Urteil des EuGH vom 23.04.2015

Mitgliedstaat, Inhaber, Anerkennung, Entzug

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
23. April 2015
)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2006/126/EG – Gegenseitige Anerkennung
der Führerscheine – Weigerung eines Mitgliedstaats, die Gültigkeit eines Führerscheins
anzuerkennen, der einer Person, die unter dem Einfluss berauschender Mittel gefahren
ist, von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellt worden ist“
In der Rechtssache C‑260/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom
Verwaltungsgericht Sigmaringen (Deutschland) mit Entscheidung vom 30. April 2013,
beim Gerichtshof eingegangen am 13. Mai 2013, in dem Verfahren
Sevda Aykul
gegen
Land Baden-Württemberg
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz und der Richter C. Vajda,
A. Rosas (Berichterstatter), E. Juhász und D. Šváby,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. Juni
2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von Frau Aykul, vertreten durch Rechtsanwalt G. Heinzle,
– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im
Beistand von S. Varone, avvocato dello Stato,
– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun und N. Yerrell als
Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4.
September 2014
folgendes
Urteil
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 2 Abs. 1 und 11 Abs. 2
der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.
Dezember 2006 über den Führerschein (ABl. L 403, S. 18).
2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Aykul, einer
österreichischen Staatsangehörigen, die Inhaberin eines von der Republik Österreich
ausgestellten Führerscheins ist, und dem Land Baden-Württemberg wegen einer
Entscheidung, mit der ihr das Recht aberkannt wurde, von diesem Führerschein im
deutschen Hoheitsgebiet Gebrauch zu machen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2006/126
3
Im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/126 heißt es:
„Die Regelungen zum Führerschein sind wesentliche Bestandteile der gemeinsamen
Verkehrspolitik, tragen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit bei und erleichtern die
Freizügigkeit der Personen, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, der
den Führerschein ausgestellt hat, niederlassen. Angesichts der Bedeutung der
individuellen Verkehrsmittel fördert der Besitz eines vom Aufnahmemitgliedstaat
anerkannten Führerscheins die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit der
Personen …“
4
Nach dem achten Erwägungsgrund dieser Richtlinie sollten aus Gründen der
Straßenverkehrssicherheit die Mindestvoraussetzungen für die Erteilung einer
Fahrerlaubnis festgelegt werden.
5
Im 15. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es:
„Die Mitgliedstaaten sollten aus Gründen der Verkehrssicherheit die Möglichkeit haben,
ihre innerstaatlichen Bestimmungen über den Entzug, die Aussetzung, die Erneuerung
und die Aufhebung einer Fahrerlaubnis auf jeden Führerscheininhaber anzuwenden, der
seinen ordentlichen Wohnsitz in ihrem Hoheitsgebiet begründet hat.“
6
Nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126 werden „[d]ie von den Mitgliedstaaten
ausgestellten Führerscheine … gegenseitig anerkannt“.
7
Art. 7 der Richtlinie bestimmt:
7
Art. 7 der Richtlinie bestimmt:
„1. Ein Führerschein darf nur an Bewerber ausgestellt werden, die
a) eine Prüfung der Fähigkeiten und Verhaltensweisen sowie eine theoretische
Prüfung bestanden haben und die gesundheitlichen Anforderungen nach Maßgabe
der Anhänge II und III erfüllen;
e) im Hoheitsgebiet des den Führerschein ausstellenden Mitgliedstaats ihren
ordentlichen Wohnsitz haben oder nachweisen können, dass sie während eines
Mindestzeitraums von sechs Monaten dort studiert haben.
5. …
Unbeschadet des Artikels 2 achten die Mitgliedstaaten bei der Erteilung einer
Fahrerlaubnis sorgfältig darauf, dass eine Person die Anforderungen des Absatzes 1 des
vorliegenden Artikels erfüllt; sie wenden ihre nationalen Vorschriften für die Aufhebung
oder den Entzug der Fahrerlaubnis an, wenn feststeht, dass ein Führerschein ausgestellt
worden ist, ohne dass die Voraussetzungen hierfür vorlagen.“
8
Art. 11 der Richtlinie 2006/126 hat folgenden Wortlaut:
„…
2. Vorbehaltlich der Einhaltung des straf- und polizeirechtlichen
Territorialitätsgrundsatzes kann der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes auf den
Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins seine
innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung
der Fahrerlaubnis anwenden und zu diesem Zweck den betreffenden Führerschein
erforderlichenfalls umtauschen.
4. Ein Mitgliedstaat lehnt es ab, einem Bewerber, dessen Führerschein in einem
anderen Mitgliedstaat eingeschränkt, ausgesetzt oder entzogen wurde, einen
Führerschein auszustellen.
Ein Mitgliedstaat lehnt die Anerkennung der Gültigkeit eines Führerscheins ab, der von
einem anderen Mitgliedstaat einer Person ausgestellt wurde, deren Führerschein im
Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats eingeschränkt, ausgesetzt oder
entzogen worden ist.
Ein Mitgliedstaat kann es ferner ablehnen, einem Bewerber, dessen Führerschein in
einem anderen Mitgliedstaat aufgehoben wurde, einen Führerschein auszustellen.
…“
9
In Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:
9
In Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:
„Im Sinne dieser Richtlinie gilt als ordentlicher Wohnsitz der Ort, an dem ein
Führerscheininhaber wegen persönlicher und beruflicher Bindungen oder – im Falle
eines Führerscheininhabers ohne berufliche Bindungen – wegen persönlicher
Bindungen, die enge Beziehungen zwischen dem Führerscheininhaber und dem
Wohnort erkennen lassen, gewöhnlich, d. h. während mindestens 185 Tagen im
Kalenderjahr, wohnt.“
10
Art. 16 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie bestimmt:
„1. Die Mitgliedstaaten erlassen und veröffentlichen bis zum 19. Januar 2011 die
Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um Artikel 1 Absatz 1, Artikel
3, Artikel 4 Absätze 1, 2 und 3 sowie Absatz 4 Buchstaben b bis k, Artikel 6 Absatz 1
sowie Absatz 2 Buchstaben a, c, d und e, Artikel 7 Absatz 1 Buchstaben b, c und d sowie
Absätze 2, 3 und 5, die Artikel 8, 10, 13, 14 und 15 sowie Anhang I Nummer 2, Anhang II
Nummer 5.2 in Bezug auf die Klassen A1, A2 und A und den Anhängen IV, V und VI
nachzukommen. Sie teilen der Kommission unverzüglich den Wortlaut dieser
Rechtsvorschriften mit.
2. Sie wenden diese Vorschriften ab dem 19. Januar 2013 an.“
11
Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126 bestimmt:
„Die Richtlinie 91/439/EWG [des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein (ABl.
L 237, S. 1)] wird – unbeschadet der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im
Zusammenhang mit den in Anhang VII Teil B genannten Fristen für die Umsetzung jener
Richtlinie in nationales Recht – mit Wirkung vom 19. Januar 2013 aufgehoben.“
12
Art. 18 der Richtlinie 2006/126 lautet:
„Diese Richtlinie tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der
Europäischen Union in Kraft.
