Urteil des BVerwG vom 30.05.2012

Abgabenordnung, Gegenleistung, Angemessenheit, Ermächtigung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 9 C 6.11
OVG 5 A 269/08
Verkündet
am 30. Mai 2012
von Förster, Hauptsekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 23. Mai 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Nolte, Domgörgen,
Dr. Christ und Prof. Dr. Korbmacher
am 30. Mai 2012 für Recht erkannt:
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sächsi-
schen Oberverwaltungsgerichts vom 25. Februar 2010
wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin wendet sich gegen ihre Heranziehung zu Abwasserbeiträgen.
Sie betreibt am Standort L./Qu. ein Spanplattenwerk. Im Vorfeld der Ansiedlung
führte sie mit den beiden Gemeinden und einem von diesen gebildeten Zweck-
verband Verhandlungen, die zu vier Verträgen führten:
Am 5. Juli 1991 schloss die Klägerin mit den Gemeinden L. und Qu. einen In-
dustrieansiedlungsvertrag. Darin erklärten die Gemeinden ihre Bereitschaft, die
planungsrechtlichen Voraussetzungen für das Ansiedlungsvorhaben zu schaf-
fen, das dafür vorgesehene Areal als Industriegelände auszuweisen und der
Klägerin „als vollständig erschlossenes Industriegelände“ zu verkaufen. Als ge-
plante Erschließungsmaßnahmen wurden u.a. „Abwasserbeseitigung/Kläran-
lage“ und „Kanalisation“ aufgeführt. Der Vertrag sah vor, die Erschließungskos-
ten teilweise aus Fördermitteln zu decken und im Übrigen durch ein Darlehen
der Klägerin vorzufinanzieren.
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Mit Vertrag vom selben Tage vereinbarten die Klägerin und die Gemeinden die
Veräußerung einer erschlossenen Industriefläche von ca. 350 000 m² zum Preis
von 10 DM/m² an die Klägerin nach Maßgabe eines noch abzuschließenden
Kaufvertrags.
Am 11. März 1992 schloss die Klägerin mit den Gemeinden und dem Zweck-
verband einen Vertrag zur Fortschreibung des Industrieansiedlungsvertrags.
Darin wurden die von den Gemeinden und dem Verband geschuldeten Er-
schließungsleistungen aufgeführt. Auch zur Finanzierung traf der Vertrag eine
konkretisierende Regelung; die Klägerin sollte danach den Gemeinden ein zins-
loses Darlehen für den nicht durch Fördermittel gedeckten Anteil der Erschlie-
ßungskosten für das gesamte geplante Industrie- und Gewerbegebiet zur Ver-
fügung stellen; das Darlehen sollte durch Verrechnung insbesondere mit der
jährlich anfallenden Gewerbesteuer getilgt werden.
Ebenfalls am 11. März 1992 schlossen die Klägerin und die beiden Gemeinden
auf der Grundlage des Fortschreibungsvertrags einen notariell beurkundeten
Kaufvertrag über ein Industriegelände mit einer Gesamtfläche von ca. 36,5 ha.
Als Kaufpreis wurde ein Betrag von 10 DM/m² vereinbart, der die „Erschlie-
ßungskosten für die im Fortschreibungsvertrag genannten Erschließungsmaß-
nahmen“ umfassen sollte.
Zwei Bescheide vom 18. Juli 1997, mit denen der damalige Abwasserzweck-
verband S./K. die Klägerin nach Errichtung des Spanplattenwerks erstmals zur
Zahlung von Abwasserbeiträgen heranzog, wurden auf deren Klagen hin vom
Verwaltungsgericht Dresden wegen Mängeln bei der Verbandsgründung aufge-
hoben. Nachdem der Beklagte im Jahr 2003 im Wege der Sicherheitsneugrün-
dung errichtet worden war, setzte er auf der Grundlage seiner Abwassersat-
zung vom 20. November 2003 mit Bescheid vom 16. Dezember 2003 einen
Abwasserbeitrag in Höhe von 50 334,39 € für das Flurstück 488 der Gemar-
kung L. fest. Die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren von der Klägerin da-
gegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Dresden durch Urteil vom
20. September 2005 mit der Begründung abgewiesen, dass in den zwischen
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den Beteiligten geschlossenen Verträgen lediglich die innere Erschließung ge-
regelt worden sei.
In der mündlichen Verhandlung über die Berufung der Klägerin gegen dieses
Urteil hat der Beklagte den angefochtenen Bescheid dahin geändert, dass der
Beitrag anstatt für das Flurstück 488 für das Grundstück lfd. Nr. 3 des Be-
standsverzeichnisses des Blatts 87 des Grundbuchs von L. erhoben werde; die
Änderung ist mit der Maßgabe erfolgt, dass im Wege der Teilflächenabgren-
zung für die Teilflächen des Grundstücks mit den Flurstücksnummern 176/2
und 487 kein Beitrag erhoben werde. Die Klägerin hat die Änderung in ihr Kla-
gebegehren einbezogen.
Das Oberverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 25. Februar 2010 das Urteil des
Verwaltungsgerichts geändert und den angefochtenen Bescheid des Beklagten
aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Eine sachli-
che Beitragspflicht der Klägerin sei nicht entstanden. Vor dem Inkrafttreten der
Abwassersatzung vom 20. November 2003 habe kein gültiges Beitragssat-
zungsrecht bestanden. Für die Zeit danach scheitere die sachliche Beitrags-
pflicht daran, dass die 1991/92 geschlossenen Verträge einen Abwasserbei-
tragsvorausverzicht enthielten. Ihnen zufolge würde nicht nur die innere, son-
dern ebenso die äußere Erschließung durch den Grundstückskaufpreis abge-
golten. Das gelte namentlich für die abwassertechnischen Maßnahmen, die die
Herstellung der Abwasserbeseitigungseinrichtung insgesamt umfassten. Die
vertragliche Regelung über die Erschließungskosten sei als Beitragsvorausver-
zicht zu werten. Dieser Verzicht sei nach § 56 Abs. 1 VwVfG in Verbindung mit
Art. 8 des Einigungsvertrags wirksam. Die Gemeinden hätten für ihren Verzicht
eine angemessene Gegenleistung erhalten. Der Auffassung des Bayerischen
Verwaltungsgerichtshofs, dass im Falle eines Vorausverzichts die Angemes-
senheit der Gegenleistung nur dann beurteilt werden könne, wenn bei Vertrags-
schluss entsprechende Satzungen bereits vorhanden seien oder wenn wenigs-
tens aufgrund durchgeführter Kalkulationen die auf den Beitragspflichtigen nach
einer künftigen Satzung zukommenden Lasten schon feststünden, könne für die
Situation in den neuen Bundesländern unmittelbar nach dem Beitritt nicht ge-
folgt werden. Die Besonderheiten dieser Situation - dringliches Bemühen um
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die Neuansiedlung von Industriebetrieben zur Kompensation des Wegfalls der
vorhandenen Industrie, flächendeckendes Fehlen von Beitragssatzungen -
rechtfertigten es, jedenfalls für den maßgeblichen Zeitraum der Jahre 1991 und
1992 die Anforderungen an die Beurteilung der Angemessenheit der Gegenleis-
tung den vorgefundenen Umständen anzupassen. Die Gegenleistung sei hier
angemessen, obgleich der die Finanzierung der Abwasserbeseitigungseinrich-
tung betreffende Anteil des Kaufpreises wohl nicht den voraussichtlichen Ab-
wasserbeitrag abbilde. Bestandteil der Gegenleistung sei nämlich auch die Ver-
pflichtung der Klägerin, in den Gemeinden L. und Qu. ein modernes Spanplat-
tenwerk mit einer Gesamtinvestition von 240 Mio. DM zu errichten, 270 Arbeits-
plätze zu schaffen und den Firmensitz in Qu. einzurichten. Damit seien für die
Gemeinden bedeutende finanzielle Auswirkungen verbunden, die die voraus-
sichtlichen Abwasserbeiträge mit hoher Wahrscheinlichkeit überstiegen.
