Urteil des BVerwG vom 28.07.2015

Teilnichtigkeit, Anteil, Bier, Aufwand

BVerwGE: nein
Fachpresse: ja
Sachgebiet:
Sonstiges Abgabenrecht
Rechtsquelle/n:
GG Art. 3 Abs. 1
Titelzeile:
Gebühr für Beseitigung des Niederschlagswassers
Stichworte:
Gebühr; Abwassergebühr; Niederschlagswassergebühr; Schmutzwassergebühr;
"Freiburger Modell"; Gleichheitssatz; Äquivalenzprinzip; Typisierung;
Typengerechtigkeit; Nichtigkeit; Teilnichtigkeit; Gesamtnichtigkeit;
Frischwassermaßstab.
Leitsatz:
Das Äquivalenzprinzip und der Gleichheitssatz fordern in Verbindung
miteinander, dass die Benutzungsgebühr nach dem Umfang der Benutzung
bemessen wird, also nicht in einem groben Missverhältnis zu der Leistung der
Verwaltung steht. Die Gebühren für die Beseitigung des Niederschlagswassers
können in Ermangelung eines direkten Zusammenhangs grundsätzlich nur dann
nach dem Wasserverbrauch bemessen werden (Frischwassermaßstab), wenn
der Anteil der Kosten der Niederschlagswasserbeseitigung an den gesamten
Entwässerungskosten geringfügig ist (im Anschluss an bisherige
Rechtsprechung).
Beschluss des 9. Senats vom 28. Juli 2015 - BVerwG 9 B 17.15
I. VG Bremen vom 8. März 2013
Az: VG 2 K 678/12
II. OVG Bremen vom 21. Oktober 2014
Az: OVG 1 A 68/13
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 9 B 17.15
OVG 1 A 68/13
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. Juli 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bick und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Steinkühler
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts
der Freien Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 2014 wird
zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf
885,58 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde, die sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeu-
tung der Rechtssache stützt, bleibt ohne Erfolg.
Grundsätzlich bedeutsam im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine
Rechtssache nur, wenn für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz eine
konkrete, fallübergreifende und bislang ungeklärte Frage des revisiblen Rechts
von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist und
zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwick-
lung des Rechts geboten erscheint. Den Darlegungen der Beschwerde lässt
sich nicht entnehmen, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt
sind.
Die Beschwerde will geklärt wissen,
ob eine Entwässerungsgebührensatzung gegen Art. 3
Abs. 1 GG verstößt, wenn die Festsetzung der Nieder-
schlagswassergebühren ausschließlich von der Größe der
versiegelten Fläche des jeweiligen Grundstücks abhängig
gemacht wird und ausschließlich die Grundstückseigen-
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tümer als Gebührenschuldner herangezogen werden, de-
ren versiegelte Grundstücksfläche den festgelegten Maß-
stab überschreitet.
Diese Frage rechtfertigt die Zulassung der Revision schon deshalb nicht, weil
sie sich in dem erstrebten Revisionsverfahren so nicht stellen würde. Die Be-
schwerde geht von einer unzutreffenden Prämisse aus, indem sie unterstellt,
nach der einschlägigen landesrechtlichen Gebührenregelung (Entwässerungs-
gebührenortsgesetz - EGebOG - i.d.F. vom 2. Januar 2011, Brem.GBl. S. 17)
würden Gebühren für Niederschlagswasser nur bei Grundstücken mit einer an
das öffentliche Kanalsystem angeschlossenen versiegelten Fläche von
1 000 m² oder mehr erhoben, während für Grundstücke mit einer versiegelten
Fläche von weniger als 1 000 m² nur eine Schmutzwassergebühr zu zahlen sei.
Damit verkennt sie, dass die Eigentümer kleinerer Grundstücke, auch soweit sie
keinen Antrag auf getrennte Veranlagung stellen (§ 4 Abs. 2 EGebOG), nicht
die reine Schmutzwassergebühr, sondern die höhere - einen pauschalen Nie-
derschlagswasserkostenanteil enthaltende - Abwassergebühr zu entrichten ha-
ben (§ 3 Abs. 1 i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 1 EGebOG). Von einer "Doppelbelastung"
der Eigentümer größerer Grundstücke kann daher entgegen dem Beschwerde-
vorbringen nicht die Rede sein.
Unabhängig davon zeigt die Beschwerde einen grundsätzlichen Klärungsbedarf
hinsichtlich des Art. 3 Abs. 1 GG nicht auf. Nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts vermag die Rüge der Nichtbeachtung von Bundes-
recht bei der Anwendung und Auslegung von Landesrecht eine Beschwerde
gegen die Nichtzulassung der Revision nur dann zu begründen, wenn die Aus-
legung der - gegenüber dem Landesrecht als korrigierender Maßstab angeführ-
ten - bundesrechtlichen Norm ihrerseits ungeklärte Fragen von grundsätzlicher
Bedeutung aufwirft; die angeblichen bundesrechtlichen Maßgaben, deren
Tragweite und Klärungsbedürftigkeit sowie die Entscheidungserheblichkeit in
dem anhängigen Verfahren sind in der Beschwerdebegründung darzulegen
(vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 8. Mai 2008 - 6 B 64.07 - Buchholz 421 Kul-
tur- und Schulwesen Nr. 132 Rn. 5 und vom 13. Mai 2008 - 9 B 19.08 - Buch-
holz 401.84 Benutzungsgebühren Nr. 107 Rn. 5 m.w.N.). Daran fehlt es hier.