Artikel 2 Absatz 1, Artikel 5, Artikel 6 Absatz 2 Buchstabe b, Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe
a, Artikel 9, Artikel 11 Absätze 1, 3, 4, 5 und 6, Artikel 12 und die Anhänge I, II und III
gelten ab dem 19. Januar 2009.“
Richtlinie 91/439
13
Nach Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 werden „[d]ie von den Mitgliedstaaten
ausgestellten Führerscheine … gegenseitig anerkannt“.
14
Art. 8 der Richtlinie sieht vor:
„…
(2) Vorbehaltlich der Einhaltung des straf- und polizeirechtlichen
Territorialitätsprinzips kann der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes auf den
Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins seine
innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung
innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung
der Fahrerlaubnis anwenden und zu diesem Zweck den betreffenden Führerschein
erforderlichenfalls umtauschen.
(4) Ein Mitgliedstaat kann es ablehnen, die Gültigkeit eines Führerscheins
anzuerkennen, der von einem anderen Mitgliedstaat einer Person ausgestellt wurde, auf
die in seinem Hoheitsgebiet eine der in Absatz 2 genannten Maßnahmen angewendet
wurde.
Ein Mitgliedstaat kann es außerdem ablehnen, einem Bewerber, auf den eine solche
Maßnahme in einem anderen Mitgliedstaat angewendet wurde, einen Führerschein
auszustellen.
…“
Deutsches Recht
15
§ 2 des Straßenverkehrsgesetzes (im Folgenden: StVG) in seiner vom vorlegenden
Gericht zitierten Fassung bestimmt:
„(1) Wer auf öffentlichen Straßen ein Kraftfahrzeug führt, bedarf der Erlaubnis
(Fahrerlaubnis) der zuständigen Behörde (Fahrerlaubnisbehörde) …
(4) Geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, wer die notwendigen körperlichen
und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder nicht wiederholt gegen
verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat …
(11) Nach näherer Bestimmung durch Rechtsverordnung … berechtigen auch
ausländische Fahrerlaubnisse zum Führen von Kraftfahrzeugen im Inland.
…“
16
In § 3 („Entziehung der Fahrerlaubnis“) StVG in der vom vorlegenden Gericht zitierten
Fassung heißt es:
„(1) Erweist sich jemand als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von
Kraftfahrzeugen, so hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen.
Bei einer ausländischen Fahrerlaubnis hat die Entziehung – auch wenn sie nach
anderen Vorschriften erfolgt – die Wirkung einer Aberkennung des Rechts, von der
Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen …
(2) Mit der Entziehung erlischt die Fahrerlaubnis. Bei einer ausländischen
Fahrerlaubnis erlischt das Recht zum Führen von Kraftfahrzeugen im Inland …
…“
17
§ 29 („Tilgung der Eintragungen“) StVG in der von der deutschen Regierung in ihrer
Antwort auf eine vom Gerichtshof gestellte Frage zitierten Fassung bestimmt:
„(1) Die im Register gespeicherten Eintragungen werden nach Ablauf der in Satz 2
bestimmten Fristen getilgt. Die Tilgungsfristen betragen
2. fünf Jahre
a) bei Entscheidungen über eine Straftat, vorbehaltlich der Nummer 3 Buchstabe
a,
b) bei Entscheidungen über eine Ordnungswidrigkeit, die … als besonders
verkehrssicherheitsbeeinträchtigende oder gleichgestellte Ordnungswidrigkeit
mit zwei Punkten bewertet ist,
c) bei von der nach Landesrecht zuständigen Behörde verhängten Verboten
oder Beschränkungen, ein fahrerlaubnisfreies Fahrzeug zu führen,
d) bei Mitteilungen über die Teilnahme an einem Fahreignungsseminar, einem
Aufbauseminar,
einem
besonderen
Aufbauseminar
oder
einer
verkehrspsychologischen Beratung,
…“
18
§ 11 („Eignung“) Abs. 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum
Straßenverkehr in ihrer vom vorlegenden Gericht zitierten Fassung (im Folgenden: FeV)
sieht vor:
„Bewerber um eine Fahrerlaubnis müssen die hierfür notwendigen körperlichen und
geistigen Anforderungen erfüllen. Die Anforderungen sind insbesondere nicht erfüllt,
wenn eine Erkrankung oder ein Mangel nach Anlage 4 oder 5 vorliegt, wodurch die
Eignung oder die bedingte Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen
wird …“
19
Anlage 4 zu § 11 FeV lautet:
„Vorbemerkung
1. Die nachstehende Aufstellung enthält häufiger vorkommende Erkrankungen und
Mängel, die die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen längere Zeit beeinträchtigen
oder aufheben können.
3. Die nachstehend vorgenommenen Bewertungen gelten für den Regelfall.
Kompensationen durch besondere menschliche Veranlagung, durch Gewöhnung, durch
besondere Einstellung oder durch besondere Verhaltenssteuerungen und ‑umstellungen
sind möglich …
Nr.
Krankheiten, Mängel
Eignung oder bedingte
Eignung
… Klasse B …
9.2
Einnahme von Cannabis
9.2.1.
Regelmäßige Einnahme
von Cannabis
nein
9.2.2
Gelegentliche Einnahme
von Cannabis
ja
wenn Trennung von
Konsum und Fahren und
kein
zusätzlicher
Gebrauch von Alkohol
oder
anderen
psychoaktiv wirkenden
Stoffen, keine Störung
der Persönlichkeit, kein
Kontrollverlust
…“
20
In § 29 FeV („Ausländische Fahrerlaubnisse“) heißt es:
„(1) Inhaber einer ausländischen Fahrerlaubnis dürfen im Umfang ihrer Berechtigung
im Inland Kraftfahrzeuge führen, wenn sie hier keinen ordentlichen Wohnsitz nach § 7
haben. …
(3) Die Berechtigung nach Absatz 1 gilt nicht für Inhaber ausländischer
Fahrerlaubnisse,
3. denen die Fahrerlaubnis im Inland vorläufig oder rechtskräftig von einem Gericht
oder sofort vollziehbar oder bestandskräftig von einer Verwaltungsbehörde
entzogen worden ist …
(4) Das Recht, von einer ausländischen Fahrerlaubnis nach einer der in Absatz 3
Nummer 3 und 4 genannten Entscheidungen im Inland Gebrauch zu machen, wird auf
Antrag erteilt, wenn die Gründe für die Entziehung nicht mehr bestehen.“
21
§ 46 FeV („Entziehung, Beschränkung, Auflagen“) bestimmt:
„(1) Erweist sich der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von
Kraftfahrzeugen, hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen. Dies
gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6
vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder
Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von
Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist.
(5) Bei einer ausländischen Fahrerlaubnis hat die Entziehung die Wirkung einer
Aberkennung des Rechts, von der Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen.
(6) Mit der Entziehung erlischt die Fahrerlaubnis. Bei einer ausländischen
Fahrerlaubnis erlischt das Recht zum Führen von Kraftfahrzeugen im Inland.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
22
Frau Aykul, eine am 17. November 1980 geborene österreichische Staatsangehörige,
hat seit ihrer Geburt ihren ordentlichen Wohnsitz im Sinne von Art. 12 Abs. 1 der
Richtlinie 2006/126 in Österreich. Am 19. Oktober 2007 erteilte ihr die
Bezirkshauptmannschaft Bregenz (Österreich) eine Fahrerlaubnis.