Der Beklagte trägt zur Begründung seiner Revision vor: Das Berufungsgericht
sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Es sei nämlich von der Unwirksam-
keit des rückwirkenden Verweises auf die Abgabenordnung im Änderungsge-
setz zum sächsischen Vorschaltgesetz Kommunalfinanzen ausgegangen, ohne
seiner Pflicht zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht oder den Sächsi-
schen Verfassungsgerichtshof zu genügen. Das Berufungsurteil gelte außer-
dem als nicht mit Gründen versehen. Es lägen besondere Umstände vor, die in
Verbindung mit der zwischen der Niederlegung des Urteilstenors und der Zu-
stellung des schriftlich begründeten Urteils verstrichenen Frist von knapp fünf
Monaten den Schluss zuließen, dass die Entscheidungsgründe nicht mit den
Erwägungen übereinstimmten, die das Berufungsgericht zu seiner Entschei-
dung bewogen hätten; zum einen sei nach Aussage des Senatsvorsitzenden
und Berichterstatters der auf einem privaten Computer fast vollständig verfasste
Urteilstext verlorengegangen und habe neu abgefasst werden müssen, zum
anderen seien die Entscheidungsgründe wegen fehlender Ausführungen zu
dem Konkurrenzverhältnis zwischen § 56 VwVfG und dem Verweis im Vor-
schaltgesetz Kommunalfinanzen auf die Abgabenordnung inhaltlich lückenhaft.
Auch in sachlicher Hinsicht verstoße das Berufungsurteil gegen Bundesrecht.
Das Oberverwaltungsgericht habe verkannt, dass § 56 Abs. 1 VwVfG wegen
der Verweisung im geänderten Vorschaltgesetz Kommunalfinanzen auf die Ab-
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gabenordnung auf den Streitfall keine Anwendung finde. Außerdem habe das
Gericht mit seinem Verständnis der vertraglichen Erklärungen als Beitragsvo-
rausverzicht gegen die nach § 62 Satz 2 VwVfG in Verbindung mit §§ 133, 157
BGB geltenden Auslegungsgrundsätze verstoßen. Ein Verzicht scheide aus,
weil die Verträge hinsichtlich der Abwasserbeseitigung Regelungen enthielten,
die sich nur auf die Kostentragung für Erschließungsmaßnahmen innerhalb des
Bebauungsplangebiets bezögen. Die Annahme des Gerichts, dem gemeindli-
chen Beitragsvorausverzicht stehe eine angemessene Gegenleistung im Sinne
des § 56 Abs. 1 Satz 2 VwVfG gegenüber, verstoße ebenfalls gegen Bundes-
recht. Aufgrund des Fehlens einer Beitragssatzung und einer Globalkalkulation
für die Abwasseranschlussbeiträge habe keine taugliche Grundlage bestanden,
um in den Verträgen eine angemessene Gegenleistung für den Verzicht festzu-
legen. Ohne diese Grundlage handele es sich um einen Verzicht „ins Blaue hi-
nein“. Die besonderen Umstände in der Nachwendezeit rechtfertigten es nicht,
grundlegende rechtsstaatliche Gebote zu umgehen, sondern ließen deren strik-
te Einhaltung im Gegenteil als besonders dringlich erscheinen. Ferner verstoße
das Berufungsurteil gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Das Oberverwaltungsgericht sei
zu Unrecht davon ausgegangen, dass der angenommene Beitragsvorausver-
zicht in § 56 Abs. 1 VwVfG eine rechtliche Grundlage finde. Das Urteil stelle
sich auch nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig dar. Namentlich
enthalte § 246a Abs. 1 Nr. 11 BauGB 1990 in Verbindung mit § 54 Abs. 2
BauZVO keine Ermächtigung, im Rahmen eines Folgekostenvertrags einen
gemeindlichen Beitragsvorausverzicht zu vereinbaren.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom
25. Februar 2010 zu ändern und die Berufung der Klägerin
gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom
20. September 2005 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
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Sie verteidigt das angefochtene Urteil, namentlich die Erwägungen, die das Be-
rufungsgericht zur Annahme eines wirksamen Beitragsvorausverzichts be-
stimmt haben.
II
Die Revision ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil verletzt zwar Bundes-
recht (§ 137 Abs. 1 VwGO), erweist sich aber im Ergebnis als richtig (§ 144
Abs. 4 VwGO).
1. Die Verfahrensrügen greifen nicht durch.
a) Das Berufungsgericht ist nicht aufgrund willkürlicher Missachtung der Vorla-
gepflicht nach Art. 100 Abs. 1 GG vorschriftswidrig besetzt gewesen.
Verstößt ein Gericht gegen eine Pflicht zur Vorlage an ein anderes Gericht, das
über eine bestimmte Rechtsfrage zu entscheiden hat, so ist es im Sinne des
§ 138 Nr. 1 VwGO nicht vorschriftsmäßig besetzt, sofern es seiner Vorlage-
pflicht willkürlich nicht nachkommt (Beschluss vom 17. Februar 1984 - BVerwG
4 B 191.83 - BVerwGE 69, 30 <36>; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 31. Mai
1990 - 2 BvL 12/88 u.a. - BVerfGE 82, 159 <194 f.>). Ein solcher Verstoß ist zu
verneinen.
Die Revision macht geltend, das Berufungsgericht habe seine Pflicht missach-
tet, die als verfassungswidrig erkannte rückwirkende Regelung des Gesetzes
zur Änderung des Vorschaltgesetzes Kommunalfinanzen vom 24. März 1992
(SächsGVBl S. 105) dem Bundesverfassungsgericht oder dem Sächsischen
Verfassungsgerichtshof zur Entscheidung vorzulegen. Das Vorschaltgesetz
Kommunalfinanzen vom 19. Dezember 1990 (SächsGVBl S. 18) habe i.d.F. des
Änderungsgesetzes rückwirkend ab 1. Januar 1991 die Abgabenordnung auf
Verfahren über Kommunalabgaben für anwendbar erklärt mit der Folge, dass
das Verwaltungsverfahrensgesetz keine Anwendung gefunden habe. Wenn das
Berufungsgericht in seinem Urteil gleichwohl die Bestimmungen des Verwal-
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tungsverfahrensgesetzes über den öffentlich-rechtlichen Vertrag angewandt
habe, obgleich es zuvor in der mündlichen Verhandlung die Frage der Verfas-
sungswidrigkeit der rückwirkenden Verweisung auf die Abgabenordnung aus-
drücklich thematisiert habe, lasse das nur den Schluss zu, dass es sich be-
wusst über seine Vorlagepflicht hinweggesetzt habe. Diese Schlussfolgerung
erweist sich als nicht tragfähig. Selbst wenn das Berufungsgericht in der münd-
lichen Verhandlung Zweifel an der Verfassungswidrigkeit der rückwirkenden
Verweisung auf die Abgabenordnung geäußert haben sollte, besagt dies nicht,
dass sich diese Zweifel zur Überzeugung der Verfassungswidrigkeit verdichtet
haben und das Gericht sich sehenden Auges über eine als notwendig erachtete
Vorlagepflicht hinwegsetzen wollte.
Unabhängig davon lässt sich - selbst abgesehen von der Möglichkeit, vor Ver-
kündung des Änderungsgesetzes zum Vorschaltgesetz geschlossene Verträge
im Wege verfassungskonformer Auslegung von der Anwendung der Verwei-
sungsnorm auszunehmen - schon nicht feststellen, dass das Berufungsgericht
überhaupt vorlagepflichtig war. Die Anwendung der Regelungen des Verwal-
tungsverfahrensgesetzes Bund über den öffentlich-rechtlichen Vertrag steht
nämlich nicht in einem zwingenden Widerspruch zu der Anordnung des Vor-
schaltgesetzes Kommunalfinanzen geänderter Fassung, die Bestimmungen der
Abgabenordnung auf Kommunalabgaben sinngemäß anzuwenden.
