Urteil des FG Düsseldorf vom 06.01.2003

FG Düsseldorf: einkünfte, beschränkung, verpachtung, vollziehung, vermietung, leistungsfähigkeit, aussetzung, kirchensteuer, bekanntgabe, periode

Finanzgericht Düsseldorf, 11 V 6077/02 A (E)
Datum:
06.01.2003
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
11. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
11 V 6077/02 A (E)
Tenor:
Der Einkommensteuerbescheid für 1999 vom 12.08.2002 wird bis einen
Monat nach Bekanntgabe einer Entscheidung im Einspruchsverfahren i.
H. v. 28.198,26 EUR Einkommensteuer, i. H. v. 2.537,84 EUR
Kirchensteuer, i. H. v. 1.550,91 EUR Solidaritätszuschlag und i. H. v.
1.551 EUR Zinsen zur Einkommensteuer und der
Einkommensteuerbescheid für 2000 vom 06.08.2002 wird bis einen
Monat nach Bekanntgabe einer Entscheidung im Einspruchsverfahren i.
H. v. 21.291,73 EUR Einkommensteuer, i. H. v. 2.000,57 EUR
Kirchensteuer und i. H. v. 1.219,67 EUR Solidaritätszuschlag
ausgesetzt.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner.
Die Beschwerde wird zugelassen.
1999
2000
Einkünfte aus Gewerbebetrieb
-6.048 DM
5.063 DM
Einkünfte aus selbstständiger Arbeit
602.691 DM
592.281 DM
Einkünfte aus Kapitalvermögen
2.932 DM
Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung
- aus bebauten Grundstücken
-37.796 DM
-27.427 DM
- aus Beteiligungen
-400.762 DM
-770.998 DM
G r ü n d e:
1
I.
2
Der Antragsteller erzielte in den Jahre 1999 und 2000 neben positiven Einkünften aus
selbstständiger Arbeit Werbungskostenüberschüsse aus Vermietung und Verpachtung
und im Jahre 2000 zusätzlich einen Verlust aus Gewerbebetrieb. Die
Werbungskostenüberschüsse des Antragstellers aus Vermietung und Verpachtung sind
überwiegend aus Beteiligungen des Antragstellers entstanden. In dem zuletzt für 1999
3
ergangenen Einkommensteuerbescheid vom 12.08.2002 und in dem zuletzt
ergangenen Einkommensteuerbescheid für 2000 vom 06.08.2002 ging der
Antragsgegner bei der Berechnung des zu versteuernden Einkommens u. a. von
folgenden Besteuerungsgrundlagen aus:
Der Antragsgegner berücksichtigte in dem Einkommensteuerbescheid für 1999 vom
12.08.2002 gemäß der ab 1999 geltenden Vorschrift des § 2 Abs. 3 Sätze 2 ff.
Einkommensteuergesetz (EStG) negative Einkünften von insgesamt 444.606 DM und
einen ausgleichsfähigen Betrag von 351.346 DM. Aus der Differenz der positiven
Einkünfte von insgesamt 602.691 DM und dem ausgleichsfähigen Betrag der negativen
Einkünfte errechnete der Antragsgegner einen Gesamtbetrag der Einkünfte von 251.345
DM sowie - nach Abzug der Sonderausgaben - ein zu versteuernden Einkommen von
241.271 DM. Er setzte die Einkommensteuer für 1999 auf 104.959 DM (53.664,68 () fest.
4
Mit Bescheid vom 12.08.2002 stellte der Antragsgegner gemäß § 10d Abs. 4 EStG den
verbleibenden Verlustvortrag zur Einkommensteuer zum 31.12.1999 auf 1.269 DM aus
Einkünften aus Gewerbebetrieb und auf 91.991 DM aus Einkünften aus Vermietung und
Verpachtung fest (insgesamt 93.260 DM).
5
In dem Einkommensteuerbescheid 2000 vom 06.08.2002 berücksichtigte der
Antragsgegner nach § 2 Abs. 3 Sätze 2 ff. EStG bei negativen Einkünften von insgesamt
798.425 DM einen ausgleichsfähigen Betrag von 350.138 DM. Aus der Differenz der
positiven Einkünfte i. H. v. insgesamt 600.276 DM und dem ausgleichsfähigen Betrag
der negativen Einkünfte errechnete der Antragsgegner einen Gesamtbetrag der
Einkünfte i. H. v. 250.138 DM sowie - nach Abzug der Sonderausgaben - ein zu
versteuerndes Einkommen i. H. v. 225.774 DM. Die Einkommensteuer für 2000 wurde
auf 94.569 DM (48.352,36 () festgesetzt.
