Urteil des KG Berlin vom 13.03.2017

KG Berlin: schlüssiges verhalten, abbiegen, absicht, beschädigung, kollision, mitverschulden, sorgfaltspflicht, reifen, fachkunde, aufrechnung

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Gericht:
KG Berlin 12.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 U 21/04
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 286 ZPO, § 7 Abs 1 StVG, § 17
StVG
Haftungsverteilung bei Verkehrsunfall: Vom Erstgericht
abweichende Beweiswürdigung des Berufungsgerichts bei
Kollision eines entgegenkommenden Linksabbiegers an
ampelgeregelter Kreuzung mit einem Geradeausfahrer
Leitsatz
Kommt es in unmittelbarem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Linksabbiegen
zu einer Kollision mit einem links überholenden Fahrzeug, spricht der Beweis des ersten
Anscheins für eine Sorgfaltspflichtverletzung des Linksabbiegers).
Der Fahrtrichtungsanzeiger ist dann "rechtzeitig" i. S. d. § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO betätigt, wenn
sich der Verkehr auf das Abbiegen einstellen kann: maßgeblich dafür ist weniger die
Entfernung vom Abbiegepunkt als vielmehr die Zeit zwischen Anzeigebeginn und Abbiegen
unter Berücksichtigung der Fahrgeschwindigkeit.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers, die im Übrigen zurückgewiesen wird, wird
das am 16. Dezember 2003 verkündete Urteil der Zivilkammer 24 des Landgerichts
Berlin – 24 O 252/1 – teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 907,46 EUR nebst 4 %
Zinsen seit dem 1. Januar 2000 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige Berufung des Klägers ist teilweise begründet.
1. Dem Grunde nach ist der Beklagte dem Kläger gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 StVG in
Verbindung mit § 2 Pflichtversicherungsgesetz zum Ersatz aller Schäden verpflichtet,
die ihm aufgrund des Verkehrsunfalls vom 30. September 2000 auf der in Berlin
gelegenen Rominter Allee in Höhe Morellenweg entstanden sind.
a) Die Aktivlegitimation des Klägers folgt aus § 1006 BGB. Da der Kläger zum
Unfallzeitpunkt unstreitig Fahrer des bei dem Unfall beschädigten Kleinkraftrades
Kymco mit dem Kennzeichen ... war, und es mithin in seinem Besitz hatte,
spricht die Vermutung dafür, dass er Eigentümer war (§ 1006 Abs. 1 Satz 1
BGB). Diese Vermutung hat der Beklagte nicht widerlegt.
b)
aa)
Da sich der Unfall unstreitig im örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit
dem Versuch der Fahrerin des Beklagtenfahrzeugs, der Zeugin O-G
ereignet hat, aus der Rominter Allee nach links in den Morellenweg
einzubiegen, spricht gegen sie der Anschein, den Unfall dadurch
verschuldet zu haben, dass sie die besonderen Sorgfaltspflicht nach § 9
Abs. 1 StVO nicht beachtet hat. Danach hatte sie nicht nur rechtzeitig den
linken Fahrtrichtungsanzeiger zu setzen (§ 9 Abs. 1 Satz 1 StVO), sondern
sie musste sich rechtzeitig möglichst weit nach links zur Straßenmitte
einordnen (§ 9 Abs. 1 Satz 2 StVO) und vor dem Einordnen einmal und vor
dem Abbiegen noch einmal auf nachfolgenden Verkehr achten (§ 9 Abs. 1
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dem Abbiegen noch einmal auf nachfolgenden Verkehr achten (§ 9 Abs. 1
Satz 4 StVO). Im Rahmen des § 9 Abs. 1 StVO spricht der Beweis des
ersten Anscheins gegen den nach links abbiegenden Kraftfahrer. Kommt es
zwischen ihm und einem überholenden Fahrzeug zum Unfall, spricht der
Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der nach links abbiegende
Kraftfahrer die ihm nach § 9 Abs. 1 StVO obliegende Sorgfaltspflicht verletzt
hat (Senat, VM 1993, 159; Urteil vom 13. Januar 1997 – 12 U 7147/95 –).