Das Verwaltungsverfahrensgesetz Bund, an dem das angefochtene Urteil die in
den Jahren 1991 und 1992 geschlossenen Verträge gemessen hat, galt gemäß
Art. 8 in Verbindung mit Anlage I Kapitel II Sachgebiet B Abschnitt III Nr. 1
Buchst. a) des Einigungsvertrags (EV) im Beitrittsgebiet für die Zeit bis zum
31. Dezember 1992. Nach der Regelung im Einigungsvertrag erstreckte sich die
Anwendbarkeit des Verwaltungsverfahrensgesetzes in Sachsen auch auf die
Ausführung von Landesrecht, da das Vorläufige Verwaltungsverfahrensgesetz
des Freistaats Sachsen vom 21. Januar 1993 (SächsGVBl S. 74) erst nach dem
genannten Stichtag in Kraft trat. Allerdings weist die Revision zutreffend darauf
hin, dass Art. 1 des Änderungsgesetzes zum Vorschaltgesetz Kommunalfinan-
zen in § 4 Abs. 2 des Vorschaltgesetzes als Satz 3 die Regelung eingefügt hat,
dass auf Kommunalabgaben „die Bestimmungen der Abgabenordnung in der
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jeweils geltenden Fassung sinngemäß anzuwenden (sind), soweit sie sich nicht
auf bestimmte Steuern beziehen und soweit dieses Gesetz oder andere Geset-
ze keine besonderen Vorschriften enthalten“. Art. 2 des Änderungsgesetzes hat
der Neuregelung Rückwirkung ab dem 1. Januar 1991 beigemessen. Zu den in
Bezug genommenen, durch die Verweisung in das Landesrecht inkorporierten
Bestimmungen zählen namentlich auch Vorschriften über das Verwaltungsver-
fahren. Da die Erstreckung des Anwendungsbereichs des Verwaltungsverfah-
rensgesetzes Bund auf die Ausführung von Landesrecht für eine Übergangszeit
lediglich auf einer Notkompetenz des Bundes kraft Natur der Sache beruhte
(P. Stelkens/Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2001, Einl.
Rn. 122), stand das Verwaltungsverfahrensgesetz Bund einer landesrechtlichen
Teilregelung des Verwaltungsverfahrens durch die Bezugnahme im Vorschalt-
gesetz Kommunalfinanzen geänderter Fassung auf die Abgabenordnung nicht
im Wege. Daraus folgt jedoch nicht zwingend, dass der Rückgriff auf die
§§ 54 ff. VwVfG Bund versperrt sein sollte. Die Abgabenordnung erwähnt den
öffentlich-rechtlichen Vertrag nur in ihrem § 78 Nr. 3; danach sind Beteiligte des
Verwaltungsverfahrens auch diejenigen, mit denen die Finanzbehörde einen
öffentlich-rechtlichen Vertrag schließen will oder geschlossen hat. Weiterge-
hende Regelungen, etwa zu den Anwendungs- und Wirksamkeitsvorausset-
zungen des öffentlich-rechtlichen Vertrags, enthält die Abgabenordnung hin-
gegen nicht. Angesichts dessen liegt es nicht fern, die Regelung des Verwal-
tungsverfahrens in der ohnehin nur für sinngemäß anwendbar erklärten Abga-
benordnung insoweit als lückenhaft zu bewerten und diese Lücke durch An-
wendung der §§ 54 ff. VwVfG Bund - sei es nach Maßgabe des Anwendungs-
vorbehalts in § 4 Abs. 2 Satz 3 des Vorschaltgesetzes Kommunalfinanzen ge-
änderter Fassung zugunsten „besonderer Vorschriften“, sei es im Wege der
Analogie - zu schließen. Dies gilt umso mehr, als es verbreiteter Auffassung in
Rechtsprechung und Schrifttum entspricht, dass auch dort, wo landesrechtliche
Vorschriften für das Verwaltungsverfahren über Kommunalabgaben auf die Ab-
gabenordnung verweisen, die Regelungen der Verwaltungsverfahrensgesetze
über den öffentlich-rechtlichen Vertrag unmittelbar oder entsprechend zur An-
wendung kommen (vgl. VGH München, Urteil vom 24. Oktober 1986 - 23 B
84 A.2812 - BayVBl 1987, 335 <337>; OVG Münster, Urteil vom 19. März 2002
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- 15 A 4043/00 - NVwZ-RR 2003, 147 <148>; Allesch, DÖV 1988, 103 f.; der-
selbe, DÖV 1990, 270 <275 ff.>).
Ausgehend von dieser Rechtsauffassung blieb Raum für die Anwendung der
§§ 54 ff. VwVfG Bund, ohne die Gültigkeit der Verweisung im Vorschaltgesetz
Kommunalfinanzen geänderter Fassung auf die Abgabenordnung verneinen zu
müssen und aufgrund dessen einer Vorlagepflicht zu unterliegen. Ob die ge-
nannte Auffassung tatsächlich zutrifft, ist anhand des § 4 Abs. 2 Satz 3 Vor-
schaltgesetz Kommunalfinanzen geänderter Fassung in Verbindung mit der im
Rahmen der Inbezugnahme als Landesrecht geltenden Abgabenordnung zu
beurteilen (vgl. zu deren Geltung als Landesrecht Urteil vom 21. Oktober 1983
- BVerwG 8 C 174.81 - Buchholz 401.9 Beiträge Nr. 23 S. 18 f.) und entzieht
sich damit revisionsgerichtlicher Überprüfung (§ 137 Abs. 1 VwGO). Lässt sich
mithin schon die Grundannahme der Revision, es habe eine Vorlagepflicht be-
standen, nicht bestätigen, so muss der Besetzungsrüge auch aus diesem
Grund der Erfolg versagt bleiben.
b) Ebenso wenig ist die Rüge berechtigt, das angefochtene Urteil sei nicht mit
Gründen versehen (§ 138 Nr. 6 VwGO), weil die schriftlich niedergelegten Ur-
teilsgründe die für die Entscheidung maßgeblichen Gründe nicht zutreffend
wiedergäben.
Ein bei seiner Verkündung noch nicht vollständig abgefasstes Urteil gilt im Sin-
ne des § 138 Nr. 6 VwGO als nicht mit Gründen versehen, wenn Tatbestand
und Entscheidungsgründe innerhalb einer - in Anlehnung an die in §§ 517
und 548 ZPO bestimmten - Frist von fünf Monaten nach Verkündung nicht un-
terschrieben der Geschäftsstelle übergeben worden sind. Der zeitliche Zusam-
menhang zwischen der Beratung und Verkündung des Urteils einerseits und
der Übergabe der schriftlichen Urteilsgründe andererseits ist dann so weit gelo-
ckert, dass in Anbetracht des nachlassenden Erinnerungsvermögens der Rich-
ter die Übereinstimmung zwischen den in das Urteil aufgenommenen und den
für die richterliche Überzeugung tatsächlich leitend gewordenen Gründen nicht
mehr gewährleistet erscheint (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe
des Bundes, Beschluss vom 27. April 1993 - GmS-OGB 1/92 - BVerwGE 92,
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367 <375 f.>; BVerwG, Beschluss vom 26. April 1999 - BVerwG 8 B 67.99 -
Buchholz 428 § 3 VermG Nr. 30 S. 6 f.). Entsprechendes gilt, wenn das Urteil
nicht verkündet, sondern zugestellt worden ist und zwischen Niederlegung des
Tenors und Übergabe des vollständigen Urteils an die Geschäftsstelle ein Zeit-
raum von mehr als fünf Monaten liegt (Beschluss vom 26. April 1999 a.a.O.).
Wird die Frist von fünf Monaten gewahrt, so kann ein Urteil gleichwohl als nicht
mit Gründen versehen gelten. Dies trifft zu, wenn zu dem Zeitablauf als sol-
chem besondere Umstände hinzutreten, die bereits wegen des Zeitablaufs be-
stehende Zweifel zu der Annahme verdichten, dass der gesetzlich geforderte
Zusammenhang zwischen der Urteilsfindung und den schriftlich niedergelegten
Gründen nicht mehr gewahrt ist (Beschluss vom 9. August 2004 - BVerwG 7 B
20.04 - juris Rn. 17; vgl. auch Beschluss vom 25. April 2001 - BVerwG 4 B
31.01 - Buchholz 310 § 117 VwGO Nr. 47 S. 3).
Die Maximalfrist von fünf Monaten ist - wie auch die Revision einräumt - ge-
wahrt worden; die Urteilsformel wurde am 25. Februar 2010 der Geschäftsstelle
des Berufungsgerichts übergeben, das vollständige Urteil gelangte ausweislich
der Zuleitungsverfügung des Senatsvorsitzenden spätestens am 30. Juni 2010
zur Geschäftsstelle. Entgegen der von der Revision vertretenen Auffassung
fehlen aber auch besondere Umstände, die in Verbindung mit dem Zeitablauf
die Annahme rechtfertigen, die schriftlichen Urteilsgründe und die für die richter-
liche Überzeugung tatsächlich leitend gewesenen Gründe fielen auseinander.