6
Gegen die Einkommensteuerbescheide für 1999 und 2000 legte der Antragsteller
fristgerecht Einsprüche ein, über die noch nicht entschieden wurde.
7
Den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1999 und
2000 lehnte der Antragsgegner mit Schreiben vom 30.10.2002 ab.
8
Am 08.11.2002 beantragte der Antragsteller die Aussetzung der Vollziehung der
Einkommensteuerbescheide 1999 und 2000 beim Finanzgericht.
9
Zur Begründung trägt der Antragsteller vor, dass die von ihm in 1999 und 2000 geltend
gemachten Verluste in vollem Umfang ohne Berücksichtigung des § 2 Abs. 3 EStG
anerkannt werden müssten. In mehreren finanzgerichtlichen Verfahren seien
verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Anwendung des § 2 Abs. 3 EStG geäußert
worden (siehe z. B. Beschluss des Finanzgerichts Münster vom 15.11.2000 4 V 1612/00
E; Beschluss des Finanzgerichts Düsseldorf vom 04.03.2002 3 V 5245/01). Die
Regelung verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz
(GG). Eine Entscheidung durch den Bundesfinanzhof stehe noch aus.
10
Von der Anordnung einer Sicherheitsleistung sei abzusehen, da auf Grund der
Vermögensverhältnisse des Antragstellers eine Gefährdung des Steueranspruches
nicht bestehe.
11
Der Hilfsantrag auf Zulassung der Beschwerde werde auf § 115 Finanzgerichtsordnung
12
(FGO) gestützt. Die im vorliegenden Fall aufgeworfene Rechtsfrage sei von
grundsätzlicher Bedeutung, da sie in einer Vielzahl von Fällen streitig sei.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
13
den Einkommensteuerbescheid für 1999 vom 12.08.2002 i. H. v. 28.198,26 (
Einkommensteuer, i.H.v. 2.537,84 ( Kirchensteuer, i.H.v. 1.550,91 (
Solidaritätszuschlag und i.H.v. 1.551 ( Zinsen zur Einkommensteuer (insgesamt
33.838,01 () bis einen Monat nach Bekanntgabe einer Entscheidung im
Einspruchsverfahren und den Einkommensteuerbescheid für 2000 vom 06.08.2002
i. H. v. 21.291,73 ( Einkommensteuer, i. H. v. 2.000,57 ( Kirchensteuer und i. H. v.
1.219,67 ( Solidaritätszuschlag (insgesamt 24.511,97 () bis einen Monat nach
Bekanntgabe einer Entscheidung im Einspruchsverfahren ohne
Sicherheitsleistungen auszusetzen,
14
hilfsweise, die Beschwerde zum Bundesfinanzhof zuzulassen.
15
Der Antragsgegner beantragt,
16
den Antrag abzulehnen.
17
Nach Auffassung des Antragsgegners bestehen keine Zweifel an der
Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 3 EStG und damit an der Rechtmäßigkeit der
angefochtenen Bescheide. Mit Beschluss vom 09.05.2001 (XI B 151/00,
Bundessteuerblatt I 2001, 552) habe der XI. Senat des BFH im Rahmen des
Beschwerdeverfahrens zur Frage der Aussetzung der Vollziehung befunden, dass bei
der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung an der
Verfassungsmäßigkeit der Mindestbesteuerung jedenfalls insoweit keine ernstlichen
Zweifel bestünden, als es sich bei den negativen Einkünften um solche aus Vermietung
und Verpachtung handele, "die auch durch nach dem FördG begünstigte Investitionen
entstanden sind". Zwar habe der Bundesfinanzhof in diesem Beschluss ausdrücklich
darauf hingewiesen, dass er vorliegend nicht zu entscheiden habe, ob der Gesetzgeber
verpflichtet sei, zwischen "echten" Verlusten, die sich aus unternehmerischen
Tätigkeiten ergeben würden, und "unechten" Verlusten, die insbesondere aus der
Inanspruchnahme von Sonderabschreibungen entstünden, zu unterscheiden und
"echte" Verluste aus dem Anwendungsbereich der Mindestbesteuerung
herauszunehmen seien. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe in dem Beschluss aber ohne
Beschränkung auf reine Buchverluste die folgenden Feststellungen getroffen:
18
Die Beschränkung des vertikalen Verlustausgleichs verhindere nicht den Abzug
erwerbsichernden Aufwandes und verstoße nicht gegen das allgemeine
Leistungsfähigkeitsprinzip,
der Gesetzgeber sei jedenfalls nicht zu einer Regelung verpflichtet, nach der
Verluste sofort vollständig ausgeglichen werden könnten und
in der Erzielung positiver Einkünfte komme eine bestimmte Leistungsfähigkeit zum
Ausdruck, die auch durch entsprechende negative Einkünfte nicht in vollem
Umfang geschmälert werde.
