den Beklagten aus
dem Verkehrsunfall, der sich am 7. Oktober 2000 gegen 15.00 Uhr auf der in Berlin
gelegenen Kreuzung T./B.straße ereignet hat, nicht zu.
a) Zutreffend ist das Amtsgericht in dem angefochtenen Urteil davon ausgegangen,
dass gegen die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs, die Zeugin v.B., der Beweis des
ersten Anscheins dafür spricht, die beim Linksabbiegen nach § 9 Abs. 1 StVO zu
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ersten Anscheins dafür spricht, die beim Linksabbiegen nach § 9 Abs. 1 StVO zu
beachtenden Sorgfaltspflichten verletzt zu haben, da sich der Unfall unstreitig im
unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Linksabbiegevorgang
der Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs ereignet hat (vgl. Senat, DAR 2002, 557; Urteil
vom 6. Dezember 2004, 12 U 21/04, st. Rspr.). Dem Amtsgericht ist auch darin zu
folgen, dass die Klägerin nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht bewiesen hat,
dass sich die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs, wie dies in § 9 Abs. 1 StVO
vorgeschrieben ist, äußerst links eingeordnet hat (Urteil Seite 4). Das Berufungsgericht
folgt dem Amtsgericht auch darin, dass hinsichtlich der Frage, ob Frau v.B. als Fahrerin
des klägerischen Fahrzeugs vor dem Einbiegen den linken Blinker gesetzt hat, keine
Veranlassung besteht, den klägerischen Zeugen T., Gräfin v.B. und B. mehr Glauben zu
schenken als den von den Beklagten benannten Zeugen S. und K., die übereinstimmend
bekundet haben, die Zeugin v.B. habe das klägerische Fahrzeug plötzlich nach links
gelenkt, ohne vorher den Blinker gesetzt zu haben.
b) Nicht gefolgt werden kann dem Amtsgericht jedoch, wenn es bei diesem Ergebnis der
Beweisaufnahme zu einer Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zu Lasten der Klägerin
gelangt. Die rechtlichen Ausführungen des Amtsgerichts auf Seite 5 des angefochtenen
Urteils sind mehrdeutig. Einerseits führt das Amtsgericht aus, die Klägerin habe
bewiesen, dass der Beklagte zu 2) unter Verstoß gegen § 5 StVO in einer für ihn
unklaren Verkehrslage überholt habe. Andererseits meint das Amtsgericht im selben
Satz, dies (der Verstoß gegen § 5 StVO) könne nicht als feststehend angesehen werden,
was nahe legt, dass das Amtsgericht von einem ungeklärten Unfallhergang
ausgegangen ist.
c) Das Berufungsgericht kann in der Sache abschließend entscheiden, ohne die Zeugen
gemäß § 398 ZPO erneut vernommen zu haben. Zwar darf das Berufungsgericht die
Frage der Glaubwürdigkeit der vernommenen Zeugen nicht abweichend von der ersten
Instanz beurteilen, ohne die Zeugen erneut vernommen zu haben (BGH NJW 1986,
2885). Auch ist eine erneute Vernehmung dann erforderlich, wenn die erste Instanz von
der Würdigung der Aussagen von ihr vernommener Zeugen und der Erörterung der
Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen hat oder die Beweiswürdigung des
erstinstanzlichen Urteils völlig ungenügend ist (BGH NZM 2000, 143, 144). So liegt der
Fall hier indessen nicht. Das Amtsgericht hat rechtsfehlerfrei begründet, dass die
Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs sich vor dem beabsichtigten Abbiegevorgang nicht
möglichst weit links eingeordnet hat. Hinsichtlich der Frage, ob die Fahrerin des
klägerischen Fahrzeugs vor dem Abbiegevorgang den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt
hat, hat das Amtsgericht ebenso zutreffend ausgeführt, es bestünde keine
Veranlassung, „einer Aussage mehr Gewicht beizumessen als der anderen“. Es hat also
die Aussagen der Zeugen T., v.B. und B. einerseits und die Aussagen der Zeugen S. und
K. andererseits als in gleichem Maße glaubhaft und die Zeugen im gleichen Maße als
glaubwürdig beurteilt. Hierin folgt das Berufungsgericht dem Amtsgericht (§ 286 ZPO).