Der Verlust der Erstfassung des Urteilstextes auf dem Privatcomputer des Vor-
sitzenden und Berichterstatters Mitte Mai 2010 stellt keinen solchen Umstand
dar. Im Gegenteil liefert dieser Vorfall eine nachvollziehbare Erklärung für die
Dauer der Urteilsabsetzung und belegt, dass der Verfasser des Urteilstextes
sich in der Zwischenzeit mit dem Fall gedanklich befasst und dadurch die Erin-
nerung an die der Entscheidung zugrunde liegenden Erwägungen wach gehal-
ten hat. Dass die Entscheidungsgründe bereits einmal schriftlich fixiert waren,
bietet eine zusätzliche Gewähr für die Übereinstimmung der später abgefassten
mit den für die Entscheidung maßgeblich gewordenen Gründen. Aus der Zeit-
spanne von ca. vier Wochen zwischen dem Verlust des ersten Computertextes
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und der Übergabe der späteren Urteilsfassung an die Geschäftsstelle ergibt
sich nichts anderes, zumal der Urteilsverfasser nach eigenem Bekunden zwi-
schenzeitlich noch Urlaub hatte.
Die Entscheidungsgründe bieten ebenfalls keine Anhaltspunkte für die Annah-
me, sie würden ihrer Funktion, die das Beratungsergebnis tragenden Gründe zu
dokumentieren, nicht gerecht. In ihnen kommt eine geordnete Gedankenfüh-
rung zum Ausdruck, die den zu beurteilenden Lebenssachverhalt im Einzelnen
erfasst, das Vorbringen der Beteiligten würdigt und sich mit den als zentral er-
achteten rechtlichen Problemen des Falles auseinandersetzt. Zwar bleibt un-
erörtert, aufgrund welcher Erwägungen das Berufungsgericht die Regelungen
des Verwaltungsverfahrensgesetzes über den öffentlich-rechtlichen Vertrag für
anwendbar gehalten und welche Bedeutung es in diesem Zusammenhang der
Bezugnahme im Vorschaltgesetz Kommunalfinanzen geänderter Fassung auf
die Abgabenordnung beigemessen hat. Einer solchen singulären Argumenta-
tionslücke ist aber kein so großes Gewicht beizumessen, dass sie in Verbin-
dung mit der zeitlichen Komponente den Schluss zuließe, der gesetzlich gefor-
derte Zusammenhang zwischen den für die Überzeugungsbildung wesentlichen
Erwägungen und den schriftlich niedergelegten Gründen sei nicht mehr ge-
wahrt.
2. In materieller Hinsicht verstößt das Urteil gegen Bundesrecht.
a) Ein Verstoß gegen Bundesrecht durch fehlerhafte Bestimmung des Anwen-
dungsbereichs des Verwaltungsverfahrensgesetzes Bund und insbesondere
des § 56 VwVfG Bund ist allerdings zu verneinen. Die Revision macht hierzu
geltend, das Berufungsgericht habe verkannt, dass die Geltung des Verwal-
tungsverfahrensgesetzes Bund für das Kommunalabgabenrecht in Sachsen
durch die Verweisung in § 4 Abs. 2 Satz 3 Vorschaltgesetz Kommunalfinanzen
geänderter Fassung auf die Abgabenordnung als speziellere Regelung rückwir-
kend ab dem 1. Januar 1991 beseitigt worden sei. Damit habe das Gericht nicht
nur gegen die landesrechtliche Verweisungsnorm, sondern auch gegen die
bundesrechtliche Vorschrift des Art. 8 in Verbindung mit Anlage I Kapitel II
Sachgebiet B Abschnitt III Nr. 1 EV verstoßen. Diese Argumentation geht fehl.
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Wie bereits zur Besetzungsrüge ausgeführt wurde, ist anhand der landesrecht-
lichen Bestimmung des § 4 Abs. 2 Satz 3 Vorschaltgesetz Kommunalfinanzen
geänderter Fassung in Verbindung mit der im Rahmen der Inbezugnahme als
Landesrecht geltenden Abgabenordnung zu beurteilen, ob und inwieweit für
eine Anwendung der §§ 54 ff. VwVfG Bund Raum blieb. Die von der Revision
gegen die Anwendung des Verwaltungsverfahrensgesetzes Bund erhobenen
Einwände erschöpfen sich sachlich in dem Vorwurf, die Verweisungsnorm im
Vorschaltgesetz Kommunalfinanzen geänderter Fassung und die in Bezug ge-
nommenen Regelungen der Abgabenordnung missachtet zu haben; sie betref-
fen damit ausschließlich nicht revisible landesrechtliche Maßstabsnormen und
nicht die revisiblen Regelungen des Einigungsvertrags über die grundsätzliche
Anwendbarkeit des Verwaltungsverfahrensgesetzes Bund auf die Ausführung
von Landesrecht in den neuen Bundesländern.
b) Der Revision kann nicht gefolgt werden, soweit sie einen Verstoß gegen
Bundesrecht bei der Vertragsauslegung rügt. Bei der Ermittlung des gewollten
Inhalts von Verträgen handelt es sich um Tatsachenfeststellungen, die das Re-
visionsgericht nach Maßgabe von § 137 Abs. 2 VwGO binden. Diese Bindung
tritt - vorbehaltlich erfolgreicher Verfahrensrügen - nur dann nicht ein, wenn die
vom Tatsachengericht vorgenommene Auslegung einen Rechtsirrtum oder ei-
nen Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze, Denkgesetze oder gesetzliche
Auslegungsregeln (§§ 133, 157 BGB) erkennen lässt (Urteile vom 19. Februar
1982 - BVerwG 8 C 27.81 - BVerwGE 65, 61 <69> und vom 1. Dezember 1989
- BVerwG 8 C 17.87 - BVerwGE 84, 157 <162>).
Einen Verstoß gegen diese Vorgaben hat die Revision nicht aufzuzeigen ver-
mocht. Sie beruft sich für ihr Verständnis der vertraglichen Erschließungsrege-
lungen im Wesentlichen auf den Wortlaut des Fortschreibungsvertrags vom
11. März 1992, aus dem sich ergebe, dass bezogen auf die Grundstücksent-
wässerung nur Maßnahmen der beitragsrechtlich irrelevanten inneren Erschlie-
ßung vertraglich geregelt werden sollten. Das Berufungsgericht hat bei seiner
abweichenden Auslegung, wonach neben der inneren auch die äußere (grund-
stücksexterne) Erschließung Gegenstand der vertraglichen Regelung geworden
sei, den Wortlaut des vorerwähnten Vertragspassus jedoch keineswegs außer
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Acht gelassen, sondern ausdrücklich gewürdigt. Dass das Gericht sich darauf
nicht beschränkt, sondern die Regelung des Kanalanschlusses in einem Ge-
samtzusammenhang mit den Regelungen anderer Erschließungsleistungen
gesehen und überdies sein Verständnis der einschlägigen vertraglichen Rege-
lung an dem aus der Gesamtheit der Verträge abgeleiteten Willen der Vertrags-
partner, bebaubare Grundstücke zu verkaufen bzw. zu erwerben, orientiert hat,
widerspricht keinen Auslegungsgrundsätzen oder anderen Vorgaben für die
Ermittlung des Sinngehalts der vertraglichen Vereinbarungen. Im Gegenteil wird
darin das Bemühen erkennbar, nicht beim Wortlaut stehen zu bleiben, sondern
den wirklichen Willen der Vertragspartner zu erforschen (§ 133 BGB). Das ge-
wonnene Auslegungsergebnis mag nicht zwingend sein; da sich das Beru-
fungsgericht mit seiner Deutung nach den vorstehenden Ausführungen im
Rahmen der rechtlichen Vorgaben gehalten hat, kommt es darauf indes für die
revisionsrechtliche Beurteilung nicht an.
c) Das angefochtene Urteil verletzt Bundesrecht aber dadurch, dass es in § 56
VwVfG Bund eine gesetzliche Ermächtigung gesehen hat, durch Vertrag einen
Beitragsvorausverzicht zu regeln.
