Urteil des FG Baden-Württemberg vom 03.11.2014

berechnung der steuer, teilleistung, notwendiges privatvermögen, einkünfte

FG Baden-Württemberg Urteil vom 3.11.2014, 10 K 2655/13
Ermäßigter Steuersatz bei einer Entschädigungsleistung in Form einer Haupt-
und Teilleistung
Tenor
1. Unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 09. Juli 2013 wird der
Einkommensteuerbescheid 2011 vom 11. Oktober 2012 dahingehend abgeändert,
dass ein Betrag in Höhe von EUR 104.800,-- der tarifermäßigten Besteuerung nach §
34 Abs. 1 EStG unterworfen wird. Die Berechnung der Steuer wird dem beklagten
Finanzamt übertragen.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
3. Die Revision wird zugelassen.
4. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Ermöglicht der
Kostenfestsetzungsbeschluss eine Vollstreckung im Wert von mehr als 1.500 EUR,
hat der Kläger in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruches Sicherheit
zu leisten. Bei einem vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruch bis zur Höhe von
1.500 EUR kann der Beklagte der vorläufigen Vollstreckung widersprechen, wenn der
Kläger nicht zuvor in Höhe des vollstreckbaren Kostenanspruchs Sicherheit geleistet
hat, §§ 151 FGO i.V.m. 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.
Tatbestand
1 In seiner Einkommensteuererklärung für 2011 hat der Kläger die ermäßigte
Besteuerung für einen Betrag in Höhe von EUR 104.800,- beantragt. Der Erklärung
beigefügt war eine elektronische Lohnsteuerbescheinigung (Bl. 7 der
Einkommensteuerakten), wonach der Betrag in Höhe von EUR 104.800,- nicht
ermäßigt besteuert wurde. Ebenfalls beigefügt war ein Aufhebungsvertrag vom 24.
September 2010 (Bl. 8 der Einkommensteuerakten) zwischen der B AG und dem
Kläger, wonach das bestehende Arbeitsverhältnis zum Ablauf des 30. September
2010 im gegenseitigen Einvernehmen aufgelöst wurde und der Kläger für den
Verlust des Arbeitsplatzes eine betriebliche Abfindung in Höhe von EUR 104.800,-
brutto sowie eine Tarifabfindung in entsprechender Anwendung der
Abfindungsregelungen des Tarifvertrages zur Zukunftssicherung in Höhe von EUR
10.200,- brutto erhielt. Die Tarifabfindung war fällig zum 30. September 2010, die
betriebliche Abfindung einen Monat nach Ausscheiden aus der
Transfergesellschaft. Zum 30. September 2011 ist der Kläger aus der
Tarifgesellschaft ausgeschieden, so dass die streitgegenständliche Abfindung in
Höhe von EUR 104.800,- im Veranlagungszeitraum 2011 ausgezahlt wurde.
Daneben bezog er vom 01. Januar 2011 bis zum 30. September 2011 einen
Bruttoarbeitslohn in Höhe von EUR 7.874,48 aus dem Arbeitsverhältnis mit der
Transfergesellschaft. Vom 01. Oktober 2011 bis zum 31. Dezember 2011 bezog er
Arbeitslosengeld in Höhe von EUR 4.496,-. Die Zahlung in Höhe von EUR 10.200,-
war bereits im Jahr 2010 erfolgt und der tariflichen Einkommensteuer unterworfen
worden. Die Lohneinkünfte betrugen hier EUR 44.351,- (inklusive
Abfindungszahlung), im Jahr 2009 betrugen sie EUR 34.417,-.
2 Im Einkommensteuerbescheid für 2011 vom 11. Oktober 2012 versagte das
beklagte Finanzamt die ermäßigte Besteuerung für die Abfindungszahlung in Höhe
von EUR 104.800,-. In den Erläuterungen zum Bescheid wurde ausgeführt, dass
es aufgrund der Zahlung der Abfindung in Teilbeträgen an der erforderlichen
Zusammenballung der Entschädigungsleistungen fehle, so dass eine ermäßigte
Besteuerung ausscheide.
3 Der dagegen form- und fristgerecht eingelegte Einspruch wurde durch
Einspruchsentscheidung vom 09. Juli 2013, auf die wegen der Einzelheiten Bezug
genommen wird, als unbegründet zurückgewiesen.