Das Berufungsgericht ist jedoch nicht daran gehindert, den von der ersten Instanz
festgestellten Sachverhalt rechtlich anders zu werten, ohne die Zeugen erneut
vernommen zu haben (MK Damrau, ZPO, 2. Auflage, § 398 Rdnr. 7).
d) aa) Soweit das Amtsgericht in dem angefochtenen Urteil ausführt, die Klägerin habe
bewiesen, dass der Beklagte zu 2) unter Verstoß gegen § 5 StVO in einer für ihn
unklaren Verkehrslage überholt habe, handelt es sich um eine rechtliche Wertung des
festgestellten Sachverhalts, die für das Berufungsgericht nicht bindend ist. Anders wäre
der Sachverhalt nur dann zu werten, wenn das Amtsgericht in dem angefochtenen Urteil
ausgeführt hätte, aufgrund welcher konkret festgestellten Umstände es von einem
Verstoß gegen § 5 StVO ausgeht, etwa weil es ein rechtzeitiges Betätigen des linken
Fahrtrichtungsanzeigers als erwiesen ansieht. Derartiges kann dem Urteil indessen nicht
entnommen werden. Das Amtsgericht hat nicht ausgeführt, aufgrund welcher konkreten
Feststellungen es von einer unklaren Verkehrslage ausgegangen ist.
bb) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats liegt eine unklare Verkehrslage, die
nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO ein Überholen verbietet, dann vor, wenn nach allen
Umständen mit ungefährdetem Überholen nicht gerechnet werden darf (Senat, DAR
2002, 557 f. m. w. N.). Sie ist auch dann gegeben, wenn sich nicht sicher beurteilen
lässt, was Vorausfahrende sogleich tun werden. Dies ist dann der Fall, wenn bei einem
vorausfahrenden oder stehenden Fahrzeug der linke Fahrtrichtungsanzeiger betätigt
wird und dies der nachfolgende Verkehrsteilnehmer erkennen konnte und dem
überholenden Fahrzeugführer noch ein angemessenes Reagieren - ohne
Gefahrenbremsung - möglich war (Senat a.a.O.). Einen solchen Sachverhalt hat das
Amtsgericht angesichts der sich widersprechenden Zeugenaussagen gerade nicht
festgestellt. Nur der Vollständigkeit halber weist das Gericht daher darauf hin, dass
erhebliche Zweifel daran bestehen, ob die Klägerin überhaupt ein rechtzeitiges Betätigen
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erhebliche Zweifel daran bestehen, ob die Klägerin überhaupt ein rechtzeitiges Betätigen
des linken Fahrtrichtungsanzeigers durch die Fahrerin ihres Fahrzeugs dargetan hat.
Rechtzeitig ist das Zeichen, wenn sich der Verkehr auf das Abbiegen einstellen kann.
Dafür ist weniger die Entfernung zum Abbiegepunkt maßgebend als vielmehr die Zeit
zwischen Anzeigebeginn und Abbiegen unter Berücksichtigung der Fahrtgeschwindigkeit
(Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Auflage § 9 StVO Rdnr. 20 m. w. N.). Bei einer
Ausgangsgeschwindigkeit von 30 km/h reichen nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofes 5 Sekunden vor dem Abbiegen aus (BGH VRS 25, 264). Hier hat
die insoweit darlegungs- und beweispflichtige Klägerin nicht konkret vorgetragen, wie
lange vor dem Abbiegevorgang die Zeugin v.B. den linken Fahrtrichtungsanzeiger
gesetzt hat.
cc) Allein der Umstand, dass die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs, wovon das
Amtsgericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ausgeht, ihre Geschwindigkeit
verringert und sich etwas zur Fahrbahnmitte eingeordnet hat, begründet noch keine
unklare Verkehrslage, bei der Überholen nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO unzulässig ist
(Senat, DAR 2002, 557, 558).
e) Spricht mithin gegen die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs der Beweis des ersten
Anscheins, die beim Linksabbiegen erforderliche Sorgfalt nicht beachtet zu haben,
während ein unfallursächliches Verschulden des Beklagten zu 2) nicht festgestellt
werden kann, so entspricht es der ständigen Rechtsprechung, dass die nicht erhöhte
Betriebsgefahr des Überholenden hinter dem Verschulden desjenigen, der
verkehrswidrig nach links abbiegt, vollständig zurücktritt (Senat, NJW-RR 1987, 1251; DAR
2002, 557; Urteil vom 6. Dezember 2004 - 12 U 21/04). Mithin hat die Klägerin ihren
gesamten Schaden selbst zu tragen.
2. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Sache weder grundsätzliche Bedeutung
hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern (§ 543 Abs. 2 ZPO).
3. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10,
713 ZPO in Verbindung mit § 26 Nr. 8 EGZPO.
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