Im Ansatz zutreffend geht das Urteil davon aus, dass der dem Vertragswerk
entnommene Beitragsvorausverzicht als eine von den einschlägigen abgaben-
rechtlichen Vorschriften abweichende Regelung einer gesetzlichen Ermächti-
gung bedurfte. Dass bei Abschluss der Verträge noch keine Beitragssatzung
vorhanden war, stellt eine Abweichung nicht in Frage, denn der Vorausverzicht
richtete sich gerade darauf, einen Beitragsanspruch aufgrund einer künftig zu
erlassenden Beitragssatzung auszuschließen. Das Erfordernis gesetzlicher Er-
mächtigung folgt aus § 54 Satz 1 VwVfG Bund in Verbindung mit dem Gesetz-
mäßigkeitsprinzip. § 54 Satz 1 VwVfG Bund erklärt öffentlich-rechtliche Verträ-
ge unter der Voraussetzung für zulässig, dass Rechtsvorschriften nicht ent-
gegenstehen. Insoweit ist zu beachten, dass öffentliche Abgaben grundsätzlich
nur nach Maßgabe der Gesetze erhoben werden dürfen. Diese strikte Bindung
an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) schließt aus, dass Abgabengläubiger und
Abgabenschuldner von den gesetzlichen Regelungen abweichende Vereinba-
rungen treffen, sofern nicht das Gesetz dies ausnahmsweise gestattet. Der
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Grundsatz, dass die Abgabenerhebung nur nach Maßgabe der Gesetze und
nicht abweichend von den gesetzlichen Regelungen aufgrund von Vereinba-
rungen zwischen Abgabengläubiger und Abgabenschuldner erfolgen darf, ist für
einen Rechtsstaat so fundamental, dass seine Verletzung als Verstoß gegen
ein gesetzliches Verbot zu betrachten ist, das nach § 59 Abs. 1 VwVfG Bund in
Verbindung mit § 134 BGB die Nichtigkeit des Vertrags zur Folge hat (vgl. Urtei-
le vom 27. Januar 1982 - BVerwG 8 C 24.81 - BVerwGE 64, 361 <363 f.> und
vom 23. August 1991 - BVerwG 8 C 61.90 - BVerwGE 89, 7 <11 f.>).
Mit Bundesrecht unvereinbar ist jedoch die Annahme des Berufungsgerichts,
§ 56 VwVfG Bund ermächtige zur Vereinbarung eines Beitragsvorausverzichts.
§ 56 VwVfG Bund erkennt die Zulässigkeit des Austauschvertrags als Sonder-
form des subordinationsrechtlichen Vertrags im Sinne des § 54 Satz 2 VwVfG
Bund an und stellt Voraussetzungen für die Wirksamkeit dieser Vertragsform
auf. Bei diesen Voraussetzungen handelt es sich um generelle, unabhängig
vom jeweiligen Sachgebiet der vertraglichen Vereinbarung geltende Vorgaben,
die sachgebietsspezifische gesetzliche Verbote nicht ausschließen und auch
nicht zur Abweichung von solchen Verboten ermächtigen. Das belegt auch § 59
Abs. 1 VwVfG Bund mit seinem Verweis auf § 134 BGB. Eine gesetzliche Er-
mächtigung zur Abweichung von dem aus Art. 20 Abs. 3 GG ableitbaren ge-
setzlichen Verbot gesetzesinkongruenter Abgabenverträge kann demgemäß
nicht aus § 56 VwVfG Bund, sondern nur aus den Vorschriften des jeweils ein-
schlägigen Fachrechts resultieren (vgl. Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG,
7. Aufl. 2008, § 54 Rn. 124).
3. Die Revision kann gleichwohl keinen Erfolg haben, weil das Berufungsurteil
sich aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO). Eine den
vertraglichen Beitragsvorausverzicht deckende Ermächtigung ergibt sich aus
§ 246a Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 BauGB i.d.F. von Art. 8 in Verbindung mit Anlage I
Kapitel XIV Abschnitt II Nr. 1 EV - BauGB 1990 - in Verbindung mit § 54 Abs. 2
der Bauplanungs- und Zulassungsverordnung der DDR - BauZVO - vom
20. Juni 1990 (GBl der DDR I S. 739). Diese Regelung findet auf die den Ver-
trägen entnommenen Vereinbarungen über die Kosten der Abwasserbeseiti-
gungseinrichtung und die Kanalanschlussbeiträge Anwendung (a). Die vertrag-
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lichen Vereinbarungen genügen den Anforderungen, die § 54 Abs. 2 BauZVO
an ihre inhaltliche Ausgestaltung stellt (b). Nachträgliche Entwicklungen haben
die Wirksamkeit des Beitragsvorausverzichts nicht berührt (c).
a) Die vertraglichen Vereinbarungen über die Kostentragung für die Abwasser-
beseitigungseinrichtung und den Beitragsvorausverzicht fallen unter die Rege-
lung des § 54 Abs. 2 BauZVO.
aa) Die genannte Vorschrift war bei Vertragsschluss Bestandteil des im Frei-
staat Sachsen geltenden Bundesrechts. Sie ist zwar als DDR-Recht erlassen
worden, um den Bedürfnissen der zum 1. Juni 1990 eingeführten Währungs-
und Wirtschaftsunion Rechnung zu tragen (vgl. Krautzberger, in: Ernst/Zin-
kahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Bd. I, Stand Januar 2012, § 11 Rn. 10),
als solches aber aufgrund der Überleitung von Bundesrecht außer Kraft getre-
ten. Art. 8 EV leitete das Baugesetzbuch in die neuen Bundesländer über; dies
geschah gemäß § 246a Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 BauGB 1990 mit der Maßgabe,
dass anstelle von § 124 BauGB damaliger Fassung § 54 BauZVO anzuwenden
war, der in seinem Absatz 2 die vertragliche Übernahme der Kosten städtebau-
licher Maßnahmen durch den Bauwilligen regelte.
bb) § 54 Abs. 2 BauZVO ist die Ermächtigung zu entnehmen, vom Abgaben-
recht abweichende vertragliche Regelungen über die Kosten von Erschlie-
ßungsmaßnahmen zu treffen. Nach § 54 Abs. 2 Satz 1 BauZVO können sich
Bauwillige gegenüber der Gemeinde durch Vertrag verpflichten, Kosten und
sonstige Aufwendungen zu übernehmen, die der Gemeinde für „städtebauliche
Planungen, andere städtebauliche Maßnahmen sowie Anlagen und Einrichtun-
gen, die der Allgemeinheit dienen“, entstehen. Die Vorschrift ist vor allem mit
Blick auf ihren Sinn und Zweck dahin auszulegen, dass sie auch Kostenverein-
barungen über Erschließungsmaßnahmen erfasst.
Der Normtext lässt dieses Verständnis ohne Weiteres zu. Neben Maßnahmen
wie der Neuordnung der Grundstücksverhältnisse oder der städtebaulichen Sa-
nierung kann auch die Grundstückserschließung aufgrund ihrer Zielrichtung,
städtebauliche Siedlungstätigkeit zu ermöglichen, als städtebauliche Maßnah-
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me begriffen werden. Davon geht schon § 54 Abs. 1 BauZVO aus, der der Er-
schließung die Vorbereitung und Durchführung „anderer städtebaulicher Maß-
nahmen“ gegenüberstellt.