4 Hiergegen wendet sich der Kläger, vertreten durch seinen
Prozessbevollmächtigten, mit der vorliegenden Klage.
5 Zur Begründung wird im Wesentlichen sinngemäß vorgetragen, dass die vom
beklagten Finanzamt bemühte 5 %-Grenze willkürlich sei und auch nicht vom
Wortlaut des § 34 Einkommensteuergesetz (EStG) gedeckt sei.
6 Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,
den Einkommensteuerbescheid für 2011 vom 11. Oktober 2012 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 09. Juli 2013 dahingehend abzuändern, dass der
Abfindungsbetrag in Höhe von EUR 104.800,- der ermäßigten Besteuerung nach §
34 Abs. 1 EStG unterworfen wird.
7 Das beklagte Finanzamt hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
8 Zur Begründung wird auf die Einspruchsentscheidung Bezug genommen. Danach
fehle es an der notwendigen Zusammenballung, da die Abfindung von insgesamt
EUR 115.000,- in zwei Teilbeträgen ausbezahlt worden sei. Aufgrund des
Verhältnisses von Teil- zu Hauptleistung, das über 5 % liege, handele es sich bei
der im Jahr 2010 erfolgten Zahlung in Höhe von EUR 10.200,- um keine geringe
Zahlung. Auch habe es sich um eine einheitliche Leistung gehandelt, da die
Auszahlung der Entschädigung in zwei Veranlagungszeiträumen von vornherein
so vorgesehen und auch vertraglich vereinbart gewesen sei. Schließlich habe
auch keine Ausnahmesituation im Sinne der Rechtsprechung des
Bundesfinanzhofs (BFH) vorgelegen (Gründe der sozialen Fürsorge oder
Existenzbedrohung des Empfängers oder wirtschaftliche Schwierigkeiten des
Zahlungsverpflichteten).
9 Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 10. Oktober 2014 (Kläger) bzw. 22.
Oktober 2014 (Beklagter) jeweils auf mündliche Verhandlung verzichtet.
10 Der vorstehende Sach- und Streitstand ist der Gerichtsakte sowie den vom
beklagten Finanzamt nach § 71 Abs. 2 FGO vorgelegten Akten (2 Bände
Einkommensteuer- und 1 Band Rechtsbehelfsakten) entnommen. Wegen der
Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt des streitgegenständlichen
Einkommensteuerbescheids für 2011, der Einspruchsentscheidung, der im
Verwaltungs-, Einspruchs- und Klageverfahren gewechselten Schriftsätze sowie
den weiteren Inhalt der zitierten Akten, insbesondere den Aufhebungsvertrag, den
Sozialplan sowie den Tarifvertrag zur Zukunftssicherung.
Entscheidungsgründe
11 Die Klage ist begründet. Dem Kläger ist die ermäßigte Besteuerung für die
Abfindungszahlung in Höhe von EUR 104.800,- gemäß § 34 Abs. 1 EStG zu
gewähren.
12 Sind in dem zu versteuernden Einkommen außerordentliche Einkünfte enthalten,
so ist nach § 34 Abs. 1 EStG die darauf entfallende Einkommensteuer nach einem
ermäßigten Steuersatz zu bemessen. Nach § 34 Abs. 2 Nr. 2 EStG kommen als
außerordentliche Einkünfte u.a. Entschädigungen in Betracht, die gemäß § 24 Nr.
1 Buchst. a EStG als Ersatz für entgangene oder entgehende Einnahmen gewährt
werden.
13 Eine Entschädigung liegt vor, wenn die bisherige Grundlage für den
Erfüllungsanspruch weggefallen ist und der an die Stelle der bisherigen
Einnahmen getretene Ersatzanspruch auf einer neuen Rechts- oder
Billigkeitsgrundlage beruht (Urteil des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 10. September
2003 XI R 9/02, Bundessteuerblatt -BStBl- II 2004, 349).
14 Außerordentliche Einkünfte im Sinne von § 34 Abs. 1 und 2 EStG werden nach der
ständigen Rechtsprechung des BFH grundsätzlich nur bejaht, wenn die zu
begünstigenden Einkünfte in einem Veranlagungszeitraum zufließen und durch die
Zusammenballung von Einkünften erhöhte steuerliche Belastungen entstehen
(u.a. BFH-Urteil vom 9. Oktober 2008 IX R 85/07, Sammlung der amtlich nicht
veröffentlichten Entscheidungen des BFH -BFH/NV- 2009, 558). Keine
Zusammenballung in diesem Sinne liegt typischerweise vor, wenn eine
Entschädigung in zwei oder mehreren verschiedenen Veranlagungszeiträumen
gezahlt wird, auch wenn die Zahlungen jeweils mit anderen laufenden Einkünften
zusammentreffen und sich ein Progressionsnachteil ergibt (vgl. u.a. BFH-Urteil vom