23
Am 11. Mai 2012 wurde Frau Aykul in Leutkirch (Deutschland) einer Polizeikontrolle
unterzogen. Da Anzeichen den Gebrauch berauschender Mittel vermuten ließen, wurde
sie einem Urintest unterzogen, der auf Cannabiskonsum hinwies. Daher wurde am
selben Tag eine Blutentnahme durchgeführt, und die Blutuntersuchung bestätigte das
Vorliegen von Cannabisnebenprodukten im Blut von Frau Aykul.
24
Am 4. Juli 2012 stellte die Staatsanwaltschaft Ravensburg (Deutschland) das
strafrechtliche Ermittlungsverfahren, das gegen Frau Aykul eröffnet worden war, ein.
25
Mit Bußgeldbescheid der Stadt Leutkirch vom 18. Juli 2012 wurde gegen Frau Aykul
wegen des Führens eines Kraftfahrzeugs unter dem Einfluss berauschender Mittel eine
Geldbuße in Höhe von 590,80 Euro und ein Fahrverbot für die Dauer von einem Monat
verhängt.
26
Das Landratsamt Ravensburg (Deutschland) entzog Frau Aykul mit Verfügung vom 17.
September 2012 die österreichische Fahrerlaubnis für den Geltungsbereich der
Bundesrepublik Deutschland. Frau Aykul habe sich nämlich als ungeeignet zum Führen
von Kraftfahrzeugen erwiesen, da die Untersuchung der am 11. Mai 2012 entnommenen
Blutprobe gezeigt habe, dass sie zumindest gelegentlich Cannabis konsumiere und
unter dem Einfluss dieses berauschenden Mittels ein Kraftfahrzeug geführt habe. Frau
Aykul sei somit nicht in der Lage, ihren Drogenkonsum und das Führen von
Kraftfahrzeugen zu trennen.
27
Im Anhang zur Verfügung vom 17. September 2012 wurde Frau Aykul allerdings darauf
hingewiesen, dass sie in Zukunft die Berechtigung zum Führen von Kraftfahrzeugen in
hingewiesen, dass sie in Zukunft die Berechtigung zum Führen von Kraftfahrzeugen in
Deutschland neu beantragen könne, wenn sie ein positives Gutachten einer amtlich
anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung in Deutschland vorlege, das ihre
Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen belege. Das Landratsamt Ravensburg führte
auch aus, dass die Erstellung eines Gutachtens dieser Art im Allgemeinen den
Nachweis einer einjährigen Abstinenz von jeglichem Konsum berauschender Mittel
voraussetze.
28
Am 19. Oktober 2012 legte Frau Aykul gegen die Verfügung des Landratsamts
Ravensburg vom 17. September 2012 Widerspruch ein. Sie führte im Wesentlichen aus,
mit dem Erlass des Bußgeldbescheids vom 18. Juli 2012 sei die Zuständigkeit der
deutschen Behörden erschöpft, und nach dem Unionsrecht sei es nicht Sache dieser
Behörden, ihre Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zu überprüfen, da diese
Aufgabe gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs in die alleinige Zuständigkeit des
Mitgliedstaats falle, der die Fahrerlaubnis erteilt habe, also der Republik Österreich.
29
Die Bezirkshauptmannschaft Bregenz, die über den Vorgang vom Landratsamt
Ravensburg informiert worden war, erklärte, dass die vom österreichischen Gesetz
vorgesehenen Voraussetzungen für ein Einschreiten der Behörden gegen Frau Aykul
nicht erfüllt seien, da der Arzt, der die Blutentnahme am 11. Mai 2012 vorgenommen
habe, in seinem Protokoll vermerkt habe, dass sie nicht merkbar unter dem Einfluss
berauschender Mittel gestanden habe.
30
Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Dezember 2012 wies das Regierungspräsidium
Tübingen (Deutschland) den Widerspruch, den Frau Aykul gegen den Bescheid des
Landratsamts Ravensburg vom 17. September 2012 eingelegt hatte, zurück. Es führte
u. a. aus, eine Untätigkeit der deutschen Behörden im Fall des Fahrens unter dem
Einfluss berauschender Mittel sei mit dem von der Richtlinie 91/439 verfolgten Ziel,
nämlich der Gewährleistung der Sicherheit im Straßenverkehr, nicht vereinbar. Auch
hindere Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie entgegen dem Vortrag von Frau Aykul nicht daran,
der Betroffenen die Fahrerlaubnis zu entziehen, da eine solche Maßnahme zu denen
gehöre, die ein Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 4 Unterabs. 1 dieser
Richtlinie erlassen könne.
31
Am 25. Januar 2013 erhob Frau Aykul beim Verwaltungsgericht Sigmaringen
(Deutschland) Klage gegen den Bescheid des Landratsamts Ravensburg vom 17.
September 2012 und wiederholte dazu ihre bisherigen Ausführungen. Sie machte
außerdem geltend, dass Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 der
Bundesrepublik Deutschland nicht gestatte, die Anerkennung der Gültigkeit ihres
Führerscheins zu verweigern, da dieser von der Republik Österreich ausgestellt worden
sei und sie nach wie vor ihren ordentlichen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Staates
habe. Somit seien für die Beantwortung der Frage, ob sie noch geeignet sei,
Kraftfahrzeuge zu führen, allein die österreichischen Behörden zuständig.
32
Das Land Baden-Württemberg beantragt, die von Frau Aykul erhobene Klage
abzuweisen. Es sei u. a. zu berücksichtigen, dass der Grund für die Versagung der
Anerkennung der Fahrerlaubnis von Frau Aykul erst nach der Erteilung dieser Erlaubnis
entstanden sei. Nach der Erteilung einer Fahrerlaubnis eingetretene Tatsachen
berechtigten die betreffenden Mitgliedstaaten der Europäischen Union jedoch zur
Aberkennung der Fahrberechtigung im Inland.
33
Eine solche Möglichkeit sei von Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 91/439 gedeckt. Im
Unterschied zum Wortlaut von Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie berechtige der Wortlaut von
Art. 8 Abs. 4 dieser Richtlinie nicht nur den Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes,
sondern auch jeden anderen Mitgliedstaat zur Nichtanerkennung des Rechts, in seinem
nationalen
Hoheitsgebiet
zu
fahren.
Das
nach
den
straf-
oder
ordnungswidrigkeitsrechtlichen Vorschriften verhängte Fahrverbot sei eine Maßnahme
der „Einschränkung“ der Fahrerlaubnis, die von der Freistellung straf- bzw.
ordnungswidrigkeitsrechtlicher
Maßnahmen
unter
dem
Vorbehalt
des
Territorialitätsprinzips nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 erfasst sei. Die
Aberkennung der Fahrberechtigung im Inland nach § 46 Abs. 5 FeV sei nichts anderes
als die Nichtanerkennung der Gültigkeit einer von einem anderen Mitgliedstaat
ausgestellten Fahrerlaubnis im jeweiligen Mitgliedstaat im Sinne von Art. 8 Abs. 4 der
Richtlinie 91/439.
34
In Beantwortung einer Frage des vorlegenden Gerichts vom 13. März 2013 erklärte die
Bezirkshauptmannschaft Bregenz, die österreichischen Behörden schritten nach den
österreichischen Rechtsvorschriften über die Fahrerlaubnis nur dann ein, wenn die
Unfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen wegen des Konsums berauschender Mittel
medizinisch festgestellt worden sei oder wenn Anzeichen bestünden, die eine
Abhängigkeit von diesen Mitteln vermuten ließen. Die Bezirkshauptmannschaft Bregenz
bestätigte, dass Frau Aykul im Ausgangsverfahren von den österreichischen Behörden
weiterhin als geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen angesehen werde und sie daher
ihre Fahrerlaubnis behalte.