Der Hinweis der Beschwerde auf eine ersichtlich nicht einschlägige Entschei-
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dung des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 17. Dezember 2014 - 1 BvL
21/12 - NJW 2015, 303 zur Privilegierung des Betriebsvermögens bei der Erb-
schaftssteuer) kann die Formulierung einer konkreten, aber fallübergreifenden
Frage und die Darlegung ihrer Klärungsbedürftigkeit und Entscheidungserheb-
lichkeit nicht ersetzen.
Das Bundesverwaltungsgericht hat zudem bereits eingehend zu den Vorgaben
Stellung genommen, die sich aus dem Äquivalenzprinzip und dem Gleichheits-
satz für die Ausgestaltung des Maßstabes von Entwässerungsgebühren erge-
ben. Beide Grundsätze fordern danach in Verbindung miteinander, dass die
Benutzungsgebühr nach dem Umfang der Benutzung bemessen wird, also nicht
in einem groben Missverhältnis zu der Leistung der Verwaltung steht. In Anbe-
tracht des Gestaltungsspielraums des Normgebers kann nicht verlangt werden,
dass der zweckmäßigste, vernünftigste, gerechteste oder wahrscheinlichste
Maßstab angewendet wird. Vielmehr sind Durchbrechungen des Gleichheits-
satzes durch Typisierungen und Pauschalierungen zulässig, solange die
dadurch entstehende Ungleichbehandlung noch in einem angemessenen Ver-
hältnis zu den erhebungstechnischen Vorteilen der Typisierung steht (s. etwa
BVerwG, Beschlüsse vom 25. März 1985 - 8 B 11.84 - Buchholz 401.84 Benut-
zungsgebühren Nr. 53 S. 39, vom 19. September 2005 - 10 BN 2.05 - juris
Rn. 8 und vom 20. September 2007 - 9 BN 2.07 - Buchholz 401.84 Benut-
zungsgebühren Nr. 105 Rn. 5, jeweils m.w.N.).
Auf der anderen Seite ist allerdings auch geklärt, dass der Grundsatz der Ty-
pengerechtigkeit nur auf solche Sachbereiche Anwendung findet, in denen eine
ausgeprägt an der Benutzungsintensität ausgerichtete Gebührengestaltung un-
problematisch möglich ist und die Zahl der Ausnahmen, bei denen eine Diffe-
renzierung nach der Benutzungsintensität entfällt, ohne unangemessenen er-
hebungstechnischen Aufwand gering gehalten werden kann (BVerwG, Be-
schlüsse vom 11. November 2011 - 9 B 41.11 - juris Rn. 2 und vom 2. April
2013 - 9 BN 4.12 - juris Rn. 2). Um eine solche Gebührengestaltung geht es bei
der Anwendung des Frischwassermaßstabes auf eine Niederschlagswasserge-
bühr nicht, denn zwischen dem Wasserverbrauch und der Menge des in die
Kanalisation eingeleiteten Niederschlagswassers besteht kein direkter Zusam-
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menhang. Daher können die Gebühren für die Beseitigung des Niederschlags-
wassers im Wesentlichen nur dann wie die Schmutzwassergebühren nach dem
Wasserverbrauch bemessen werden, wenn der Anteil der Kosten der Nieder-
schlagswasserbeseitigung an den gesamten Entwässerungskosten geringfügig
ist, d.h. nicht mehr als 12 % beträgt (BVerwG, Beschlüsse vom 25. März 1985
- 8 B 11.84 - Buchholz 401.84 Benutzungsgebühren Nr. 53 S. 39 und vom
2. April 2013 - 9 BN 4.12 - juris Rn. 2). Ein Vorbehalt ist allenfalls für solche
Fallgestaltungen gerechtfertigt, in denen die Umstellung auf einen flächenbezo-
genen Maßstab ohne unvertretbaren finanziellen Aufwand nicht möglich oder
ein besonderer Ausgleich für Benachteiligungen, insbesondere durch eine Ge-
bührendegression für Wassergroßverbraucher, vorgesehen ist (BVerwG, Be-
schlüsse vom 13. Mai 2008 - 9 B 19.08 - Buchholz 401.84 Benutzungsgebühren
Nr. 107 Rn. 7 und vom 2. April 2013 - 9 BN 4.12 - juris Rn. 2).