Entstehungsgeschichtliche Umstände lassen keine eindeutigen Schlüsse auf
den Anwendungsbereich der Regelung zu, stehen ihrer Anwendung auf Kosten
für Erschließungsmaßnahmen aber jedenfalls nicht entgegen. In § 54 Abs. 2
BauZVO ist erstmals eine positiv-rechtliche Regelung vertraglicher Vereinba-
rungen über städtebauliche Kosten getroffen worden. Bereits vorher ging das
Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung von der grundsätzli-
chen Zulässigkeit sogenannter Folgekostenverträge aus (Urteile vom 6. Juli
1973 - BVerwG 4 C 22.72 - BVerwGE 42, 331 <334 ff.> und vom 14. August
1992 - BVerwG 8 C 19.90 - BVerwGE 90, 310 <311 ff.>). Als vertraglich ab-
wälzbare Folgekosten verstand es indes nur solche Aufwendungen, die den
Gemeinden jenseits der beitragsfähigen Erschließung als Folge neuer Ansied-
lungen für Anlagen und Einrichtungen des Gemeinbedarfs entstanden (Urteil
vom 6. Juli 1973 a.a.O. S. 336 f. m.w.N.). Aus dem sachlichen Zusammenhang
der verordnungsrechtlichen Regelung mit dieser Rechtsprechung kann dennoch
nicht ohne Weiteres abgeleitet werden, § 54 Abs. 2 BauZVO betreffe ebenfalls
nur Folgekosten im herkömmlichen Sinne (so aber Driehaus, Erschließungs-
und Ausbaubeiträge, 9. Aufl. 2012, § 6 Rn. 9 für die Nachfolgeregelung in § 11
Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 BauGB). Materialien über die Entstehung des § 54 BauZVO,
die Aufschluss über die Motive des Verordnungsgebers geben könnten, sind
nicht vorhanden. Angesichts dessen bleibt durchaus die Möglichkeit offen, dass
der Anwendungsbereich vertraglicher Kostenvereinbarungen unter dem Ein-
druck der besonderen Umbruchsituation im Zuge der Wiedervereinigung über
die von der Rechtsprechung bereits anerkannten Fallgestaltungen hinaus aus-
gedehnt werden sollte.
Die Systematik der Verordnung vermittelt ebenfalls kein eindeutiges Bild,
spricht aber eher für die Einbeziehung von Erschließungskosten in den Anwen-
dungsbereich des § 54 Abs. 2 BauZVO. Der Bestimmung vorangestellt sind in
§ 54 Abs. 1 BauZVO Regelungen über den Erschließungsvertrag (Satz 1 Nr. 1)
und den städtebaulichen Vertrag (Satz 1 Nr. 2). Die Regelung von Kostenüber-
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nahmevereinbarungen in einem selbständigen nachfolgenden Absatz deutet
darauf hin, dass damit an beide Vertragsarten angeknüpft werden sollte. Dies
impliziert freilich, dass der Begriff der „anderen städtebaulichen Maßnahmen“ in
§ 54 Abs. 2 Satz 1 BauZVO in einem anderen Sinne verwandt wird als in § 54
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauZVO. Dort steht er in Abgrenzung zu Erschließungs-
maßnahmen (Nr. 1), hier wären Erschließungsmaßnahmen mit umfasst. Eine
Auslegung, die ein und demselben Begriff innerhalb einer Rechtsnorm unter-
schiedliche Bedeutungsgehalte beimisst, ist grundsätzlich besonders begrün-
dungsbedürftig. Für den Begriff der „anderen städtebaulichen Maßnahmen“ ist
allerdings zu beachten, dass er seinen Bedeutungsgehalt notwendig durch den
Kontext mit Maßnahmen gewinnt, von denen er durch den Zusatz „andere“ ab-
gegrenzt wird; je nach Bezugspunkt variiert also die Bedeutung. Nach dem
Normtext liegt es nahe, als Bezugspunkt für die „anderen städtebaulichen Maß-
nahmen“ in § 54 Abs. 2 Satz 1 BauZVO nicht die Erschließungsmaßnahmen in
§ 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauZVO, sondern die unmittelbar vor Verwendung die-
ses Begriffs in § 54 Abs. 2 BauZVO erwähnten „städtebaulichen Planungen“ zu
sehen.
Die Erwägungen im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Dezember
2010 - BVerwG 9 C 8.09 - (BVerwGE 138, 244 Rn. 33 f.) zum Verhältnis von
§ 124 BauGB und § 11 BauGB zwingen nicht zu einem anderen systemati-
schen Verständnis des § 54 BauZVO. Der Senat hat in dem erwähnten Urteil
entschieden, dass die Regelung des Erschließungsvertrags in § 124 BauGB im
Verhältnis zur Regelung des städtebaulichen Vertrags in § 11 BauGB ein-
schließlich der - dem § 54 Abs. 2 BauZVO ähnelnden - Regelung des Folgekos-
tenvertrags in § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 BauGB die speziellere Norm sei. Aus-
weislich der Gesetzesmaterialien habe der Gesetzgeber mit § 11 BauGB die
direkte Vorgängerregelung in § 6 BauGB-Maßnahmengesetz inhaltlich weitge-
hend übernehmen und bezogen auf den Folgekostenvertrag eine von der
Rechtsprechung seit langem gebilligte Verwaltungspraxis aufgreifen wollen; das
Erschließungsbeitragsrecht und insbesondere das Verhältnis des städtebauli-
chen Vertrags zu § 124 BauGB werde dagegen in den Gesetzesmaterialien mit
keinem Wort erwähnt. Hätte der Gesetzgeber das System des Erschließungs-
rechts durch § 11 BauGB aufweiten wollen, hätte es nahegelegen, § 124
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BauGB im Zuge der Gesetzesänderung zu streichen oder in § 11 BauGB auf-
zunehmen. Diese Erwägungen lassen sich auf das Verhältnis der Regelungen
des § 54 BauZVO zueinander nicht übertragen. Anders als bei der Einfügung
des § 11 BauGB ist bei der Überleitung des Baugesetzbuchs auf das Beitritts-
gebiet nicht eine gesonderte Regelung des städtebaulichen Vertrags unter Bei-
behaltung der vorher in § 124 Abs. 1 BauGB enthaltenen Regelung des Er-
schließungsvertrags getroffen worden. Vielmehr hat § 246a Abs. 1 Satz 1
Nr. 11 BauGB 1990 durch Verweisung auf § 54 BauZVO eigenständige Rege-
lungen über den Erschließungsvertrag, den städtebaulichen Vertrag und die
Vereinbarung der Kostenübernahme durch Bauwillige getroffen und in ein und
derselben Vorschrift zusammengefasst. Diese Handhabung unterscheidet sich
grundlegend von derjenigen bei Einfügung des § 11 BauGB, die der Senat als
Indiz für eine Sperrwirkung des § 124 BauGB gegenüber der Anwendung des
§ 11 BauGB auf Erschließungsverträge genannt hat.
Spricht demnach schon die Normsystematik mehr für als gegen die Anwend-
barkeit des § 54 Abs. 2 BauZVO auf Erschließungskosten, so erweist sich diese
Auslegung erst recht und vor allem unter Berücksichtigung des Regelungs-
zwecks als geboten. Die durch § 246a Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 BauGB 1990 spe-
ziell für die neuen Bundesländer in Geltung gesetzten Regelungen des § 54
BauZVO dienten ersichtlich dem Zweck, die dortige besondere Umbruchsituati-
on im Zuge der Wiedervereinigung städtebaulich zu bewältigen. In dieser Situa-
tion bestand wegen zerfallender Industriestrukturen der ostdeutschen Wirtschaft
ein dringliches Interesse an der Neuansiedlung von Wirtschaftsunternehmen.
Mit § 54 BauZVO sollte den Gemeinden ein Instrumentarium an die Hand ge-
geben werden, um die erforderlichen Investitionen durchführen zu können und
durch kooperatives Zusammenwirken mit bauwilligen Investoren im Rahmen
eines angemessenen Ausgleichs der Kosten- und Lastentragung die sich aus
der Umbruchsituation ergebenden Hemmnisse zu überwinden (Bielenberg,
DVBl 1990, 1314 <1320>; Krautzberger, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautz-
berger, BauGB, Bd. I, Stand Januar 2012, § 11 Rn. 11). Vertragliche Vereinba-
rungen bildeten wegen ihrer Flexibilität ein besonders geeignetes Mittel, um
interessengerechte, investitionsfördernde Lösungen zu entwickeln. Diese Ziel-
richtung war bezogen auf Erschließungskosten nicht von geringerer Bedeutung
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als für Kosten sonstiger städtebaulicher Maßnahmen, da es in den neuen Bun-
desländern zunächst flächendeckend keine Beitragssatzungen gab, die eine
rasche Finanzierung von Erschließungsmaßnahmen im Beitragswege hätten
gewährleisten können. Nach seinem Sinn und Zweck ermöglichte § 54 Abs. 2
Satz 1 BauZVO mithin die Übernahme auch der Erschließungskosten durch
den Bauwilligen.
