Urteil des BVerwG vom 29.10.2013

Rechtliches Gehör, Gebot der Erforderlichkeit, Satzung, Aufklärungspflicht

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 8 BN 3.13
VGH 21 N 10.2966
In der Normenkontrollsache
hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. Oktober 2013
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts
Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert
und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab
und Dr. Rudolph
beschlossen:
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Das aufgrund mündlicher Verhandlung vom 26. Februar
2013 ergangene Urteil des Bayerischen Verwaltungsge-
richtshofs wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof
zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 15 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Der Antragsteller ist selbstständiger Rechtsanwalt und Pflichtmitglied der Baye-
rischen Rechtsanwalts- und Steuerberaterversorgung (Antragsgegnerin). Er
wendet sich mit seinem Normenkontrollantrag gegen die Neunte Satzung zur
Änderung der Satzung der Antragsgegnerin vom 7. Dezember 2009, durch die
u.a. mit Wirkung zum 1. Januar 2010 die Regelaltersgrenze für den Anspruch
auf Altersruhegeld von der Vollendung des 63. Lebensjahrs auf die Vollendung
des 67. Lebensjahrs und die Altersgrenze für den Bezug des vorgezogenen
Altersruhegeldes vom vollendeten 60. auf das vollendete 62. Lebensjahr ange-
hoben worden ist.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat den Normenkontrollantrag des An-
tragstellers abgelehnt. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragstel-
lers.
Die Beschwerde hat Erfolg. Der Sache kommt zwar nicht die geltend gemachte
grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu. Das an-
gegriffene Urteil beruht jedoch auf dem gerügten Verfahrensmangel unzurei-
chender Sachaufklärung, soweit der Verwaltungsgerichtshof die dem Verwal-
tungsrat zum Satzungsbeschluss in der Sitzung vom 26. Oktober 2009 vorge-
legten schriftlichen Unterlagen zu den alternativen Möglichkeiten der finanziel-
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len Sicherung des Versorgungssystems nicht beigezogen hat (§ 132 Abs. 2
Nr. 3 i.V.m. § 86 VwGO).
1. Die mit der Beschwerde erhobene Grundsatzrüge wird den Darlegungsanfor-
derungen gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1, § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nicht gerecht.
Danach muss die Beschwerdebegründung eine bestimmte, höchstrichterlich
noch ungeklärte und für die Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage des
revisiblen Rechts aufwerfen, der eine allgemeine, über den Einzelfall hinausge-
hende Bedeutung zukommt, und diese Voraussetzungen substantiiert dartun
(Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133
VwGO Nr. 26 S. 14). Dazu genügt nicht der Hinweis, dass eine Rechts-
frage noch nicht höchstrichterlich entschieden wurde. Es reicht auch nicht aus,
die Anwendbarkeit der bisherigen Rechtsprechung zu Art. 14 Abs. 1 GG auf
Versorgungsanwartschaften nach dem von der Antragsgegnerin praktizierten
Finanzierungsmodell in Zweifel zu ziehen und in der Art einer Berufungsbe-
gründungsschrift der Anwendung der verfassungsrechtlichen Regelung durch
die Vorinstanz im konkreten Fall entgegenzutreten. Eine bestimmte, im ange-
strebten Revisionsverfahren zu klärende Auslegungsfrage zu Art. 14 Abs. 1 GG
arbeitet die Beschwerdebegründung nicht heraus. Soweit sie sinngemäß geklärt
wissen will, ob die kapitalgedeckte Finanzierung der Anwartschaft und deren
Berufung auf Eigenleistung eine in ihren Bestand eingreifende Inhalts- und
Schrankenbestimmung ausschließt, ist sie bereits anhand der üblichen Metho-
den der Verfassungsauslegung und der einschlägigen Rechtsprechung ohne
Weiteres - verneinend - zu beantworten. Sämtliche Eigentumspositionen im
Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG sind einer Inhalts- und Schrankenbestimmung zu-
gänglich, da die Eigentumsgarantie ein normgeprägtes Grundrecht ist; Inhalt
und Schranken jeder Eigentumsposition sind daher stets durch Rechtssatz zu
definieren, ohne dass ein absoluter Bestandsschutz garantiert wäre. Die Eigen-
finanzierung der Anwartschaft erhöht lediglich die verfassungsrechtlichen An-
forderungen an eine in den bisherigen Rechtsbestand eingreifende Inhalts- und
Schrankenbestimmung und begrenzt damit den Gestaltungsspielraum des
Normgebers.