Einen darüber hinausgehenden grundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die Be-
schwerde - unbeschadet der vom Senat geteilten Zweifel, ob das Oberverwal-
tungsgericht die vorbezeichneten Rechtsgrundsätze zutreffend auf den Streitfall
angewendet hat - nicht auf. Soweit zwischen den Beteiligten Meinungsver-
schiedenheiten darüber bestehen, ob die Anwendung eines uneingeschränkt
flächenbezogenen Maßstabes für die Niederschlagswassergebühr unter den
hier vorliegenden Umständen zu einem unvertretbaren Mehraufwand führen
würde, fehlt es an hinreichenden tatsächlichen Feststellungen des Oberverwal-
tungsgerichts. Rechtsfragen, die sich in einem Revisionsverfahren erst auf der
Grundlage weiterer, von der Vorinstanz nicht festgestellter Tatsachen stellen
würden, können die Zulassung der Revision regelmäßig - und auch hier - nicht
rechtfertigen (stRspr, s. BVerwG, Beschlüsse vom 17. März 2000 - 8 B 287.99 -
BVerwGE 111, 61 <62> und vom 11. Juli 2014 - 9 B 58.13 - juris Rn. 11). Das
Oberverwaltungsgericht hat zwar angenommen, dass für das umstrittene Ge-
bührenmodell im Hinblick auf die spezifische Siedlungsstruktur in Bremen "ge-
wichtige Gründe der Verwaltungspraktikabilität" sprächen; eine Ermittlung der
konkreten Entwässerungsverhältnisse für jedes einzelne auch der kleineren
Grundstücke mit einer an die Kanalisation angeschlossenen Fläche von weni-
ger als 1 000 m² hätte einen deutlich höheren Verwaltungsaufwand zur Folge.
In diesem Zusammenhang hat sich das Oberverwaltungsgericht aber nicht mit
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möglichen Typisierungen bei der Ausgestaltung einer durchgehend flächenbe-
zogenen Niederschlagswassergebühr auseinandergesetzt (vgl. etwa VGH
München, Urteil vom 29. April 1999 - 23 B 97.1628 - juris Rn. 38 und Beschluss
vom 4. August 2014 - 20 ZB 14.576 - ZfW 2015, 20 = juris Rn. 4 m.w.N. zum
Maßstab eines "Gebietsabflussbeiwertes" im Sinne eines Mittelwertes für den
statistisch zu erwartenden Anteil der bebauten und befestigten Flächen an der
Gesamtgrundstücksfläche) und dazu keine tatsächlichen Feststellungen getrof-
fen. Soweit auf der Grundlage solcher Feststellungen die Erhebung einer sepa-
raten Niederschlagswassergebühr keinen unvertretbaren Mehraufwand verur-
sachen und daher bundesrechtlich geboten sein sollte, stehen die betreffenden
Rechtsgrundsätze ersichtlich, ohne dass dies in einem Revisionsverfahren ge-
klärt werden müsste, nicht in der Weise zur Disposition des Einzelnen, dass
eine verfassungskonforme Gebührenerhebung je nach Grundstücksgröße von
einer besonderen Antragstellung des jeweiligen Gebührenschuldners abhängig
gemacht werden könnte (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 23. September
2009 - RN 3 K 08.01610 - juris Rn. 44 zum sog. "Freiburger Modell").
Soweit die Klägerin als Eigentümerin eines Grundstücks mit mehr als 1 000 m²
versiegelter Fläche sinngemäß die Teilnichtigkeit der angegriffenen Regelung
im Hinblick auf eine unzureichende Trennung von Schmutzwassergebühr und
Niederschlagswassergebühr für kleinere Grundstücke rügt, stehen wiederum
diejenigen Grundsätze fest, nach denen die Teilnichtigkeit einer Norm zu deren
Gesamtnichtigkeit führt. Dies ist nach ständiger Rechtsprechung davon abhän-
gig, ob - erstens - die Beschränkung der Nichtigkeit eine mit höherrangigem
Recht vereinbare sinnvolle (Rest-) Regelung des Lebenssachverhalts belässt
und ob - zweitens - ein entsprechender hypothetischer Wille des Normgebers
angenommen werden kann (vgl. BVerfG, Urteile vom 28. Mai 1993 - 2 BvF
2/90 u.a. - BVerfGE 88, 203 <333> und vom 17. Dezember 2014 - 1 BvL
21/12 - NJW 2015, 303 Rn. 97 ff.; s. zu kommunalabgabenrechtlichen Satzun-
gen auch BVerwG, Beschlüsse vom 28. August 2008 - 9 B 40.08 - Buchholz
401.9 Beiträge Nr. 56 Rn. 13 und vom 13. Januar 2012 - 9 B 56.11 - Buchholz
310 § 88 VwGO Nr. 42 Rn. 5, jeweils m.w.N.). Ob das Berufungsgericht aus
den anerkannten Rechtsgrundsätzen die richtigen Folgerungen gezogen hat, ist
auch in diesem Zusammenhang nicht von allgemeiner Bedeutung.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des
Streitwertes aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG
Dr. Bier
Dr. Bick
Steinkühler
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