Urteil des BVerwG vom 18.01.2007

BVerwG: volkszählung, nationalität, hund, unzumutbarkeit, bekanntmachung, bietender, ausreise, verwaltungsgerichtsbarkeit, sitten, beendigung

Rechtsquelle:
BVFG § 6 Abs. 2 Satz 1
Stichworte:
Bekenntnissachverhalt; Nationalitätenerklärung; Volkszählung, Verhalten bei
einer - als Bekenntnis zum deutschen Volkstum.
Leitsatz:
Die Angabe der Volkszugehörigkeit mit „deutsch“ bei Volkszählungen im Hei-
matstaat kann als Bekenntnis zum deutschen Volkstum i.S.d. § 6 Abs. 2 Satz 1
BVFG in seiner durch das Spätaussiedlerstatusgesetz vom 30. August 2001
(BGBl I S. 2266) geänderten Fassung gewertet werden.
Urteil des 5. Senats vom 18. Januar 2007 - BVerwG 5 C 9.06
I. VG Köln vom 04.07.2003 - Az.: VG 27 K 3437/00 -
II. OVG Münster vom 08.07.2005 - Az.: OVG 2 A 3876/03 –
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 5 C 9.06
OVG 2 A 3876/03
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 18. Januar 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Hund
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt, Dr. Franke,
Dr. Brunn und Prof. Dr. Berlit
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 8. Juli 2005 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Oberverwaltungsgericht für das Land
Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger, ein im Jahre 1944 in der ehemaligen Sowjetunion geborener Sohn
einer Mutter mit deutscher Volkszugehörigkeit und eines Vaters mit russischer
Volkszugehörigkeit, begehrt die Erteilung eines vertriebenenrechtlichen Auf-
nahmebescheides und die Einbeziehung seiner Ehefrau und seines Sohnes.
Seinem Begehren ist im Ergebnis übereinstimmend von der Beklagten (Be-
scheid vom 16. Juni 1998 und Widerspruchsbescheid vom 27. März 2000),
vom Verwaltungsgericht (Urteil vom 4. Juli 2003) und vom Oberverwaltungsge-
richt (Beschluss vom 8. Juli 2005) der Erfolg versagt worden.
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Die Beklagte und das Verwaltungsgericht haben hinsichtlich des im Jahre 1993
- unter Beifügung eines im Jahre 1992 ausgestellten Inlandspasses des Klä-
gers, in dem dieser mit deutscher Nationalität eingetragen ist - verlautbarten
Aufnahmeantrags entscheidungstragend darauf abgestellt, dass der Kläger in
seinem ersten Pass im Jahre 1960 mit russischer Nationalität eingetragen war,
was als Bekenntnis zur russischen Nationalität zu bewerten sei. Das Oberver-
waltungsgericht hat die Berufung des Klägers mit der Begründung zurückge-
wiesen, für die Zeit nach 1970 ermangele es eines Bekenntnisses nur zum
deutschen Volkstum i.S.v. § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG: Letztlich könne offen blei-
ben, ob der Kläger im Zusammenhang mit der 1960 erfolgten Eintragung der
russischen Nationalität im ersten Inlandspass ein Bekenntnis gegen das deut-
sche Volkstum abgegeben habe, weil ihm zu dieser Zeit ein Bekenntnis zum
deutschen Volkstum womöglich nicht zumutbar gewesen sei. Denn jedenfalls
für die Zeit nach Beendigung der Studien des Klägers, den Jahren 1970 bis
1986 - dem Jahr, in dem nach der Behauptung des Klägers der erste Versuch
unternommen worden sei, die Nationalitätseintragung im Inlandspass zu än-
dern -, fehle es an einem Bekenntnis des Klägers zum deutschen Volkstum.