35
Das vorlegende Gericht führt aus, dass die von Frau Aykul erhobene Klage abzuweisen
wäre, wenn das deutsche Recht anzuwenden wäre. Gemäß § 3 Abs. 1 StVG in
Verbindung mit § 46 Abs. 1 FeV müsse die zuständige Fahrerlaubnisbehörde die
Fahrerlaubnis entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von
Kraftfahrzeugen erweise. Nach § 46 Abs. 5 FeV habe diese Entziehung bei einer im
Ausland erteilten Fahrerlaubnis die Wirkung einer Aberkennung des Rechts, von der
Fahrerlaubnis im deutschen Hoheitsgebiet Gebrauch zu machen. Im vorliegenden Fall
ergebe sich die Ungeeignetheit von Frau Aykul zum Führen von Kraftfahrzeugen aus der
Anwendung von § 11 Abs. 1 Satz 2 FeV in Verbindung mit Punkt 9.2.2 von Anhang 4 zu
§ 11 FeV. Nach diesen Bestimmungen sei nämlich im Allgemeinen ungeeignet zum
Führen von Kraftfahrzeugen, wer, wenn er gelegentlich Cannabis konsumiere, unfähig
sei, diesen Konsum und das Fahren voneinander zu trennen. Im Ausgangsverfahren
gebe es hinreichende Anzeichen für diese Unfähigkeit bei Frau Aykul.
36
Das vorlegende Gericht führt außerdem aus, dass die vom nationalen Recht
vorgesehenen Reaktionen auf Verkehrsverstöße und Hinweise auf eine fehlende
Fahreignung auf drei unterschiedlichen Ebenen erfolgten, und zwar auf strafrechtlicher,
auf ordnungswidrigkeitsrechtlicher und auf fahrerlaubnisrechtlicher Ebene. Der
vorliegende
Fall
entspreche
der
fahrerlaubnisrechtlichen
Praxis.
Die
Fahrerlaubnisbehörden und die Polizeidienststellen gingen von dem Grundsatz aus,
dass die deutschen Behörden für die Entziehung von im Ausland erteilten
dass die deutschen Behörden für die Entziehung von im Ausland erteilten
Fahrlaubnissen zuständig seien, wenn ein in Deutschland begangener Verkehrsverstoß
Anzeichen für eine fehlende Fahreignung erkennen lasse.
37
Da das Verwaltungsgericht Sigmaringen Zweifel an der Vereinbarkeit der deutschen
Regelung und der deutschen Verwaltungspraxis mit der Pflicht zur gegenseitigen
Anerkennung der von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine hat, hat es das
Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung
vorgelegt:
1. Steht die aus Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126 sich ergebende Pflicht zur
gegenseitigen Anerkennung der von den Mitgliedstaaten ausgestellten
Führerscheine einer nationalen Regelung der Bundesrepublik Deutschland
entgegen, nach der das Recht, von einer ausländischen Fahrerlaubnis in
Deutschland Gebrauch zu machen, nachträglich auf dem Verwaltungswege
aberkannt werden muss, wenn der Inhaber der ausländischen Fahrerlaubnis mit
dieser in Deutschland ein Kraftfahrzeug unter dem Einfluss illegaler Drogen führt
und in der Folge, nach den deutschen Bestimmungen, seine Fahreignung nicht
mehr besteht?
2. Falls die Frage 1 zu bejahen ist, gilt dies auch, wenn der Ausstellerstaat in
Kenntnis der Drogenfahrt untätig bleibt und die vom Inhaber der ausländischen
Fahrerlaubnis ausgehende Gefahr daher weiter besteht?
3. Falls die Frage 1 zu verneinen ist, darf die Bundesrepublik Deutschland die
Wiedererteilung des Rechts, von der ausländischen Fahrerlaubnis in Deutschland
Gebrauch
zu
machen,
von
der
Erfüllung
der
nationalen
Wiedererteilungsvoraussetzungen abhängig machen?
4. a) Vermag der Vorbehalt der Einhaltung des straf- und polizeirechtlichen
Territorialitätsprinzips nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2006/126 ein
fahrerlaubnisrechtliches Vorgehen eines Mitgliedstaats anstelle des
Ausstellerstaats zu rechtfertigen? Lässt der Vorbehalt zum Beispiel die
nachträgliche Aberkennung des Rechts, von der ausländischen Fahrerlaubnis
in Deutschland Gebrauch zu machen, durch eine strafrechtliche
Sicherungsmaßregel zu?
b) Wenn Frage 4a bejaht wird, ist, unter Berücksichtigung der
Anerkennungspflicht, für die Wiedererteilung des Rechts, von der
ausländischen Fahrerlaubnis in Deutschland Gebrauch zu machen, der die
Sicherungsmaßregel verhängende Mitgliedstaat oder der Ausstellerstaat
zuständig?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
38
Da die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen die Auslegung der Art. 2 Abs. 1 und
11 Abs. 2 der Richtlinie 2006/126 betreffen, die die Richtlinie 91/439 aufgehoben und
11 Abs. 2 der Richtlinie 2006/126 betreffen, die die Richtlinie 91/439 aufgehoben und
ersetzt hat, ist vorab zu ermitteln, welche Bestimmungen des Unionsrechts auf den
Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zeitlich anwendbar sind.
39
Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass Frau Aykul die Fahrerlaubnis am 19.
Oktober 2007 von den österreichischen Behörden erteilt wurde und dass es das
Landratsamt Ravensburg mit seiner Verfügung vom 17. September 2012 wegen
Tatsachen, die sich am 11. Mai 2012 ereignet hatten, ablehnte, die Gültigkeit dieser
Fahrerlaubnis im deutschen Hoheitsgebiet anzuerkennen.
40
Gemäß Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126 wurde die Richtlinie 91/439 zwar erst mit
Wirkung zum 19. Januar 2013 aufgehoben, mehrere Bestimmungen der Richtlinie
2006/126, wie etwa ihre Art. 2 Abs. 1 und 11 Abs. 4, sind gemäß ihrem Art. 18 Abs. 2
jedoch ab dem 19. Januar 2009 anwendbar (vgl. in diesem Sinne Urteil Akyüz,
C‑467/10, EU:C:2012:112, Rn. 31). Dies ist allerdings nicht bei Art. 11 Abs. 2 der
Richtlinie 2006/126 der Fall, der nicht zu den Bestimmungen zählt, die in Art. 18 Abs. 2
dieser Richtlinie genannt werden.
41
Daraus folgt, dass zum einen die Art. 2 Abs. 1 und 11 Abs. 4 der Richtlinie 2006/126
und zum anderen Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439, dessen Inhalt wortgleich in Art. 11
Abs. 2 der Richtlinie 2006/126 übernommen wurde, auf den Sachverhalt des
Ausgangsverfahrens zeitlich anwendbar sind.
Zu den Fragen 1 und 2 sowie zur Frage 4a
42
Es ist daran zu erinnern, dass es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten
Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem
Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die
Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben.
Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (vgl. Urteil Le
Rayon d’Or, C‑151/13, EU:C:2014:185, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43
Zu diesem Zweck kann der Gerichtshof aus dem gesamten vom nationalen Gericht
vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung,
diejenigen Normen und Grundsätze des Unionsrechts herausarbeiten, die unter
Berücksichtigung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits einer Auslegung
bedürfen (vgl. Urteil Le Rayon d’Or, C‑151/13, EU:C:2014:185, Rn. 26 und die dort
angeführte Rechtsprechung).
44
Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass das vorlegende
Gericht mit seinen Fragen 1 und 2 sowie mit seiner Frage 4a, die zusammen zu prüfen
sind, wissen möchte, ob die Art. 2 Abs. 1 und 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie
2006/126 sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 dahin auszulegen sind, dass sie
einen Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Inhaber eines von einem anderen
Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins vorübergehend aufhält, daran hindern, die
Anerkennung der Gültigkeit dieses Führerscheins wegen einer Zuwiderhandlung seines
Inhabers abzulehnen, die in diesem Gebiet nach Erteilung der Fahrerlaubnis
stattgefunden hat und die gemäß den nationalen Rechtsvorschriften des erstgenannten
Mitgliedstaats geeignet ist, die fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen
herbeizuführen.
herbeizuführen.
45
Nach ständiger Rechtsprechung sieht Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126 die
gegenseitige Anerkennung der von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine
ohne jede Formalität vor. Diese Bestimmung erlegt den Mitgliedstaaten eine klare und
unbedingte Verpflichtung auf, die keinen Ermessensspielraum in Bezug auf die
Maßnahmen einräumt, die zu erlassen sind, um ihr nachzukommen (vgl. in diesem Sinne
Urteile Akyüz, C‑467/10, EU:C:2012:112, Rn. 40, und Hofmann, C‑419/10,
EU:C:2012:240, Rn. 43 und 44).
46
Zudem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass es Aufgabe des
Ausstellermitgliedstaats ist, zu prüfen, ob die im Unionsrecht aufgestellten
Mindestvoraussetzungen, insbesondere die Voraussetzungen in Art. 7 Abs. 1 der
Richtlinie 2006/126 hinsichtlich des Wohnsitzes und der Fahreignung, erfüllt sind und ob
somit die Erteilung einer Fahrerlaubnis gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil
Hofmann, C‑419/10, EU:C:2012:240, Rn. 45 und 47).
47
Haben die Behörden eines Mitgliedstaats einen Führerschein gemäß Art. 1 Abs. 1 der
Richtlinie 2006/126 ausgestellt, sind die anderen Mitgliedstaaten nicht befugt, die
Beachtung der in dieser Richtlinie aufgestellten Ausstellungsvoraussetzungen
nachzuprüfen. Der Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins ist
nämlich als Beweis dafür anzusehen, dass sein Inhaber am Tag seiner Ausstellung
diese Voraussetzungen erfüllte (vgl. in diesem Sinne Urteil Hofmann, C‑419/10,
EU:C:2012:240, Rn. 46 und 47).
48
Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die deutschen Behörden die
Voraussetzungen für den Besitz des Führerscheins von Frau Aykul nicht an dem Tag, an
dem ihr dieser ausgestellt wurde, in Frage stellten, sondern infolge einer
Zuwiderhandlung von Frau Aykul, die im deutschen Hoheitsgebiet nach der Ausstellung
dieses Führerscheins stattfand.
49
Frau Aykul, deren ordentlicher Wohnsitz in Österreich ist, hat nämlich ihren
österreichischen Führerschein nicht nach einer Einschränkung, einer Aussetzung oder
einem Entzug der Fahrerlaubnis in Deutschland erhalten. Da sie in Deutschland ein
Fahrzeug unter dem Einfluss berauschender Mittel geführt hatte, wurde ihr von den
deutschen Behörden ihre österreichische Fahrerlaubnis im deutschen Hoheitsgebiet
entzogen, und dies, obwohl sich ihr ordentlicher Wohnsitz nicht in Deutschland befand.
Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass eine solche Maßnahme hinsichtlich einer
von einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland erteilten
Fahrerlaubnis die Wirkung hatte, Frau Aykul das Recht abzuerkennen, von ihrer
Fahrerlaubnis im deutschen Hoheitsgebiet Gebrauch zu machen.
50
Es ist zu ermitteln, ob eine solche Weigerung durch einen Mitgliedstaat, die Gültigkeit
eines von einem anderen Mitgliedstaat erteilten Führerscheins anzuerkennen, von den
Beschränkungen gedeckt ist, die in Bezug auf den in Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie
2006/126 genannten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine
zulässig sind.
51
Wie der Generalanwalt in Nr. 65 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann insoweit
51
Wie der Generalanwalt in Nr. 65 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann insoweit
die in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 vorgesehene Beschränkung dieses Grundsatzes
im Ausgangsverfahren keine Anwendung finden.
52
Aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 in Verbindung mit den
Erwägungsgründen 1 und 10 dieser Richtlinie geht nämlich hervor, dass diese
Beschränkung auf die Situation abzielt, in der der Inhaber eines Führerscheins seinen
ordentlichen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Ausstellermitgliedstaat
dieses Führerscheins hat. In einer solchen Situation kann der Mitgliedstaat des
ordentlichen Wohnsitzes vorbehaltlich der Einhaltung des straf- und polizeirechtlichen
Territorialitätsprinzips auf den Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat
ausgestellten Führerscheins seine innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung,
Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis anwenden und zu diesem Zweck
den betreffenden Führerschein erforderlichenfalls umtauschen.
53
Im vorliegenden Fall befand sich der ordentliche Wohnsitz von Frau Aykul zur Zeit des
Sachverhalts des Ausgangsverfahrens jedoch im Hoheitsgebiet des Staates, der ihren
Führerschein ausgestellt hatte, nämlich der Republik Österreich, und nicht im deutschen
Hoheitsgebiet. Frau Aykul hielt sich nur vorübergehend in Deutschland auf, als sie am
11. Mai 2012 die Zuwiderhandlung des Fahrens unter dem Einfluss berauschender Mittel
beging.
54
Hingegen fällt eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende in den
Anwendungsbereich von Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126. Diese
Bestimmung, die, wie aus den Rn. 40 und 41 dieses Urteils hervorgeht, auf den
Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zeitlich anwendbar ist, sieht vor, dass ein
Mitgliedstaat die Anerkennung der Gültigkeit eines Führerscheins ablehnt, der von einem
anderen Mitgliedstaat einer Person ausgestellt wurde, deren Führerschein im
Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats eingeschränkt, ausgesetzt oder
entzogen worden ist, und zwar unabhängig davon, ob der Führerschein ausgestellt
wurde, bevor die genannte Vorschrift wirksam wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil Akyüz,
C‑467/10, EU:C:2012:112, Rn. 32).
55
Während nach dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 nur der Mitgliedstaat
des ordentlichen Wohnsitzes dafür zuständig ist, auf den Inhaber eines von einem
anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins seine innerstaatlichen Vorschriften
über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis
anzuwenden, gestattet der Wortlaut von Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie
2006/126 jedem Mitgliedstaat, und nicht nur dem Mitgliedstaat des ordentlichen
Wohnsitzes, die Anerkennung der Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat
ausgestellten Führerscheins abzulehnen.