Der Beklagte trägt selbst nicht vor, die Zeugin O-G habe ihre Absicht, nach
links abzubiegen, rechtzeitig angekündigt. Rechtzeitig ist das Zeichen,
wenn sich der Verkehr auf das Abbiegen einstellen kann. Dafür ist weniger
die Entfernung zum Abbiegepunkt maßgebend, als vielmehr die Zeit
zwischen Anzeigebeginn und Abbiegen unter Berücksichtigung der
Fahrtgeschwindigkeit (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Auflage, § 9
StVO Rdnr. 20 m. w. N.). Bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 30 km/h
reichen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 5 sec. vor dem
Abbiegen aus (BGH VRS 25, 264). Hier hat der insoweit darlegungs- und
beweispflichtige Beklagte nicht konkret vorgetragen, wie lange vor dem
Abbiegevorgang die Zeugin O-G den linken Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt
hat. Die Fahrerin des Beklagtenfahrzeugs hat bei ihrer Vernehmung durch
das Landgericht bekundet, sie habe "den linken Fahrtrichtungsanzeiger erst
kurz, sehr kurz vor dem Unfall eingeschaltet". Darüber hinaus muss davon
ausgegangen werden, dass die Zeugin O-G ihrer Verpflichtung zur zweiten
Rückschau nicht nachgekommen ist. Anderenfalls hätte sie das sich von
hinten nähernde Kleinkraftrad des Klägers wahrnehmen müssen. Gerade
wenn der Kläger, wie der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung
vom 6. Dezember 2004 geltend gemacht hat, vor Erreichen der Unfallstelle
an mehreren hintereinander fahrenden Polizeifahrzeugen vorbeifahren
musste, bevor er die Unfallstelle erreichte, muss er für die Zeugin O-G
entsprechend längere Zeit sichtbar gewesen sein.
bb) Demgegenüber lässt sich ein Mitverschulden des Klägers an dem Unfall
nicht feststellen. Insbesondere lässt sich ein Mitverschulden des Klägers
nicht damit begründen, dieser habe entgegen § 5 StVO trotz Bestehens
einer unklaren Verkehrslage überholt. Wie bereits ausgeführt, hat der
insoweit darlegungs- und beweispflichtige Beklagte weder konkret
vorgetragen, noch unter Beweis gestellt, dass die Zeugin O-G ihre Absicht,
nach links abzubiegen, so rechtzeitig angekündigt hätte, dass der Kläger
sich hierauf hätte einrichten können. Die vom Landgericht in seinem
Hinweis vom 21. Dezember 2001 zitierte Rechtsprechung, wonach den
Überholer, der in einem Zug an einer Fahrzeugkolonne vorbeifährt, die
überwiegende Mithaftung trifft, passt auf den vorliegenden Sachverhalt
schon deshalb nicht, weil hier, anders als in der vom Landgericht zitierten
Entscheidung, nicht festgestellt werden kann, dass die Zeugin O-G sich
rechtzeitig zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet und den linken
Fahrtrichtungsanzeiger betätigt hatte. Zudem kann hier nicht festgestellt
werden, dass der Kläger, als er an den Polizeifahrzeugen links vorbeifuhr, zu
diesem Zweck die Gegenfahrbahn benutzt hätte. Derartiges wird schon
vom Beklagten nicht substantiiert behauptet. Die Zeugin B, die sich als
einzige zu dieser Frage geäußert hat, hat bekundet, sie wisse nicht, ob der
Kläger "noch auf unserer Fahrbahn oder bereits auf der Gegenfahrbahn"
gefahren sei. Unter diesen Umständen hat die nicht erhöhte Betriebsgefahr
des klägerischen Kleinkraftrades hinter dem festgestellten Verschulden der
Fahrerin des Polizeifahrzeuges O-G zurückzutreten. Dies führt im Ergebnis
zur vollen Haftung des Beklagten.
c) Der dem Kläger vom Beklagten zu ersetzende Schaden beträgt nach dem
Ergebnis der vor dem Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme auf der
Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen H vom 1. Dezember 2003
907,46 EUR brutto.
aa) Soweit das Landgericht in dem angefochtenen Urteil ausgeführt hat, das
Kraftrad des Klägers habe Schäden am Reifen, der Felge sowie der
Gabelbrücke ausgewiesen, welche durch den streitgegenständlichen Unfall
nicht erklärt werden könnten; da der Kläger keine näheren Angaben dazu
gemacht habe, wie es zu diesen Schäden gekommen sei, sei die Klage
insgesamt unschlüssig, kann dem nicht gefolgt werden. Den vom
Landgericht zitierten Entscheidungen des OLG Köln (VersR 1999, 865) und
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Landgericht zitierten Entscheidungen des OLG Köln (VersR 1999, 865) und
des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg (r + s 2001, 455 f.) lag
ein anderer Sachverhalt zugrunde, als er hier zu beurteilen ist. In den
dortigen Fällen – in denen die Beklagtenseite jeweils geltend gemacht
hätte, es läge ein sogenannter manipulierter Unfall vor – stand fest, dass
das beschädigte Fahrzeug Schäden aufwies, die nicht auf das
streitgegenständliche Schadensereignis zurückgeführt werden konnten.
Einen derartigen Sachverhalt hat das Landgericht gerade nicht festgestellt.