19
Die vorzitierten Äußerungen des Senats und die Überschrift der vom BFH zum
Beschluss herausgegebenen Pressemitteilung "Keine ernstlichen Zweifel an der
Verfassungsmäßigkeit der Mindestbesteuerung" deuteten darauf hin, dass der BFH,
wenn er über die Verrechnung von "echten" Verluste entscheiden müsse, die
Verfassungsmäßigkeit der Mindestbesteuerung feststellen werde. Das
Bundesverfassungsgericht habe sich zum Normgeflecht des Kindergeld- und
Steuerrechts außerdem bereits mit dem vertikalen Verlustausgleichs befasst und diesen
mit dem Grundgesetz für vereinbar erklärt.
20
Die Mindestbesteuerung des § 2 Abs. 3 EStG verhindere, alle positiven und negativen
Einkünfte einer Periode miteinander zu verrechnen. Darin liege aber keine
Ungleichbehandlung zwischen den Einkunftsarten i. S. d. Art. 3 Abs. 1 GG. Denn es
seien die Verluste aller Einkunftsarten betroffen: Verluste könnten mit Gewinnen aus der
gleichen Einkunftsart unbegrenzt ausgeglichen und mit Gewinnen aus anderen
Einkunftsarten begrenzt ausgeglichen werden. Das Gesetz knüpfe an äußerlich
unterschiedliche Sachverhalte an: Negative Einkünfte würden anders behandelt als
positive; horizontale Konstellationen würden von vertikalen unterschieden. Dabei werde
weder zwischen verschiedenen Personengruppen differenziert, noch wirke sich die
Unterscheidung nur auf bestimmte Personengruppen aus. Es läge somit kein Eingriff in
einen spezifischen Schutzbereich eines Grundrechts vor. Das Gesetz verstoße auch
nicht gegen das Willkürverbot des Art. 3 GG. Denn für die vorgenommene
Differenzierung läge ein ausreichender sachlicher Grund vor. In Zeiten notwendiger
Haushaltssanierung sei schon der Versuch, aktuelle Steuerausfälle zu begrenzen, ein
legitimes Anliegen. Zur Gewährleistung einer leistungsgerechten Besteuerung müsse
dabei auf fiktive Verluste, die durch Steuervergünstigungen oder die Ausnutzung offener
Schlupflöcher entstanden seien, nicht zwingend Rücksicht genommen werden, weil die
Leistungsfähigkeit durch sie nicht real gemindert werde. Der Gesetzgeber wolle weder
zuvor eingeräumte steuerliche Subventionen, streichen noch Steuern, die durch die
Ausnutzung von Steuerschlupflöchern nicht eingenommen worden seien, erlangen.
21
Die Beschränkung des vertikalen Verlustausgleichs sei außerdem geeignet und
angemessen. Denn durch die Beschränkung könne der gewünschte Erfolg
herbeigeführt werden. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass hohe Einkünfte in
einer Einkunftsart die tatsächlich vorhandene Leistungsfähigkeit signalisierten. In der
Regel wären hinzutretende Verluste fiktiv oder zumindestens gewollt. In diesen Fällen
wäre eine Einbeziehung in das Konzept der Mindestbesteuerung sachlich gerechtfertigt.