56
Gewiss hat die Kommission in der mündlichen Verhandlung eine Auslegung von Art. 11
Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 vertreten, wonach die Möglichkeit, die
Anerkennung der Gültigkeit eines Führerscheins abzulehnen, nur dem Mitgliedstaat
vorbehalten sein sollte, in dem sich der ordentliche Wohnsitz des Inhabers dieses
Führerscheins befindet. Nach Ansicht der Kommission verweist nämlich Art. 8 Abs. 4
Unterabs. 1 der Richtlinie 91/439, dessen Wortlaut in Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der
Richtlinie 2006/126 übernommen wurde, auf Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439, in dem
Richtlinie 2006/126 übernommen wurde, auf Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439, in dem
vom „Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes“ die Rede ist. Der in Art. 11 Abs. 4
Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 genannte Mitgliedstaat könne somit nur der
Mitgliedstaat sein, in dem sich der ordentliche Wohnsitz des Inhabers des in Rede
stehenden Führerscheins befinde.
57
Dieser Auslegung ist jedoch nicht zu folgen. Sowohl der erste als auch der zweite
Unterabsatz von Art. 11 Abs. 4 dieser Richtlinie beziehen sich nämlich auf die
Einschränkung, die Aussetzung oder den Entzug eines Führerscheins, ohne sich dabei
jedoch auf die zu diesem Zweck vom Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes
getroffenen Maßnahmen zu beschränken. Der dritte Unterabsatz dieser Bestimmung, der
die Aufhebung eines Führerscheins betrifft, knüpft auch nicht an eine solche von diesem
Mitgliedstaat getroffene Entscheidung an. Unter diesen Umständen sind, wie der
Generalanwalt in den Nrn. 79 bis 82 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die
Bestimmungen von Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 selbständig
anwendbar, und zwar sowohl in Bezug auf Art. 11 Abs. 2 dieser Richtlinie als auch auf
Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439.
58
Sodann hat der Gerichtshof Art. 8 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 91/439 sowie Art. 11
Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126, der dessen Wortlaut übernommen hat, zwar
hauptsächlich im Zusammenhang mit Rechtssachen ausgelegt, in denen es darum ging,
ob eine Person, deren Führerschein im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats
eingeschränkt, ausgesetzt oder entzogen worden ist, sich von diesem Mitgliedstaat die
Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat nach dem Erlass dieser Maßnahme
ausgestellten Führerscheins anerkennen lassen kann (vgl. u. a. Urteile Wiedemann und
Funk, C‑329/06 und C‑343/06, EU:C:2008:366; Zerche u. a., C‑334/06 bis C‑336/06,
EU:C:2008:367, sowie Hofmann, C‑419/10, EU:C:2012:240). Der Wortlaut dieser
Bestimmungen deckt aber auch eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede
stehende ab, in der der erstgenannte Mitgliedstaat es ablehnt, die Gültigkeit eines
Führerscheins anzuerkennen, der von einem anderen Mitgliedstaat vor der Entscheidung
über die Einschränkung, Aussetzung oder den Entzug dieses Führerscheins ausgestellt
wurde.
59
Schließlich ist zu bemerken, dass Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 dem Mitgliedstaat
des ordentlichen Wohnsitzes des Inhabers eines von einem anderen Mitgliedstaat
ausgestellten Führerscheins gestattet, diesen Führerschein erforderlichenfalls
umzutauschen, damit dieser erstgenannte Mitgliedstaat auf diesen Inhaber seine
innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung
der Fahrerlaubnis anwenden kann. Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass der
Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes befugt ist, Maßnahmen der Einschränkung,
der Aussetzung, des Entzugs oder der Aufhebung einer von einem anderen Mitgliedstaat
erteilten Fahrerlaubnis, die ihre Wirkungen in allen Mitgliedstaaten entfalten, zu
ergreifen.
60
Hingegen ist davon auszugehen, dass nach Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie
2006/126, der eine solche Möglichkeit des Führerscheinumtauschs nicht vorsieht, ein
Mitgliedstaat, wenn er nicht der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes ist, wegen der
in seinem Hoheitsgebiet begangenen Zuwiderhandlung des Inhabers eines zuvor in
in seinem Hoheitsgebiet begangenen Zuwiderhandlung des Inhabers eines zuvor in
einem anderen Mitgliedstaat erhaltenen Führerscheins nur solche Maßnahmen nach
seinen nationalen Rechtsvorschriften ergreifen darf, deren Tragweite auf dieses
Hoheitsgebiet beschränkt ist und deren Wirkung sich auf die Ablehnung beschränkt, in
diesem Gebiet die Gültigkeit dieses Führerscheins anzuerkennen.
61
Wie der Generalanwalt in Nr. 83 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, stellt Art. 11
Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 somit eine Ausgestaltung des straf- und
polizeirechtlichen Territorialitätsgrundsatzes dar, der ausdrücklich in Art. 8 Abs. 2 der
Richtlinie 91/439 und in Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2006/126 erwähnt wird. Art. 11
Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 betrifft nämlich Maßnahmen, die in
Anwendung der straf- und polizeirechtlichen Vorschriften eines Mitgliedstaats getroffen
werden und die die Gültigkeit – im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats – eines von
einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins berühren.
62
Hierzu ist zu bemerken, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass ein
Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet eine Zuwiderhandlung begangen wird, allein
dafür zuständig ist, diese zu ahnden, indem er gegebenenfalls eine Maßnahme des
Entzugs, eventuell verbunden mit einer Sperrfrist für die Neuerteilung einer
Fahrerlaubnis, verhängt (vgl. Urteil Weber, C‑1/07, EU:C:2008:640, Rn. 38).
63
Im Ausgangsverfahren ist festzustellen, dass die Tatsache, dass Frau Aykul am 11. Mai
2012 ein Fahrzeug unter dem Einfluss eines berauschenden Mittels führte, zunächst die
Eröffnung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen sie durch die
Staatsanwaltschaft Ravensburg zur Folge hatte, das schlussendlich eingestellt wurde.
64
Des Weiteren geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass die Stadt Leutkirch gegen
Frau Aykul wegen des Führens eines Kraftfahrzeugs unter dem Einfluss berauschender
Mittel eine Geldbuße und ein Fahrverbot für die Dauer von einem Monat verhängte.
Schließlich
entzog
ihr
das
Landratsamt
Ravensburg
als
zuständige
Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis auf der Grundlage der deutschen
fahrerlaubnisrechtlichen Vorschriften. Wenn Zweifel an der Fahreignung des Inhabers
eines Führerscheins auftreten, ist gemäß diesen Rechtsvorschriften eine Überprüfung
dieser Eignung vorgesehen, und wenn festgestellt wird, dass diese fehlt, ist die
zuständige Verwaltung verpflichtet, die fragliche Fahrerlaubnis zu entziehen. Nach der
Praxis zu diesen Rechtsvorschriften halten sich die deutschen Behörden für den Entzug
einer im Ausland erteilten Fahrerlaubnis zuständig, wenn bei einem in Deutschland
begangenen Verkehrsverstoß Anzeichen für eine fehlende Fahreignung bekannt
werden.