Vielmehr hat der Sachverständigen H – an dessen Fachkunde auch das
Landgericht keinen Zweifel hatte – auf Seite 7 seines Gutachtens vom 4. Juli
2002 wörtlich ausgeführt:
"Da aufgrund des Schadensbildes davon auszugehen ist, dass der Anstoß
mit dem Vorderrad des Fahrzeugs erfolgte, ist eine visuelle nicht erkennbare
Beschädigung der Gabelbrücke, beider Gabelholme und des Vorderrades nicht
auszuschließen. Diese Teile sind daher aus Sicherheitsgründen zu erneuern."
Auf Seite 13 seines Gutachtens vom 1. Oktober 2003 hat er demgegenüber
ausgeführt:
"Da ein Anstoß des Vorderrades des Kleinkraftrades gegen den VW Caddy
ausweislich der Schäden an diesem nicht stattgefunden hat ... ist eine Beschädigung
des Vorderrades, der Gabelbrücke und beider Gabelholme infolge des Unfallgeschehens
vom 30.09.2000 nicht nachzuvollziehen."
Es sind also gerade keine unfallunabhängigen Schäden am Kleinkraftrad des
Klägers festgestellt worden, die den Schluss zulassen könnten, es habe ein weiteres
Schadensereignis stattgefunden, bei dem auch die vom Sachverständigen H in seinem
Gutachten als durch den Unfall erklärbaren Schäden am Kleinkraftrad des Klägers
verursacht worden sein könnten. Auch im Übrigen sind keine Anhaltspunkte vorgetragen
worden oder sonst ersichtlich, die den Schluss auf ein weiteres Schadensereignis
zulassen würden.
bb) Die durch den Unfall erklärbaren Schäden betragen nach den Ausführungen
des Sachverständigen H, denen das Gericht folgt, 907,46 EUR. Auch die in
diesem Betrag enthaltenen Schäden an der linken Fahrzeugseite des
Kleinkraftrades sind vom Beklagten zu ersetzen. Der Sachverständige H
hat hierzu auf Seite 8 seines Gutachtens überzeugend und nachvollziehbar
ausgeführt, infolge eines Sturzes bzw. eines Umkippens des klägerischen
Kleinkraftrades auf die linke Seite ließen sich die Beschädigungen der
Tourenscheibe, des linken Außenspiegels, des linken Lenkerendes, des
linken Bremshebels sowie des linken Seitenständers erklären. Die Angabe
des Klägers, wonach der linke Außenspiegel abgebrochen gewesen sei, sei
ebenfalls nachzuvollziehen. Zwar trifft es zu, dass der Kläger in erster
Instanz schriftsätzlich nicht vorgetragen und unter Beweis gestellt hatte,
dass das Kleinkraftrad nach dem Zusammenstoß mit dem Polizeifahrzeug
des Beklagten auf die linke Seite gekippt war. Ob ein solcher Vortrag zur
Substantiierung des geltend gemachten Schadens erforderlich gewesen
wäre, kann indessen dahinstehen. Denn der Kläger hat sich den Inhalt des
Gutachtens, soweit es ihm günstig ist, jedenfalls durch schlüssiges
Verhalten zu eigen gemacht. Unter Berücksichtigung der
Beweiserleichterungen des § 287 ZPO sieht das Gericht auf der Grundlage
des vom Landgericht eingeholten Gutachtens des Sachverständigen H vom
1. Oktober 2003 den dort als durch den Unfall erklärbar ausgewiesenen
Schaden von 907,46 EUR als bewiesen an.
Weitergehende Schadensersatzansprüche stehen dem Kläger
demgegenüber nicht zu, weil er auch unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung
des § 287 ZPO nicht hat nachweisen können, dass es zu einer Berührung zwischen dem
Vorderrad seines Kleinkraftrades und dem Polizeifahrzeug des Beklagten gekommen ist,
die nach dem Gutachtens des Sachverständigen H vom 4. Juli 2002 einen Austausch der
Gabelbrücke, beider Gabelholme und des Vorderrades rechtfertigen würde, obwohl diese
Teile keine sichtbaren Schäden aufwiesen.
d) Die vom Beklagten hilfsweise erklärte Aufrechnung mit Gegenansprüchen greift
nicht durch. Wie unter 1. b) ausgeführt, trifft den Beklagten selbst die volle
Haftung für alle bei dem streitgegenständlichen Unfall entstandenen Schäden.
Mithin hat er auch die Schäden an seinem Einsatzfahrzeug selbst zu tragen.
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2. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Sache weder grundsätzliche Bedeutung
hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern (§ 543 Abs. 2
ZPO).
3. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 1,
708 Nr. 10, 713 ZPO in Verbindung mit § 26 Nr. 8 EGZPO.
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