28. Juni 2006 XI R 58/05, BFHE 214, 319, BStBl II 2006, 835).
15 Hiervon hat der BFH, abgeleitet aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots, verschiedene Ausnahmen
zugelassen (Gründe der sozialen Fürsorge, Existenzbedrohung des Empfängers
oder wirtschaftliche Schwierigkeiten des Zahlungsverpflichteten), die im Streitfall
jedoch - auch nach dem Vorbringen des Klägers - nicht einschlägig sind.
16 Des Weiteren ist § 34 Abs. 1 EStG trotz Zuflusses in zwei Veranlagungszeiträumen
auch dann anwendbar, wenn der Steuerpflichtige nur eine geringfügige Teilleistung
erhalten hat und die ganz überwiegende Hauptentschädigungsleistung in einem
Betrag ausgezahlt wird (vgl. insoweit BFH-Urteil vom 25. August 2009 IX R 11/09,
BStBl II 2011, 27).
17 Der unbestimmte Rechtsbegriff der außerordentlichen Einkünfte ist nach der
bereits benannten BFH-Rechtsprechung im Wege der Auslegung nach Maßgabe
des Gesetzeszwecks zu konkretisieren. Danach sind außerordentliche Einkünfte
solche, deren Zufluss in einem Veranlagungszeitraum zu einer für den jeweiligen
Steuerpflichtigen im Vergleich zu seiner regelmäßigen sonstigen Besteuerung
einmaligen und außergewöhnlichen Progressionsbelastung führen. Diese
abzumildern ist der Zweck der Billigkeitsregelung des § 34 Abs. 1 und 2 Nr. 2 EStG
(vgl. ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 4. März 1998 XI R 46/97,
BStBl II 1998, 787, m.w.N.). Diese - veranlagungszeitraumbezogen betrachtet -
begünstigende Behandlung von zusammengeballt zugeflossenen Einnahmen,
deren Zufluss sich beim jeweiligen Steuerpflichtigen nach dessen regelmäßiger
Einkünftesituation normalerweise auf mehrere Jahre verteilt hätte, verwirklicht -
veranlagungszeitraumübergreifend betrachtet - eine gleichmäßige progressive
Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Dementsprechend sind
solche Entschädigungen als außerordentliche Einkünfte zu behandeln, deren
zusammengeballter Zufluss zu einer Ausnahmesituation in der
Progressionsbelastung des jeweiligen Steuerpflichtigen führt. Zwar liegt sie
typischerweise nicht vor, wenn eine einheitliche Entschädigungsleistung in
mehreren Veranlagungszeiträumen zufließt; indes kann eine nur geringfügige
Teilleistung in dem dem Zuflussjahr der Hauptentschädigungsleistung
vorgegangenen Veranlagungszeitraum dieser Ausnahmesituation mit ihrem Bedarf
nach der von § 34 EStG bezweckten Progressionsabmilderung entsprechen.
18 Wann von einer solchen unschädlichen geringfügigen Teilleistung auszugehen ist,
bestimmt sich nach dem Vorliegen einer Ausnahmesituation in der individuellen
Steuerbelastung des einzelnen Steuerpflichtigen. Eine starre Prozentgrenze sieht
das Gesetz weder vor, noch kann eine solche die gesetzlich geforderte Prüfung
der Außerordentlichkeit im Einzelfall ersetzen. Sind keine besonderen
tatsächlichen Umstände erkennbar, die die Teilleistung bedingen oder prägen, ist
die Frage, ob eine Teilleistung in einem anderen Veranlagungszeitraum der
Außerordentlichkeit der Hauptentschädigungszahlung entgegensteht, alleine
ausgehend von der Höhe der Teilleistung zu beurteilen.
19 Insgesamt nicht von einer einheitlichen Entschädigungszahlung ist auszugehen,
wenn zwei Entschädigungszahlungen in aufeinanderfolgenden
Veranlagungszeiträumen nicht zum Ausgleich für dasselbe Schadensereignis,
etwa den Verlust eines Arbeitsplatzes, gezahlt wurden.