Das gilt nicht nur für Erschließungsanlagen, die nach dem Baugesetzbuch bei-
tragsfähig sind, sondern auch für solche Erschließungsanlagen, deren Beitrags-
fähigkeit sich aus Landesrecht ergibt. Dafür spricht zum einen die Herkunft des
§ 54 BauZVO aus dem Recht der DDR, dem die Differenzierung zwischen Bun-
des- und Landesrecht fremd war, zum anderen aber auch der Zweck der Vor-
schrift, interessengerechte Gesamtlösungen als Mittel zur Realisierung von
Neuansiedlungen zu ermöglichen. Auch den §§ 123, 124 BauGB damaliger
Fassung lag bereits ein weiter, die nach Landesrecht abrechenbaren Anlagen
umfassender Erschließungsbegriff zugrunde.
cc) § 54 Abs. 2 Satz 1 BauZVO beschränkte sich im Übrigen nicht darauf, die
Übernahme von Erschließungskosten durch den Bauwilligen zu ermöglichen.
Ihm ist vielmehr zugleich die Ermächtigung der Gemeinden zu entnehmen, im
Zusammenhang mit der (Teil-)Übernahme von Erschließungskosten durch den
Bauwilligen diesem gegenüber vertraglich auf die künftige Beitragserhebung zu
verzichten. Auch das folgt maßgeblich aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift,
den Folgekostenvertrag in der Umbruchphase der Wiedervereinigung als Ins-
trument zur kooperativen Verwirklichung investitionsfördernder städtebaulicher
Planungen zu nutzen. Denn für Erschließungskosten hätte sich der mit diesem
Instrument angestrebte interessengerechte Ausgleich der beiderseitigen Kos-
ten- und Lastentragung nicht erreichen lassen, wenn die Beitragslasten in die
vertragliche Regelung nicht hätten einbezogen werden dürfen.
Kompetenzrechtliche Bedenken stehen dieser Auslegung nicht entgegen. An-
ders als für Regelungen über Erschließungsbeiträge nach dem Baugesetzbuch
fehlte dem Bund für beitragsrechtliche Regelungen über leitungsgebundene Er-
schließungsanlagen zwar schon zur Zeit der Übernahme des § 54 BauZVO in
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das bundesdeutsche Recht eine allgemeine Gesetzgebungskompetenz. Der
Bund konnte sich aber auf eine Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusam-
menhangs stützen. Zu § 124 Abs. 2 BauGB hat das Bundesverwaltungsgericht
bereits entschieden, dass die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das
Bodenrecht kraft Sachzusammenhangs gesetzliche Regelungen abdeckt, die
zu Verträgen über Erschließungskosten ermächtigen, auch soweit die den Ge-
genstand des Vertrags bildenden Erschließungsanlagen nach Landesrecht bei-
tragsfähig sind (Urteil vom 10. August 2011 - BVerwG 9 C 6.10 - BVerwGE 140,
209 Rn. 21). Ob sich diese Bewertung auf den hier in Rede stehenden Rege-
lungsgegenstand, die Ermächtigung zur Abweichung vom landesrechtlichen
Anschlussbeitragsrecht, in vollem Umfang übertragen lässt, kann dahinstehen.
Jedenfalls bestand eine entsprechende Annexkompetenz des Bundes über-
gangsweise zur Bewältigung der besonderen wirtschaftlichen Herausforderun-
gen, die mit dem Beitritt der neuen Länder verbunden waren.
dd) Hiervon ausgehend ist der Gegenstand der von der Klägerin mit den Ge-
meinden geschlossenen Verträge durch § 54 Abs. 2 Satz 1 BauZVO gedeckt.
Der von der Klägerin zu entrichtende Kaufpreis enthielt ein - nicht näher bezif-
fertes - Entgelt für die Herstellung der Erschließungsanlagen, das deren Kosten
nach den Feststellungen des Berufungsgerichts jedenfalls teilweise abdeckte.
Dem stand, wie das Berufungsgericht ebenfalls bindend festgestellt hat, der von
den Gemeinden im Vertrag erklärte Beitragsvorausverzicht gegenüber.
b) Die Bindungen, denen die Vertragsparteien bei der Regelung dieser Ver-
tragsgegenstände nach § 54 Abs. 2 Sätze 3 bis 5 BauZVO unterlagen, sind
gewahrt. Namentlich genügt das Vertragswerk dem Erfordernis des § 54 Abs. 2
Satz 4 BauZVO, wonach die vertraglich vereinbarten Leistungen den gesamten
Umständen nach angemessen sein müssen.
aa) Die nach § 54 Abs. 2 Satz 4 BauZVO gebotene Angemessenheitsprüfung
scheitert nicht daran, dass bei Abschluss der Verträge die spätere Höhe des
Abwasserbeitrags sich noch nicht berechnen ließ. Der Auffassung des Bayeri-
schen Verwaltungsgerichtshofs, die Angemessenheitsprüfung setze zwingend
das Vorhandensein einer Beitragssatzung oder zumindest bereits durchgeführte
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Kalkulationen späterer Beitragslasten voraus (Urteil vom 16. März 1990 - 23 B
88.01496 - juris Rn. 34; Beschluss vom 19. Januar 1998 - 23 ZS 97.2985 -
BayVBl 1998, 566), ist für die Anwendung des § 54 Abs. 2 Satz 4 BauZVO zu-
mindest in den Jahren 1991/92 nicht zu folgen. Welche Anforderungen an die
Vorhersehbarkeit der Beitragshöhe zu stellen sind, muss vielmehr einzelfallbe-
zogen beurteilt werden.
Dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ist zuzugeben, dass im Rahmen der
Angemessenheitsprüfung die vereinbarten Leistungen zueinander ins Verhält-
nis gesetzt werden müssen und dass der Wert des gemeindlichen Beitragsvo-
rausverzichts als Faktor dieser Prüfung sich ohne eine Beitragssatzung oder
zumindest eine Kalkulation der voraussichtlichen Beitragshöhe nicht präzise
berechnen lässt. Sinn und Zweck des § 54 Abs. 2 BauZVO schließen es
gleichwohl aus, die vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof entwickelten Vor-
gaben auf die Anwendung dieser Vorschrift zu übertragen. Dies gilt jedenfalls
für die Jahre 1991/92.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war es unter den Verhältnissen
in den neuen Bundesländern während dieser Zeit unmöglich, die genannten
Vorgaben zu erfüllen; insbesondere gab es - wie schon erwähnt - keine zur Er-
hebung von Abwasserbeiträgen ermächtigenden gemeindlichen Satzungen.
Legte man die Vorgaben des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zugrunde,
wären Kostenvereinbarungen als Mittel, um flexible Gesamtlösungen unter Ein-
schluss der beitragsrechtlichen Aspekte zu erzielen, nach § 54 Abs. 2 Satz 4
BauZVO vollständig ausgefallen; das Ziel, auf diese Weise die dringend benö-
tigte Neuansiedlung von Industrieunternehmen zu ermöglichen, wäre verfehlt
worden. Angesichts dessen gebieten Sinn und Zweck des § 54 Abs. 2 BauZVO
jedenfalls für Verträge, die in den beiden Jahren nach der Wiedervereinigung
geschlossen wurden, im jeweiligen Einzelfall zu prüfen, ob nicht auch ohne die
Berechenbarkeit der späteren Beitragshöhe eine Beurteilung der Angemessen-
heit möglich ist. Diese Möglichkeit kann durchaus bestehen, da die Angemes-
senheit gemäß § 54 Abs. 2 Satz 4 BauZVO „den gesamten Umständen nach“
zu beurteilen ist. Diese Umstände können für die Gemeinde im konkreten Fall
so vorteilhaft sein, dass auch ohne genaue Vorhersehbarkeit der künftigen Bei-
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tragshöhe eine angemessene Berücksichtigung der gemeindlichen Interessen
im vertraglichen Austauschverhältnis auf der Hand liegt.
Der Einwand der Revision, mit Blick auf die Unerfahrenheit der Gemeindever-
waltungen in den neuen Bundesländern während der Anfangsphase nach der
Wiedervereinigung und damaliger Defizite der Kommunalaufsicht sei die An-
wendung der vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof entwickelten Vorgaben
in den neuen Bundesländern sogar besonders dringlich gewesen, überzeugt
nicht. Auch ohne diese Vorgaben kann einer vertraglichen Regelung die Ange-
messenheit nur attestiert werden, wenn nach Lage des Falles die tatsächlichen
Grundlagen ausreichen, um eine Angemessenheitsprüfung durchführen zu
können und wenn diese Prüfung zu einem positiven Ergebnis führt. Der Maß-
stab für die Beurteilung der Angemessenheit ist also nicht berührt, so dass der
den Gemeinden durch § 54 Abs. 2 Satz 4 BauZVO vermittelte Schutz unge-
schmälert wirksam werden kann.