22
Die Beschränkung des vertikalen Verlustausgleichs und Abzugs sei allerdings im
Hinblick auf den angestrebten Zweck nicht zuverlässig trennscharf. Es bestehe
durchaus die Gefahr, dass Personen von der Mindestbesteuerung getroffen würden, die
echte Verluste erlitten hätten. Trennschärfer wäre die Unterscheidung zwischen fiktiven
("unechten") Verlusten und "echten" Verlusten. Diese Trennung wäre aber im Hinblick
auf den gesetzlichen Regelungsaufwand und die administrative Umsetzung nicht zu
bewältigen. Zur Verwirklichung seiner verfassungsrechtlichen legitimen Ziele habe dem
Gesetzgeber deshalb aus praktischen Gründen kein gezielter Zugriff offen gestanden.
23
Zudem führe die Mindestbesteuerung lediglich zu einer zeitlichen Verlagerung der
Verluste und nicht zu einer Aberkennung. In der Regel ergebe sich bei Anwendung der
Mindestbesteuerung sogar eine niedrigere Gesamtsteuer. Diese relativ moderate
Rechtsfolge könne als Nebenwirkung eines indirekten Ansatzes sogar dann
hingenommen werden, wenn der Steuerpflichtige vorübergehend ungewollte echte
24
Verluste erleide. Denn im Normalfall werde er die sprudelnde Quelle ausbauen und die
verlustbringende umstrukturieren oder abstoßen. In einer periodenübergreifenden
Betrachtung erweise sich auch dieser Steuerpflichtige als hinreichend leistungsfähig
und könne in einer verlustreichen Periode Steuern entrichten. Die Belastung werde
schließlich im Regelfall durch eine sinkende Gesamtbelastung gemildert.
Etwas anderes könne allerdings gelten, wenn der Steuerpflichtige dauerhaft "echte"
Verluste erleide und nur vorübergehend positive Einkünfte erziele. Die Steuer müsse
dann aus Mitteln bezahlt werden, die der Steuerpflichtige über die Periode hinaus nicht
erwirtschaftet habe. Selbst wenn dies als Verfassungsverstoß zu werten sei, könne dies
nicht zur Aufhebung des Gesetzes führen. Denn in diesen Fällen könne die Steuer
wegen sachlicher Unbilligkeit unter Würdigung der Verhältnisse des Einzelfalles gemäß
§ 227 Abgabenordnung (AO) ganz oder zum Teil erlassen oder von vorneherein gemäß
§ 163 AO abweichend festgesetzt werden.
25
II.
26
Der Antrag ist begründet.
27
Gemäß § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) soll die Aussetzung der
Vollziehung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit
des angefochtenen Verwaltungsaktes sind zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung
neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige gegen die
Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder
Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der
Tatfragen auslösen. Hierzu zählen auch Zweifel, die die mögliche
Verfassungsmäßigkeit einer angewandten Rechtsnorm betreffen. In diesen Fällen ist es
aber nach inzwischen einhelliger Rechtsprechung zusätzlich erforderlich, dass die
Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch schwerwiegende öffentliche
Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (Rechtsgedanke aus § 69 Abs. 2 Satz 2, 2.
Alternative FGO -- allgemeine Meinung, vgl. Tipke-Kruse,
Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rd.Nr. 96 m. w. N.).
28
Im Streitfall bestehen ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 3
Sätze 3 ff. EStG sowie an dem mit dieser Vorschrift korrespondierenden § 10d Abs. 1
Sätze 2 bis 4 EStG und damit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der von dem
Antragsteller angefochtenen Einkommensteuerbescheide 1999 und 2000. Denn die im
§ 2 Abs. 3 Satz 3 ff. EStG festgelegte Mindestbesteuerung verstößt bei summarischer
Prüfung gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip (im Ergebnis ebenso: Kirchhof/Geserich,
in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz Kommentar, § 2 Rd.Nr. D 261, 262; Seeger
in Schmidt, Einkommensteuergesetz Kommentar, 21. Auflage, § 2 Rd.Nr. 77 f.; Holdorf,
Frage der Verfassungsgemäßheit der Verlustabzugsbeschränkung nach § 2 Abs. 3
EStG, BB 2001, 2085, 2089; Kohlhaas, BB-Kommentar, BB 2001, 1665, 1668;
Raupach/Böckstiegel, Die Verlustregelungen des StEntlG 1999/2000/2002, FR 1999,
617, 621; Herzig, Systematische und grundsätzliche Anmerkungen zur Einschränkung
der steuerlichen Verlustnutzung, DStR 1999, 1377, 1382; vgl. ferner: FG Berlin -
Beschluss vom 04.03.2002 6 B 6333/01, EFG 2002, 597; Hessisches FG Beschluss
vom 04.12.2001 11V 3177/01, EFG 2002, 1476; FG Münster - Beschluss vom
07.09.2000 4 V 1612/00 E, 4 V 1617/00 E, EFG 2000, 1253 m.w.N.).