65
Unter Verweis auf den Vorbehalt bezüglich des straf- und polizeirechtlichen
Territorialitätsprinzips in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 und Art. 11 Abs. 2 der
Richtlinie 2006/126 vertritt die Kommission die Auffassung, dass der Führerscheinentzug
mangels Eignung des Inhabers eines Führerscheins zum Führen von Kraftfahrzeugen
somit nicht als strafrechtliche Sicherungsmaßregel und somit als vom Vorbehalt
gedecktes Strafrecht betrachtet werden könne.
66
Hierzu genügt die Feststellung, dass die Bestimmungen, auf die sich die Kommission
bezieht, nicht nur die straf-, sondern auch die polizeirechtlichen Vorschriften betreffen.
bezieht, nicht nur die straf-, sondern auch die polizeirechtlichen Vorschriften betreffen.
Zudem ist die in den Rn. 60 und 61 dieses Urteils angeführte Möglichkeit, die Art. 11
Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 einem Mitgliedstaat einräumt, die
Anerkennung der Gültigkeit eines zuvor in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten
Führerscheins wegen der in seinem Hoheitsgebiet begangenen Zuwiderhandlung des
Inhabers dieses Führerscheins abzulehnen, auch nicht auf die in Anwendung des
Strafrechts des erstgenannten Mitgliedstaats getroffenen Maßnahmen beschränkt. Die
Sanktion einer im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats begangenen Zuwiderhandlung
kann nämlich je nach Art und Schwere der Zuwiderhandlung und entsprechend der
gerichtlichen Organisation des Staates, der eine Unterscheidung von behördlichen und
gerichtlichen Handlungen vorsehen kann oder auch nicht, unterschiedliche Formen
annehmen.
67
Wie der Generalanwalt in Nr. 104 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, entschied sich
die Strafverfolgungsbehörde, obwohl die von Frau Aykul begangene Zuwiderhandlung
sowohl strafrechtlich als auch verwaltungsrechtlich geahndet werden konnte, das
ursprünglich gegen sie eingeleitete strafrechtliche Ermittlungsverfahren einzustellen.
Dieselbe Zuwiderhandlung veranlasste dagegen die zuständige Fahrerlaubnisbehörde,
nämlich das Landratsamt Ravensburg, ihr die Fahrerlaubnis zu entziehen.
68
Daraus folgt, dass eine Verfügung wie die des Landratsamts Ravensburg vom 17.
September 2012, mit der Frau Aykul ihre Fahrerlaubnis entzogen wurde, zu den
Maßnahmen gehört, die ein Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 11 Abs.4
Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 treffen kann.
69
Außerdem ist festzustellen, dass es dem Gemeinwohlziel der Union, die
Verkehrssicherheit zu erhöhen, das die Richtlinie 2006/126 gerade verfolgt,
zuwiderlaufen würde, einen Mitgliedstaat zu zwingen, die Gültigkeit eines Führerscheins
in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden bedingungslos
anzuerkennen (vgl. in diesem Sinne Urteil Glatzel, C‑356/12, EU:C:2014:350, Rn. 51
und die dort angeführte Rechtsprechung).
70
Die einem Mitgliedstaat eingeräumte Möglichkeit, dem Inhaber eines Führerscheins
wegen einer auf seinem Hoheitsgebiet begangenen Zuwiderhandlung die Erlaubnis zu
entziehen, in diesem Gebiet zu fahren, stellt nämlich gewiss eine Beschränkung des
Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine dar. Allerdings ist diese
Beschränkung, mit der die Gefahr von Verkehrsunfällen verringert werden kann,
geeignet, die Sicherheit im Straßenverkehr zu erhöhen, was im Interesse aller Bürger ist.
71
Nach alledem ist auf die Fragen 1 und 2 sowie auf die Frage 4a zu antworten, dass die
Art. 2 Abs. 1 und 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 dahin auszulegen sind,
dass sie einen Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Inhaber eines von einem
anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins vorübergehend aufhält, nicht daran
hindern, die Anerkennung der Gültigkeit dieses Führerscheins wegen einer
Zuwiderhandlung seines Inhabers abzulehnen, die in diesem Gebiet nach Ausstellung
des Führerscheins stattgefunden hat und die gemäß den nationalen Rechtsvorschriften
des erstgenannten Mitgliedstaats geeignet ist, die fehlende Eignung zum Führen von
Kraftfahrzeugen herbeizuführen.
Zu den Fragen 3 und 4b
72
Mit seinen Fragen 3 und 4b, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende
Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Mitgliedstaat, der es ablehnt, die Gültigkeit eines
Führerscheins in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden
anzuerkennen, dafür zuständig ist, die Bedingungen festzulegen, die der Inhaber dieses
Führerscheins erfüllen muss, um das Recht wiederzuerlangen, in seinem Hoheitsgebiet
zu fahren.
73
Hierzu hat der Gerichtshof zwar wiederholt entschieden, wie aus Rn. 46 dieses Urteils
hervorgeht, dass es allein Aufgabe des Ausstellermitgliedstaats ist, zu prüfen, ob die vom
Unionsrecht verlangten Mindestvoraussetzungen, insbesondere die Voraussetzungen
hinsichtlich der Fahreignung, erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Hofmann, C‑419/10,
EU:C:2012:240, Rn. 45). Im Ausgangsverfahren wurde jedoch die Fahreignung nicht bei
der Ausstellung des Führerscheins, sondern infolge einer von der Inhaberin dieses
Führerscheins nach dessen Ausstellung begangenen Zuwiderhandlung in Frage
gestellt, deren Ahndung ihre Wirkungen nur im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats entfaltet
hat, in dem diese Zuwiderhandlung begangen wurde.
74
Daher ist davon auszugehen, dass es Aufgabe der Behörden des Mitgliedstaats ist, in
dessen Hoheitsgebiet die Zuwiderhandlung begangen wurde, zu ermitteln, ob der
Inhaber des von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins zum Fahren
in seinem Hoheitsgebiet wieder geeignet ist.
75
Da nämlich, wie die polnische Regierung im Wesentlichen vorträgt, die Weigerung
eines Mitgliedstaats, die Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten
Führerscheins anzuerkennen, auf nationalen Regeln beruht, die es nicht zwangsläufig in
den Rechtsvorschriften des Ausstellermitgliedstaats gibt, erscheint es schwerlich
vorstellbar, dass die Rechtsvorschriften dieses letztgenannten Staates selbst
Bedingungen vorsehen, die der Inhaber eines Führerscheins erfüllen müsste, um das
Recht wiederzuerlangen, im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu fahren.
76
Es ist jedoch hervorzuheben, dass sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs
ergibt, dass sich ein Mitgliedstaat nicht auf Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie
2006/126 berufen kann, um auf unbestimmte Zeit die Anerkennung der Gültigkeit eines
von einem anderen Mitgliedstaat erteilten Führerscheins zu versagen, wenn auf den
Inhaber dieses Führerscheins im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats eine
einschränkende Maßnahme angewandt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil Hofmann,
C‑419/10, EU:C:2012:240, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
77
Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine, der den
Schlussstein des mit der Richtlinie 2006/126 eingeführten Systems darstellt, würde
nämlich geradezu negiert, hielte man einen Mitgliedstaat für berechtigt, die Anerkennung
eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins unter Berufung auf
seine nationalen Vorschriften unbegrenzt zu verweigern (vgl. in diesem Sinne Urteil
Kapper, C‑476/01, EU:C:2004:261, Rn. 77; Beschluss Kremer, C‑340/05,
EU:C:2006:620, Rn. 30, sowie Urteile Akyüz, C‑467/10, EU:C:2012:112, Rn. 57, und
Hofmann, C‑419/10, EU:C:2012:240, Rn. 78).