Das Berufungsgericht hat sich zu einer nach Maßgabe des § 56 Abs. 1 Satz 2
VwVfG Bund durchgeführten, aber auch dem entsprechenden Maßstab des
§ 54 Abs. 2 Satz 4 BauZVO gerecht werdenden Angemessenheitsprüfung in
der Lage gesehen, obwohl nach seinen Feststellungen bei Abschluss der Ver-
träge die Erschließungskosten und damit auch die auf die Klägerin entfallenden
Abwasserbeiträge nicht bekannt waren. Dies ist nach Lage des Falles nicht zu
beanstanden. Wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt, lassen es
die mit dem Vertragswerk für die Gemeinden verbundenen Vorteile zu, auch
ohne diese Kenntnis die Angemessenheit zu beurteilen.
bb) Die vertraglich vereinbarten Leistungen sind den gesamten Umständen
nach angemessen im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 4 BauZVO.
Dem gemeindlichen Beitragsvorausverzicht steht als Gegenleistung ein für die
Erschließungsleistungen gezahlter Teil des Grundstückskaufpreises gegenüber.
Dieser Anteil ist in den Verträgen nicht beziffert, bildet nach Einschätzung des
Berufungsgerichts den künftigen Abwasserbeitrag aber wohl nicht in voller Hö-
he ab. Das Berufungsgericht hat dennoch die Angemessenheit des vertragli-
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chen Austauschverhältnisses bejaht, weil als weitere Gegenleistung der Kläge-
rin die Verpflichtung zu berücksichtigen sei, auf dem Gebiet der Gemeinden ein
Spanplattenwerk mit einer Gesamtinvestition von 240 Mio. DM und 270 Arbeits-
plätzen zu errichten und zu betreiben. Damit seien für die Gemeinden finanziel-
le Vorteile in Gestalt sinkender sozialer Transferleistungen, steigender Kaufkraft
durch Zuzug von Arbeitnehmern, weiterer Arbeitsplätze durch sich ansiedelnde
Zulieferbetriebe und Gewerbesteuereinnahmen in beträchtlicher Höhe verbun-
den, die die späteren Abwasserbeiträge mit hoher Wahrscheinlichkeit überstie-
gen.
Diese Gesamtwürdigung des Vertragswerks erweist sich im Ergebnis als trag-
fähig. Sie entspricht dem Erfordernis des § 54 Abs. 2 Satz 4 BauZVO, bei der
Angemessenheitsprüfung die gesamten Umstände des Falles zu berücksichti-
gen. Danach ist es geboten, alle den Gemeinden aus den vertraglichen Rege-
lungen erwachsenden und der Klägerin zurechenbaren Vorteile in die Prüfung
einzubeziehen. In Anbetracht der Zielsetzung des § 54 Abs. 2 BauZVO, die
nach der Wiedervereinigung besonders dringliche Ansiedlung von Industrie-
und Gewerbebetrieben in den neuen Bundesländern zu fördern, trifft dies vor
allem für solche Vorteile zu, die der Gemeinde durch Neuansiedlungen entste-
hen. Soweit die Revision einwendet, das Berufungsgericht sei fälschlich von
einer vertraglichen Verpflichtung der Klägerin ausgegangen, ein Spanplatten-
werk der genannten Größenordnung zu errichten und zu betreiben, schließt
dies die Berücksichtigung der genannten Vorteile nicht aus. Selbst wenn das
Gericht mit seinem Verständnis der von der Klägerin hierzu abgegebenen ver-
traglichen Erklärungen Auslegungsgrundsätze verletzt haben sollte, ist doch zu
beachten, dass die Errichtung und der Betrieb eines solchen Werks zumindest
erklärtes Ziel und Geschäftsgrundlage der vertraglichen Vereinbarungen war.
Das hat nicht nur in der Präambel des Ansiedlungsvertrags, sondern vor allem
auch in der Klausel unter Nr. IV. des Kaufvertrags Ausdruck gefunden, die den
Gemeinden das Recht zum Rücktritt für den Fall einräumt, dass die vorgesehe-
nen Arbeitsplätze nicht geschaffen werden. Angesichts dessen erweist sich die
Wirksamkeit des Beitragsvorausverzichts als untrennbar mit dem projektierten
Bau und Betrieb des Werks verbunden mit der Folge, dass es auf das Fehlen
einer rechtlich durchsetzbaren Verpflichtung im Rahmen der Angemessenheits-
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prüfung, die die Gesamtumstände des Falles zu berücksichtigen hat, nicht an-
kommen kann.
Sind demnach die Ansiedlung des Spanplattenwerks und die damit für die Ge-
meinden verbundenen wirtschaftlichen Vorteile in die Beurteilung einzubezie-
hen, so ist auch ohne Bezifferbarkeit der Beitragshöhe und des vom Kaufpreis
umfassten Anteils an den Erschließungskosten offenkundig, dass den Gemein-
den durch die vertraglichen Vereinbarungen ein angemessener Ausgleich für
ihren Beitragsvorausverzicht zuteil wurde. Dies gilt umso mehr, als ihnen im
Zusammenhang mit der Werksansiedlung zusätzliche bei Vertragsschluss vo-
rausgesetzte Vorteile in Gestalt öffentlicher Fördermittel erwuchsen, die die Er-
schließungskosten entsprechend senkten. Die Erschließung sollte nämlich nach
der vertraglichen Finanzierungsvereinbarung, der die spätere tatsächliche Zu-
schussgewährung entsprach, zu 80 % durch öffentliche Fördermittel finanziert
werden. Für die restlichen 20 % der Kosten wurde vertraglich eine Vorfinanzie-
rung durch die Klägerin vereinbart, die eine weitere Gegenleistung für den Vo-
rausverzicht der Gemeinden darstellt.
cc) Soweit die vorerwähnten Vorteile nicht dem Abgabenhaushalt zugute ge-
kommen sind, schließt das nicht aus, sie bei der Angemessenheitsprüfung zu
berücksichtigen. Eine gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende Mehrbelastung an-
derer Beitragspflichtiger ist damit nicht verbunden. Einnahmeausfälle aufgrund
eines gemeindlichen Beitragsvorausverzichts dürfen nämlich nicht dem Kreis
der übrigen Abgabepflichtigen überbürdet werden, sondern sind von der durch
den Vertrag begünstigten Gemeinde selbst zu tragen (vgl. OVG Münster, Urteil
vom 19. März 2002 - 15 A 4043/00 - NVwZ-RR 2003, 147 <149>).
dd) Die Angemessenheit der vertraglichen Leistungen wird schließlich nicht da-
durch in Frage gestellt, dass die berücksichtigten Vorteile allein den Gemeinden
zugute kommen, während die Aufgaben- und Haushaltsverantwortung für die
Abwasserbeseitigung auf den beklagten Abwasserverband übergegangen ist.
Derartige nach Vertragsschluss eingetretene Umstände haben bei der Ange-
messenheitsprüfung außer Betracht zu bleiben; ihnen kann allenfalls im Innen-
verhältnis von Gemeinden und Verband Rechnung getragen werden.
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c) Unerwartete extreme Kostensteigerungen für die Herstellung der Abwasser-
beseitigungseinrichtung, auf die die Revision ergänzend hinweist, sind gleich-
falls nicht geeignet, die Wirksamkeit des Beitragsvorausverzichts in Zweifel zu
ziehen. Selbst wenn von einer solchen Entwicklung die Geschäftsgrundlage des
Vertrags berührt worden sein sollte, wäre es allein Sache der Gemeinden als
Vertragspartner der Klägerin, daraus Konsequenzen zu ziehen und gegebenen-
falls eine Vertragsanpassung zu verlangen. Der Beklagte kann daraus keine
Rechte gegenüber der Klägerin für sich herleiten.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Dr. Bier
Dr. Nolte
Domgörgen
Dr. Christ
Prof. Dr. Korbmacher
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf
50 334,39 € festgesetzt (§ 52 Abs. 3, § 47 Abs. 1 GKG).
Dr. Bier
Dr. Nolte
Dr. Christ
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