29
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fordert der im
Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz der
Steuergerechtigkeit, dass die Steuerlasten auf die Steuerpflichtigen im Verhältnis ihrer
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verteilt werden (Leistungsfähigkeitsprinzip) (vgl.
BVerfG-Beschluss vom 22. Februar 1984 1 BvL 10/80, BVerfGE 66, 214, BStBl II 1984,
357, 359). Dem geltenden Steuerrecht wird zur Umsetzung dieses Grundsatzes das
erwerbssichernde Nettoprinzip zu Grunde gelegt, wonach Aufwendungen, die für den
Erwerb getätigt werden, die Bemessungsgrundlage für die Steuerfestsetzung mindern.
Der Umfang der Besteuerung bestimmt sich gem. § 2 Abs. 2 EStG grundsätzlich nach
dem Gewinn oder dem Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten. Dieser
so genannte horizontale Verlustausgleich wird gem. § 2 Abs. 3 Satz 1 EStG durch den
vertikalen Verlustausgleich ergänzt und damit das Nettoprinzip im Gesamtergebnis aus
allen Einkunftsquellen realisiert.
30
Durch den § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8 EStG, in der ab 1999 geltenden Fassung, können
Verluste einer oder mehrerer Einkunftsarten nur noch bis 100.000 DM mit positiven
Einkünften anderer Einkunftsarten uneingeschränkt ausgeglichen werden. Darüber
hinausgehende negative Einkünfte sind lediglich bis zur Hälfte der verbliebenen
positiven Einkünfte ausgleichbar. Verbliebene nicht ausgleichbare negative Einkünfte
können nur im Wege des Verlustvor- bzw. -rücktrags nach Maßgabe des § 10d Abs. 1
Satz 2, 3 EStG innerhalb derselben Einkunftsart und innerhalb der Betragsgrenzen des
§ 2 Abs. 3 Satz 3 ff. EStG ausgeglichen werden.
31
Im vorliegenden Fall wird nach summarischer Prüfung durch die Anwendung des § 2
Abs. 3 Satz 3 ff. EStG der Ausgleich von tatsächlich entstandenen Verlusten ("echten"
Verlusten) mit positiven Einkünften beschränkt und der Antragsteller verpflichtet,
Steuern zu zahlen, obwohl sein disponibles Einkommen in 1999 und 2000 bei
Berücksichtigung der hohen Verluste aus Vermietung und Verpachtung unter dem
sozialhilferechtlichen Existenzminimum liegt und die Einkommensteuer mit 0 DM
festzusetzen wäre. Nach summarischer Prüfung ist davon auszugehen, dass die
Verluste des Antragstellers aus Vermietung und Verpachtung und (im geringen Umfang)
aus Gewerbebetrieb "echte" Verluste darstellen. Denn der Antragsgegner hat nicht
vorgetragen, dass die geltend gemachten Verluste nicht tatsächlich entstanden sind und
nicht zu einem Mittelabfluss bei dem Antragsteller geführt haben. Anhaltspunkte dafür
ergeben sich auch nicht aus den beigezogenen Steuerakten. Die Prüfung, ob und in
welchem Umfang eventuell "unechte" Verluste vorliegen, bleibt dem
Hauptsacheverfahren überlassen.