Vor dem Hintergrund der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge-
richts zu § 6 BVFG rechtfertige das Vorbringen des Klägers nicht den geltend
gemachten Anspruch. Es fülle nicht das Merkmal eines Bekenntnisses auf ver-
gleichbare Weise nur zum deutschen Volkstum (§ 6 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BVFG)
aus. Zwar könne der Vortrag zum Sprechen der deutschen Sprache, Lesen
deutscher Literatur, Pflegen deutscher Bräuche, Sitten und Traditionen, zum
Feiern von christlichen Feiertagen und zu seinem Verhalten bei stattgefunde-
nen Volkszählungen als wahr unterstellt werden, aber dies rechtfertige den gel-
tend gemachten Anspruch nicht. Namentlich das Vorbringen des Klägers, sich
bei Volkszählungen immer als Deutscher eingetragen zu haben, sei allein nicht
ausreichend; zum einen sei es nicht genügend substantiiert, zum anderen han-
dele es sich allenfalls um ein punktuelles Ereignis ohne weitergehende Außen-
wirkung.
Die Revision des Klägers behauptet inhaltliche Widersprüche des angegriffe-
nen Beschlusses und leitet hieraus Verfahrensmängel sowie die Verletzung
materiellen Rechts ab. Die Beklagte verteidigt den angegriffenen Beschluss
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und hält hilfsweise eine Klärung der näheren Umstände des Verhaltens des
Klägers bei Volkszählungen für erforderlich.
II
Die Revision des Klägers ist i.S.v. § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO begründet.
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1
Nr. 1 VwGO). Mit der hierfür gegebenen Begründung hätte das Oberverwal-
tungsgericht den auf § 27 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 sowie § 6 Abs. 2 des
Bundesvertriebenengesetzes - BVFG - (i.d.F. der Bekanntmachung vom 2. Juni
1993, BGBl I S. 829, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 30. Juli 2004,
BGBl I S. 1950) gestützten Anspruch nicht ablehnen dürfen. Das klägerische
Begehren muss auch nicht von vornherein aus den Gründen der angefochte-
nen Bescheide und des verwaltungsgerichtlichen Urteils versagt werden. Weil
sich das vom Oberverwaltungsgericht gefundene Ergebnis auf der Grundlage
der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen (insbesondere zur Bedeu-
tung der Nationalitätenerklärung bei der Beantragung des ersten Passes) nicht
i.S.v. § 144 Abs. 4 VwGO aus anderen Gründen als richtig erweist, ist die Sa-
che zurückzuverweisen. Im Einzelnen:
Die Berufung des Klägers durfte nicht mit der Begründung zurückgewiesen
werden, das klägerische Vorbringen zum Verhalten bei Volkszählungen sei
rechtlich unerheblich.
Der vom Oberverwaltungsgericht entscheidungstragend vertretene rechtliche
Ansatz ist zwar als solcher nicht zu beanstanden. Nach der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts, wie sie im Urteil vom 21. Oktober 2004
- BVerwG 5 C 13.04 - (NVwZ-RR 2005, 210 <212>) zusammengefasst worden
ist, wirkt nämlich bei einer beim Eintritt der Bekenntnisfähigkeit vorliegenden
- und im Streitfall vom Oberverwaltungsgericht für möglich gehaltenen - Unzu-
mutbarkeit eines positiven Bekenntnisses zum deutschen Volkstum (§ 6 Abs. 2
Satz 5 BVFG) die Bekenntnisfiktion nur für die Dauer der Gefährdungslage. Der
Aussiedlungsbewerber muss sich folglich nach dem Ende der Gefährdungslage
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zu dem ihm zumutbar frühestmöglichen Zeitpunkt, also bei erster sich ihm bie-
tender Gelegenheit, durch ein nach außen hin erkennbares Verhalten, welches
nach allgemeinen Grundsätzen von einem entsprechenden inneren Volkstums-
bewusstsein getragen gewesen sein muss, nur zum deutschen Volkstum be-
kannt haben.