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2. Das angegriffene Urteil beruht jedoch auf der geltend gemachten Verletzung
der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO).
a) Die geltend gemachte Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 86
Abs. 1 VwGO) liegt vor. Die Bildung der richterlichen Überzeugung nach § 108
Abs. 1 Satz 2 VwGO setzt eine ausreichende Erforschung des Sachverhalts
nach § 86 Abs. 1 VwGO voraus, d.h., dass das Gericht alle vernünftigerweise
zu Gebote stehenden Möglichkeiten einer Aufklärung des nach seiner materiell-
rechtlichen Rechtsauffassung für seine Entscheidung erheblichen Sachverhalts
ausschöpft, die geeignet sein können, die für die Entscheidung erforderliche
Überzeugung des Gerichts zu begründen.
Die Beschwerde rügt insoweit zu Recht, dass es der Verwaltungsgerichtshof
unterlassen hat, die im Protokoll der Verwaltungsratssitzung vom 26. Oktober
2009 angeführten schriftlichen Unterlagen zu Alternativmodellen einschließlich
der Tischvorlagen 1 und 2 zum Tagesordnungspunkt 7 (Entwürfe zu der Neun-
ten Änderungssatzung vom 7. Dezember 2009 in den Varianten „Zuschlagsmo-
dell“, „Stufenmodell“ und „Mischmodell“) beizuziehen.
Der Verwaltungsgerichtshof ist materiell-rechtlich davon ausgegangen, dass
dem Satzungsgeber bei der Bestimmung des Inhalts und der Schranken ren-
tenversicherungsrechtlicher Positionen zur Sicherung der Funktions- und Leis-
tungsfähigkeit des Versorgungssystems ein Gestaltungsspielraum zukommt,
der sich in dem Maße verengt, in dem Versorgungsansprüche oder Versor-
gungsanwartschaften durch den personalen Bezug des Anteils eigener Leistun-
gen des Versicherten geprägt sind. Die Befugnis, Rentenansprüche oder -an-
wartschaften zu beschränken, sieht das Berufungsgericht durch die Anforde-
rung begrenzt, dass dies einem Gemeinwohlzweck dient und dem Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit entspricht (BVerwG, Urteil vom 21. September 2005
a.a.O., Beschluss vom 13. April 2012 a.a.O.).