78
Es ist letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, das für die Beurteilung des
Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits und die Auslegung des nationalen Rechts allein
zuständig ist, zu untersuchen, ob sich im vorliegenden Fall die Bundesrepublik
Deutschland durch die Anwendung ihrer eigenen Regeln in Wirklichkeit nicht unbegrenzt
der Anerkennung des Führerscheins von Frau Aykul entgegenstellt. In dieser Hinsicht ist
es auch seine Aufgabe, zu überprüfen, ob die von den deutschen Rechtsvorschriften
vorgesehenen Voraussetzungen dafür, dass eine Person in der Situation wie der von
Frau Aykul das Recht wiedererlangen kann, im deutschen Staatsgebiet zu fahren, den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten und insbesondere nicht die Grenzen dessen
überschreiten, was zur Erreichung des von der Richtlinie 2006/126 verfolgten Ziels, das
in der Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr besteht, angemessen und
erforderlich ist.
79
Jedoch ist der Gerichtshof, der dazu aufgerufen ist, dem nationalen Gericht
zweckdienliche Antworten zu geben, befugt, dem vorlegenden Gericht auf der Grundlage
der Akten des Ausgangsverfahrens und der vor ihm abgegebenen schriftlichen und
mündlichen Erklärungen Hinweise zu geben, die diesem Gericht eine Entscheidung
ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil Wiering, C‑347/12, EU:C:2014:300, Rn. 63 und
die dort angeführte Rechtsprechung).
80
Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass Frau Aykul, der ihre
österreichische Fahrerlaubnis im deutschen Hoheitsgebiet entzogen wurde, über die
Möglichkeit verfügt, die Berechtigung zum Führen von Kraftfahrzeugen in Deutschland
mit der österreichischen Fahrerlaubnis neu zu beantragen. Im Anhang zu seiner
Verfügung vom 17. September 2012 wies das Landratsamt Ravensburg sie nämlich
darauf hin, dass ihre Fahreignung auf der Grundlage eines medizinisch-psychologischen
Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung in
Deutschland anerkannt werden könne, und dass die Erstellung eines solchen
Gutachtens in der Regel vom Nachweis abhängig sei, dass die betreffende Person
während eines Jahres keine berauschenden Mittel konsumiere.
81
Außerdem geht aus der schriftlichen Antwort der deutschen Regierung auf eine vom
Gerichtshof gestellte Frage hervor, dass, selbst wenn ein solches medizinisch-
psychologisches Gutachten nicht vorliegt, das Recht, in Deutschland von einer in einem
anderen Mitgliedstaat erteilten Fahrerlaubnis Gebrauch zu machen, vollständig
wiedererlangt wird, wenn nach Ablauf einer bestimmten Frist die Eintragung des
Eignungsmangels aus dem in § 29 Abs. 1 genannten Fahreignungsregister getilgt
worden ist. Im Fall von Frau Aykul geht aus den von der deutschen Regierung
gemachten Angaben hervor, dass gemäß dieser Bestimmung die Tilgungsfrist
angesichts der Art der begangenen Zuwiderhandlung fünf Jahre betragen müsste. So
könne die Betroffene erneut von ihrer Fahrerlaubnis in Deutschland Gebrauch machen,
ohne ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorlegen zu müssen.
82
In Anbetracht dieser Angaben, deren Überprüfung Sache des vorlegenden Gerichts ist,
ist festzustellen, dass die deutschen Bestimmungen der Anerkennung des Führerscheins
von Frau Aykul offenbar nicht unbegrenzt entgegenstehen.
83
Außerdem erscheint die Tatsache, dass die Wiedererlangung des Rechts, in
83
Außerdem erscheint die Tatsache, dass die Wiedererlangung des Rechts, in
Deutschland ein Kraftfahrzeug zu führen, durch Frau Aykul von der Vorlage eines
medizinisch-psychologischen Gutachtens, dessen Erstellung den Nachweis der
Abstinenz von jeglichem Konsum berauschender Mittel während der Dauer eines Jahres
voraussetzt, oder vom Ablauf eines Zeitraums von fünf Jahren abhängig gemacht wird,
als ein wirksames und zum Ziel der Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr im
Verhältnis stehendes Präventionsmittel.
84
Nach alledem ist auf die Fragen 3 und 4b zu antworten, dass der Mitgliedstaat, der es
ablehnt, die Gültigkeit eines Führerscheins in einer Situation wie der im
Ausgangsverfahren in Rede stehenden anzuerkennen, dafür zuständig ist, die
Bedingungen festzulegen, die der Inhaber dieses Führerscheins erfüllen muss, um das
Recht wiederzuerlangen, in seinem Hoheitsgebiet zu fahren. Es ist Sache des
vorlegenden Gerichts, zu untersuchen, ob sich der fragliche Mitgliedstaat durch die
Anwendung seiner eigenen Regeln in Wirklichkeit nicht unbegrenzt der Anerkennung
des von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins entgegenstellt. In
dieser Hinsicht ist es auch seine Aufgabe, zu überprüfen, ob die von den
Rechtsvorschriften des erstgenannten Mitgliedstaats vorgesehenen Voraussetzungen
gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht die Grenzen dessen überschreiten,
was zur Erreichung des von der Richtlinie 2006/126 verfolgten Ziels, das in der
Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr besteht, angemessen und erforderlich
ist.
Kosten
85
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem
beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher
Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen
vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
1 . Die Art. 2 Abs. 1 und 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den
Führerschein sind dahin auszulegen, dass sie einen Mitgliedstaat, in dessen
Hoheitsgebiet sich der Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat
ausgestellten Führerscheins vorübergehend aufhält, nicht daran hindern, die
Anerkennung der Gültigkeit dieses Führerscheins wegen einer
Zuwiderhandlung seines Inhabers abzulehnen, die in diesem Gebiet nach
Ausstellung des Führerscheins stattgefunden hat und die gemäß den
nationalen Rechtsvorschriften des erstgenannten Mitgliedstaats geeignet ist,
die fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen herbeizuführen.
2 . Der Mitgliedstaat, der es ablehnt, die Gültigkeit eines Führerscheins in einer
Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anzuerkennen, ist
dafür zuständig, die Bedingungen festzulegen, die der Inhaber dieses
Führerscheins erfüllen muss, um das Recht wiederzuerlangen, in seinem
Führerscheins erfüllen muss, um das Recht wiederzuerlangen, in seinem
Hoheitsgebiet zu fahren. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu
untersuchen, ob sich der fragliche Mitgliedstaat durch die Anwendung seiner
eigenen Regeln in Wirklichkeit nicht unbegrenzt der Anerkennung des von
einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins entgegenstellt. In
dieser Hinsicht ist es auch seine Aufgabe, zu überprüfen, ob die von den
Rechtsvorschriften des erstgenannten Mitgliedstaats vorgesehenen
Voraussetzungen gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht die
Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung des von der Richtlinie
2006/126 verfolgten Ziels, das in der Verbesserung der Sicherheit im
Straßenverkehr besteht, angemessen und erforderlich ist.
Unterschriften
Verfahrenssprache: Deutsch.