Aber die vom Oberverwaltungsgericht gegebene Begründung reicht nicht aus,
um das von dem Kläger nachzuweisende Bekenntnis nur zum deutschen
Volkstum auszuschließen: Das Oberverwaltungsgericht hat das Vorbringen des
Klägers, er habe sich regelmäßig als Deutscher zu erkennen gegeben, unter
anderem habe er sich bei Volkszählungen immer als Deutscher eingetragen,
unter Wahrunterstellung als zur alleinigen Feststellung eines Bekenntnissach-
verhalts ungenügend beurteilt; zum einen sei das Vorbringen insoweit un-
substantiiert, zum anderen handele es sich allenfalls um ein punktuelles Ereig-
nis ohne weitergehende Außenwirkung. Wie bereits im Zulassungsbeschluss
des Senats vom 24. März 2006 im Einzelnen dargelegt worden ist, konnte nach
der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 17. Oktober
1989 - BVerwG 9 C 18.89 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 62, vom 16. Februar
1993 - BVerwG 9 C 25.92 - BVerwGE 92, 70 <73 f.> und vom 13. Juni 1995
- BVerwG 9 C 392.94 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 78; Beschluss vom
10. November 1995 - BVerwG 9 B 431.95 - Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 82)
das Verhalten bei einer Volkszählung als Bekenntnis i.S.v. § 6 BVFG a.F. in
Betracht kommen.
Soweit die Beklagte in ihrer Revisionserwiderung die Auffassung vertritt, die
vorerwähnte Rechtsprechung des früher für das Vertriebenenrecht zuständigen
9. Senats des Bundesverwaltungsgerichts zu einem Verhalten bei Volkszählun-
gen und dessen Bewertung als Bekenntnissachverhalt sei vor dem Hintergrund
der zwischenzeitlichen Rechtsänderungen überholt, trifft dies nicht zu. Aller-
dings ist seit der Neufassung des § 6 Abs. 2 BVFG ein positives Bekenntnis
„nur“ zum deutschen Volkstum erforderlich, was eine Prüfung unter Einbezie-
hung des gesamten Zeitraumes vom Eintritt der Bekenntnisfähigkeit bis zur
Ausreise erfordert (vgl. Urteil vom 13. November 2003 - BVerwG 5 C 40.03 -
BVerwGE 119, 192 <194 ff.>). Gleichwohl kommt ein - wie womöglich im Streit-
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fall wiederholtes - Verhalten bei Volkszählungen auch nach neuem Recht als
rechtlich beachtliches Bekenntnis in Betracht. Zwar mag - wie das Oberverwal-
tungsgericht ausgeführt hat - eine Volkszählung ein „punktuelles Ereignis“ sein,
aber das innere Bewusstsein, das hinter einer entsprechenden äußeren Erklä-
rung der Volkszugehörigkeit stehen muss, ist gerade kein solches punktuelles
Ereignis (Urteil vom 12. November 1996 - BVerwG 9 C 8.96 - BVerwGE 102,
214 <218 f.>). Die Nationalitätenangabe „deutsch“ bei einer Volkszählung kann
nach Maßgabe der näheren Umstände der Volkszählung der Nationalitätener-
klärung bei der Passbeantragung gleichwertig sein. Dies setzt voraus, dass das
Bekenntnis zu einer bestimmten Volkszugehörigkeit den Behörden personen-
bezogen und -zugeordnet bekannt und wahrnehmbar wird, was nicht der Fall
ist, wenn die Auswertung der Volkszählung anonym erfolgt.
Hund Schmidt Dr. Franke
Dr. Brunn Prof. Dr. Berlit
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren nach §§ 47,
52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. § 5 ZPO auf 9 000 € festgesetzt (Auffangwert
5 000 € für den Kläger und je 2 000 € für die Einbeziehung der Ehefrau und des
Sohnes; vgl. Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2004, NVwZ
2004, 1327 ff., Nr. 49.2 und Beschluss vom 12. Dezember 2005 - BVerwG 5 B
54.05 -).
Hund Dr. Brunn Prof. Dr. Berlit