Dennoch hat der Verwaltungsgerichtshof es abgelehnt, die für die Beurteilung
der Erforderlichkeit der Satzungsänderung relevanten Unterlagen zu den Ent-
würfen der Neunten Änderungssatzung in den Varianten „Zuschlagsmodell“,
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„Stufenmodell“ und „Mischmodell“ beizuziehen. Von dieser Aufklärungsmaß-
nahme, die der Antragsteller im Termin zur mündlichen Verhandlung beantragt
hat, durfte das Berufungsgericht nicht schon wegen seiner sehr zurückhalten-
den Bestimmung der Rechtsgrenzen des Ermessens des Satzungsgebers ab-
sehen. Denn ungeachtet seiner Ausführungen dazu hat der Verwaltungsge-
richtshof am Gebot der Erforderlichkeit festgehalten und es - zutreffend - dahin
konkretisiert, dass eine Maßnahme nicht erforderlich ist, wenn es ein mindes-
tens ebenso geeignetes milderes Mittel gibt. Er hat deshalb konsequent maß-
geblich darauf abgestellt, ob die als Alternativen in Betracht kommenden Model-
le wie etwa eine Ruhegeldkürzung oder eine Beitragserhöhung ebenso geeig-
net und für die Mitglieder im Ergebnis weniger belastend gewesen wären als die
beschlossene Satzungsänderung. In der Subsumtion hat er sich jedoch mit der
Mutmaßung begnügt, die Belastung durch Alternativmaßnahmen wäre „wohl
vergleichbar“ gewesen. Dies konnte nicht die auch nach seiner Rechtsauffas-
sung erforderlichen Feststellungen zur Geeignetheit und zu den Belastungswir-
kungen der in der Sitzung des Verwaltungsbeirats am 26. Oktober 2009 zur
Wahl gestellten Alternativen ersetzen. Da sich aus dem Sitzungsprotokoll inso-
weit keine hinreichenden Anhaltspunkte ergeben, war eine Beiziehung der An-
lagen und Tischvorlagen zum betreffenden Tagesordnungspunkt 7 unumgäng-
lich.
b) Die Rüge, der Verwaltungsgerichtshof habe die Antragsgegnerin unter Ver-
letzung von § 86 Abs. 1 VwGO nicht aufgefordert, ein versicherungsmathemati-
sches Gutachten vorzulegen, bzw. habe ein solches Gutachten nicht selbst ein-
geholt, greift demgegenüber nicht durch.
Dieser Vorwurf ist nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO ent-
sprechend begründet worden. Dies erfordert die substantiierte Darlegung, wel-
che Tatsachen auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung der Vor-
instanz aufklärungsbedürftig waren, welche für erforderlich und geeignet gehal-
tenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht kamen, welche tatsächlichen
Feststellungen dabei voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern die-
se unter Zugrundelegung der materiell-rechtlichen Auffassung der Vorinstanz
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zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätte führen kön-
nen.
Der Antragsteller hat bereits nicht substantiiert dargelegt, welche Tatsachen auf
der Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung der Vorinstanz der Aufklä-
rung durch ein versicherungsmathematisches Gutachten bedurft hätten. Seine
Behauptung, aus § 10 Abs. 3 Satz 3 der Zweiten Verordnung zur Änderung der
Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über das öffentliche Versorgungs-
wesen (DVVersoG) folge eine Pflicht der Antragsgegnerin zur Einholung eines
versicherungsmathematischen Gutachtens bei Änderungen im Beitrags- und
Leistungssystem durch Satzungsänderung, ersetzt nicht die notwendige Darle-
gung der aufklärungsbedürftigen Tatsachen. Gleiches gilt für die pauschale Be-
hauptung, ohne das Vorliegen eines versicherungsmathematischen Gutachtens
habe nicht überprüft werden können, ob es durch die angegriffene Satzung zu
einer Ungleichbehandlung der einzelnen Versicherten kommt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat auch den Anspruch des Antragstellers auf
rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) nicht verletzt. Der
Antragsteller hat einen solchen Verfahrensmangel bereits nicht schlüssig darge-
legt.
Der Antragsteller sieht seinen Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt,
dass der Verwaltungsgerichtshof seine Schriftsätze nicht hinreichend gelesen
und gewürdigt habe. Der Umstand, dass sich an den in der Gerichtsakte befind-
lichen Schriftsätzen des Antragstellers keine Anmerkungen des Gerichts befin-
den, lässt einen dahingehenden Schluss jedoch nicht zu. Gleiches gilt für den
Vortrag, dass die Urteilsgründe weitgehend identisch mit denen in einer paralle-
len Rechtssache seien.
Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglich-
keit Gebrauch, gemäß § 133 Abs. 6 VwGO durch Beschluss das angegriffene
Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3 GKG, § 52 Abs. 1 GKG.
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