32
Die Verluste haben somit als "echte" Verluste die Leistungsfähigkeit des Antragstellers
gemindert. Eine Verrechnung dieser Verluste mit den positiven Einkünften des
Antragstellers (entgegen den Regelungen in den §§ 2 Abs. 3 Sätze 2 ff. und 10d Abs. 1
Satz 2, 3 EStG) führt dazu, dass sowohl die Einkommensteuer für 2000 (zu
versteuerndes Einkommen laut Bescheid vom 06.08.2002: 225.774 DM, bisher nach § 2
Abs. 3 EStG nicht berücksichtigte Verluste 448.287 DM) als auch - nach Rücktrag der
verbleibenden Verlustes aus 2000 nach 1999 - die Einkommensteuer für 1999 (zu
versteuerndes Einkommen laut Bescheid vom 12.08.2002: 241.271 DM, bisher nach § 2
Abs. 3 EStG nicht berücksichtigte Verluste 93.260 DM) mit 0 DM festzusetzen wäre.
33
Durch die Beschränkung des Verlustausgleichs gelangt man - wie im vorliegenden Fall
ersichtlich - zu einer fiktiv höheren Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen, obwohl
diese tatsächlich nicht besteht. Es erfolgt eine unzulässige Besteuerung nach der
34
zukünftigen Leistungsfähigkeit (vgl. Kirchhof/Geserich, in Kirchhof/Söhn,
Einkommensteuergesetz Kommentar, § 2 Rd.Nr. D 261; FG Berlin - Beschluss vom
04.03.2002 6 B 6333/01, EFG 2002, 597). Dagegen kann nach Ansicht des Senates
nicht eingewendet werden, dass über § 10 d EStG eine Verlustverrechnung in späteren
Veranlagungszeiträumen grundsätzlich möglich bleibt. Zum einen wird nunmehr ab
1999 auch in § 10 d EStG das Verrechnungsprinzip des § 2 Abs. 3 EStG fortgeführt.
Zum anderen ist das Prinzip der Einkommensbesteuerung grundsätzlich auf die
Besteuerung nach dem Jahreseinkommen festgelegt (§ 2 Abs. 7 EStG). Damit ist es
zumindest ernstlich zweifelhaft, ob sich die Einhaltung des Leistungsfähigkeitsprinzips
nicht auch an diesem Jahresprinzip messen lassen muß (vgl. FG Münster - Beschluss
vom 07.09.2000 4 V 1612/00 E, 4 V 1617/00 E, EFG 2000, 1253 m.w.N.). Dem
widerspricht aber gerade die Verlustverrechnungsbeschränkung des § 2 Abs. 3 EStG
(im Ergebnis ebenso Arndt/Jenzen, Verlustverrechnung und Verfassungsrecht, DStR
1998, 1818 und Raupach/Böckstiegel, Die Verlustregelungen des
Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002, FR 1999, 617).
Der entscheidende Senat setzt sich mit dieser Einschätzung nicht in Widerspruch zum
BFH-Beschluss vom 9. Mai 2001 (XI B 151/00, BFHE 195, 314, BStBl II 2001, 552).
Zwar hat der BFH dort entschieden, dass § 2 Abs. 3 EStG nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG
verstoße und führte u.a. auch die vom Antragsgegener zitierten Begründungen an.
Allerdings ist sowohl dem Leitsatz als auch den Gründen der BFH-Entscheidung zu
entnehmen, dass sich die Ausführungen des BFH auf die Fälle beziehen, in denen die
Verluste - zumindest auch - durch die Inanspruchnahme von Sonderabschreibungen
entstanden sind. Hierbei handelt es sich um so genannte "unechte" oder Buchverluste,
mit denen kein Mittelabfluss beim Steuerpflichtigen im Zeitpunkt der Geltendmachung
verbunden ist. Die Frage, ob zwischen "echten" Verlusten und z. B. durch
Sonderabschreibungen nach dem Fördergebietsgesetz entstandenen "unechten"
Verlusten zu unterscheiden ist, hat der BFH dagegen ausdrücklich offen gelassen
(Abschnitt II 3 c der Gründe).