20 Unter Berücksichtigung dieser höchstrichterlichen Rechtsprechungsgrundsätze ist
im Streitfall zwar von einer einheitlichen, aber gemäß § 34 Abs. 1 EStG ermäßigt
zu besteuernden Entschädigung für den Verlust des Arbeitsplatzes des Klägers
auszugehen.
21 Sowohl die Zahlung im Jahr 2010 als auch die Zahlung im Streitjahr 2011 wurden
als Ersatz für den Arbeitsplatzverlust des Klägers geleistet. Dies gilt unabhängig
davon, dass die EUR 10.200,- als Tarifabfindung und die EUR 104.800,- als
betriebliche Abfindung geschuldet waren und entsprechend bezahlt wurden.
Insoweit handelt es sich lediglich um Modalitäten des Aufhebungsvertrages mit der
Folge der (einvernehmlichen) Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Hierauf sind
beide Teilzahlungen zurückzuführen. Beide Zahlungen waren Bestandteil
desselben Aufhebungsvertrages und wurden unter der gleichen Ziffer und in einem
Satz geregelt. Vereinbart war mithin eine einheitliche Abfindung für die Beendigung
des Arbeitsverhältnisses des Klägers.
22 Bei den 2010 ausgezahlten EUR 10.200,- handelt es sich jedoch um eine
unschädliche geringfügige Teilleistung im Verhältnis zu den 2011 ausgezahlten
EUR 104.800,-. Bereits nach allgemeinem Verständnis ist eine Teilleistung von
unter 10 % der Hauptleistung geringfügig (genauso wie eine Teilleistung von über
10 % der Hauptleistung nach allgemeinem Verständnis nicht mehr geringfügig ist).
Dies wird bestärkt durch verschiedene im Steuerrecht bestehende 10 %-Grenzen
(u.a. Abgrenzung notwendiges Privatvermögen zu Betriebsvermögen, 10 %-
Grenze für Vergütungen für Fremdkapital an wesentlich beteiligte Gesellschafter im
Rahmen der Zinsschranke, § 8a Abs. 3 S. 1 Körperschaftsteuergesetz, 10 %-
Grenze beim bauleistenden Unternehmer als Leistungsempfänger bei Umkehr der
Steuerschuldnerschaft, § 13b Abs. 5 S. 2 UStG).
23 Aber auch bei Betrachtung der absoluten Beträge fällt die Zahlung von EUR
10.200,- zu der Zahlung in Höhe von EUR 104.800,- nicht ins Gewicht; auch die
Progressionsauswirkung im Jahr 2010 ist im Vergleich zu der im Streitjahr
offensichtlich von völlig untergeordneter Bedeutung. Unter Außerachtlassung der
Zahlung in Höhe von EUR 10.200,- ergibt sich für 2010 eine festzusetzende
Einkommensteuer von EUR 5.149,- (zu EUR 7.906,-) mit einem
Durchschnittssteuersatz von 14,1338 % (zu 16,9544 %) und einem
Grenzsteuersatz von 27,3988 % (zu 29,73 %); unter Außerachtlassung der
Zahlung in Höhe von EUR 104.800,- ergibt sich für 2011 eine festzusetzende
Einkommensteuer von EUR 2.112,- (zu EUR 37.278,-) mit einem
Durchschnittssteuersatz von 11,5468 % (zu 30,2844 %) und einem
Grenzsteuersatz von 25,7478 % (zu 42 %). In Anbetracht dieser Verhältnisse
erschiene es in höchstem Maße ungerecht und mit dem Gesetzeszweck in keiner
Weise vereinbar, aufgrund der Teilzahlung in 2010 die ermäßigte Besteuerung im
Streitjahr zu versagen, zumal die Teilzahlung in 2010 bestandskräftig der vollen
Besteuerung unterworfen wurde.
24 Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
25 Die Revisionszulassung beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO. Nach dem BMF-
Schreiben vom 01. November 2013 IV C 4-S 2290/13/10002, 2013/0929313,
BStBl I 2013, 1326 liegt keine geringfügige Zahlung und damit keine für die
Inanspruchnahme der ermäßigten Besteuerung notwendige Zusammenballung
vor, wenn beim Zufluss in Teilbeträgen der Teilbetrag im Verhältnis zur
Hauptleistung über 5 % liegt.