35
Der Antragsgegner kann sich auch nicht auf den Beschluss des
Bundesverfassungsgericht vom 29.5.1990 (1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BStBl
II 1990, 653) berufen. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Beschluss die in §
11 Abs. 1 Bundeskindergeldgesetzes (in der Fassung von 1983) vorgenommene
Beschränkung des Ausgleichs von "echten" Verlusten mit positiven Einkünften anderer
Einkunftsarten (Beschränkung des vertikalen Verlustausgleichs) nicht als
verfassungswidrig angesehen. Die Vorschrift hat nach Ansicht des BVerfG
verfassungsrechtlich Bestand, da zwar eine Ungleichbehandlung durch die vertikale
Verlustverrechnungsbeschränkung bestehe, für die auch kein hinreichender sachlicher
Grund ersichtlich sei; diese Ungleichbehandlung aber unter dem Gesichtspunkt der
Verwaltungsökonomie gerechtfertigt sei. Denn eine Auseinanderrechnung von "echten"
und "unechten" Verlusten würde zu einem erheblichen Verwaltungsaufwand führen, der
außer Verhältnis zu den geringen Belastungen der Familien durch diese Reglung
stehen würde. Die Auseinanderrechnung der Verluste würde wirtschaftliche und
steuerliche Ermittlungen und Wertungen durch die Kindergeldbehörden erfordern, für
die die Kindergeldbehörden sachlich und personell hinreichend ausgestattet werden
müßten. Von der Minderung des Kindergeldes seien zum weit überwiegenden Teil
Familien mit zwei Kindern betroffen, bei denen eine geringfügige Minderung des
Kindergeldes von höchstens 360 DM im Jahr eintrete. Das Bundesverfassungsgericht
führte weiter aus: Der Gesichtspunkt der Verwaltungsökonomie dürfe regelmäßig nur in
geringfügigen und besonders liegenden Fällen zur Ungleichbehandlung führen,
36
während stärkere Belastungen ganzer Gruppen das Maß des verfassungsrechtlich
Zulässigen überschreite.
Es ist ernstich zweifelhaft, ob die Mindestbesteuerung des § 2 Abs. 3 EStG unter dem
Gesichtspunkt der Verwaltungsökonomie gerechtfertigt werden kann. Zum einen
bestehen Zweifel, ob der Finanzverwaltung als Fachbehörde - anders als der
fachfremden Kindergeldbehörde - die Auseinanderrechnung von "echten" und
"unechten" Verlusten nicht zugemutet werden muss. Zum anderen kann die
Mindestbesteuerung zu erheblichen Belastungen führen, wenn der Steuerpflichtige
beispielsweise dauerhaft "echte" Verluste und nur noch geringe oder keine positiven
Einkünfte erzielt.
37
Der Verstoß des § 2 Abs. 3 EStG gegen Art. 3 Abs. 1 GG kann - entgegen der Ansicht
des Antragsgegners - auch nicht durch die Anwendung der §§ 163, 227 AO "geheilt"
werden. Denn §§ 163, 227 AO sind nur zur Beseitigung von Unbilligkeiten vorgesehen,
die durch die Anwendung eines nicht verfassungswidrigen Gesetzes auf einen
atypischen und unvorhersehbaren Einzelfall entstanden sind (vgl. Kruse/Loose in
Tipke/Kruse, § 227 AO, Rd.Nr. 18). §§ 163, 227 AO dürfen dagegen nicht als
"Reparaturwerkzeug" für ein verfassungswidriges Gesetz mißbraucht werden (vgl. Seer
in Tipke/Lang, Steuerrecht, § 22 Rd.Nr. 336).
38
Darüber hinaus hätte die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch
überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge. Denn es ist anerkannt,
dass der Individualanspruch auf vorläufigen Rechtsschutz Vorrang vor dem
rechtsstaatlichen Anliegen des allgemeinen Normenvollzuges und der geordneten
Haushaltsführung hat, wenn durch die vorläufige Vollziehung irreparable Nachteile
drohen oder wenn das zu versteuernde Einkommen abzüglich der darauf zu
entrichtenden Steuer unter dem sozialhilferechtlich garantierten Existenzminimum liegt
(BFH-Beschlüsse vom 20.07.1990 III B 144/89, BStBl. II 1991, 104, vom 25. Juli 1991 III
B 555/90, BFHE 164, 570, BStBl. II 1991, 876, vom 09. August 1994 X B 318, 319/93,
BFH/NV 1995, 143 und vom 11. September 1996 II B 32/96, BFH/NV 1997, 270). Die ist
- wie bereits oben dargestellt - der Fall.
39
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 FGO.
40
Gemäß § 128 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO war die Beschwerde wegen
grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
41