Urteil des BVerwG vom 25.07.2013

BVerwG: wiedereinsetzung in den vorigen stand, rechtliches gehör, bekanntgabe, erwerb, rüge, nummer, ausnahmefall, rücknahme, kunst, gebärdensprache

BVerwG 5 C 26.12
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 C 26.12
In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 25. Juli 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler
beschlossen:
Die Anhörungsrüge des Klägers gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
vom 24. Mai 2012 - BVerwG 5 C 17.11 - wird verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Rügeverfahrens.
Gründe
1 1. Die Anhörungsrüge ist unzulässig, weil sie nicht die durch Zustellung des beanstandeten
Urteils an den Prozessbevollmächtigten des Klägers in Lauf gesetzte Rügefrist wahrt.
2 Nach § 152a Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 VwGO ist die Rüge innerhalb von zwei Wochen nach
Kenntnis von der Verletzung des rechtlichen Gehörs zu erheben; der Zeitpunkt der
Kenntniserlangung ist glaubhaft zu machen. Kenntnis von der Verletzung rechtlichen Gehörs
meint positive Kenntnis der Umstände, aus denen sich die Berechtigung zur Erhebung der
Anhörungsrüge ergibt. Der Zeitpunkt der Kenntnis kann, muss aber nicht mit dem Zeitpunkt der
Bekanntgabe der beanstandeten Entscheidung an den betroffenen Beteiligten zusammenfallen.
Hat dieser die Entscheidung beispielsweise erst später gelesen, weil er im Zeitpunkt der
Bekanntgabe urlaubsbedingt abwesend war, fallen die Zeitpunkte auseinander (Beschluss vom
22. Januar 2013 - BVerwG 4 B 4.13 - NVwZ-RR 2013, 340 Rn. 4). Knüpft eine Bestimmung an
die positive Kenntnis bestimmter Umstände Rechtsfolgen, so kann es einer solchen Kenntnis
gleichstehen, wenn der Betroffene sich dieser bewusst verschließt und vorsätzlich eine
gleichsam auf der Hand liegende Kenntnisnahmemöglichkeit, die jeder andere in seiner Lage
wahrgenommen hätte, übergeht (vgl. BGH, Urteile vom 20. März 1995 - II ZR 205/94 - BGHZ
129, 136 <175 f.>, vom 9. Juli 1996 - VI ZR 5/95 - BGHZ 133, 192 <198> und vom 6. Mai 2008 -
XI ZR 56/07 - BGHZ 176 Rn. 46; BAG, Urteil vom 20. August 2002 - 3 AZR 133/02 - BAGE 102,
242 <248>). Dementsprechend wird die Frist für die Einlegung der Anhörungsrüge auch zu dem
Zeitpunkt in Lauf gesetzt, in dem sich der Betroffene der erforderlichen Kenntnis von einer
(angeblichen) Verletzung des rechtlichen Gehörs bewusst verschließt (vgl. Guckelberger, in:
Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 152a Rn. 33; Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO,
Stand: August 2012, § 152a Rn. 22; Kautz, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 3.
Aufl. 2013, § 152a Rn. 21; Vollkommer, in: Zöller, ZPO, 29. Aufl. 2012, § 321a Rn. 14, Schwab,
in: ders./Weth, ArbGG, 3. Aufl. 2011, § 78a Rn. 18). Dieses Verständnis steht mit
Verfassungsrecht im Einklang (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. April 2010 - 1 BVR 299/10 -
NJW-RR 2010, 1215 Rn. 5). Gemessen daran ist die Rüge nicht fristgerecht erhoben.
3 Die beanstandete Entscheidung vom 24. Mai 2012 wurde dem Prozessbevollmächtigten des
Klägers ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 2. August 2012 zugestellt. Der
Prozessbevollmächtigte hat nach seinen eigenen Angaben in dem Begründungsschriftsatz vom
23. August 2012 nach Empfang der Entscheidung und erteilten Empfangsbekenntnis die
Entscheidung bis zum Beginn seines Urlaubs am 10. August 2012 „nicht durchgelesen und
daraufhin überprüft“, ob der Vortrag des Klägers, er habe nach dem (vermeintlichen) Erwerb der
deutschen Staatsangehörigkeit seine bisherige kasachische Staatsangehörigkeit verloren, vom
Senat in seinen Entscheidungsgründen Verwendung gefunden habe. Vielmehr habe er erst
nach Rückkehr aus dem Urlaub, der bis zum 21. August 2012 gedauert habe, Kenntnis vom
Inhalt der Entscheidung und der Gehörsverletzung genommen. Damit hat er sich im Zeitpunkt
der Bekanntgabe der Kenntnisnahme bewusst verschlossen (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom
14. April 2010 a.a.O. Rn. 7). Dieses Verhalten ist dem Kläger zuzurechnen (§ 173 VwGO i.V.m. §
85 Abs. 2 ZPO). In einem solchen Fall ist jedenfalls in der Regel - und so auch hier - kein Raum
für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 VwGO.
4 2. Die Rüge wäre auch unbegründet. Der Senat hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches
Gehör nicht, wie in § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO vorausgesetzt, in entscheidungserheblicher
Weise verletzt.
5 Der Anspruch der Prozessbeteiligten auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die
Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen
(stRspr, vgl. BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205 <216>). Art. 103
Abs. 1 GG ist allerdings nur dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht
dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die
Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen auch zur Kenntnis genommen
und in Erwägung gezogen haben (stRspr, vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 10. Juni 1975 - 2
BvR 1086/74 - BVerfGE 40, 101 <104 f.>). Die Gerichte sind nicht verpflichtet, sich mit jedem
Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (BVerfG, u.a. Beschluss
vom 5. Oktober 1976 - 2 BvR 558/75 - BVerfGE 42, 364 <368>). Deshalb müssen, wenn ein
Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG festgestellt werden soll, im Einzelfall besondere Umstände
deutlich ergeben, dass das Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis
genommen oder doch bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (BVerfG, u.a.
Beschlüsse vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <146> und vom 1. Februar
1978 - 1 BvR 426/77 - BVerfGE 47, 182 <187 f.>). Ein solcher Ausnahmefall ist hier nicht
dargetan und auch nicht erkennbar.
6 Der Kläger rügt, der Senat habe sein Vorbringen im Berufungsverfahren, wonach er nach dem
(vermeintlichen) Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit seine bisherige kasachische
Staatsangehörigkeit verloren habe, nicht zur Kenntnis genommen. Er nimmt insoweit
ausdrücklich Bezug auf sein Vorbringen zu Nummer 2.4 in seiner Berufungsbegründungsschrift
vom 4. Oktober 2010 (Seite 5). Dort hat er dargelegt, das Verwaltungsgericht habe auch
vernachlässigt, dass der Beklagte bei der Ausübung des Rücknahmeermessens nicht den
Umstand eingestellt habe, „dass der Kläger nach dem Erwerb der deutschen
Staatsangehörigkeit seine bisherige kasachische Staatsangehörigkeit verloren hat“. Dieses
Vorbringen war für die Entscheidung des Senats nicht erheblich. In seinem Urteil vom 24. Mai
2012 hat der Senat angenommen, dass der Kläger die deutsche Staatsangehörigkeit nicht
erlangt hat. Deshalb war auf dieses Vorbringen, das der Kläger im Revisionsverfahren nicht
wieder aufgegriffen hat, in den Entscheidungsgründen nicht einzugehen.
7 Soweit der Kläger in der Begründung seiner Anhörungsrüge darlegt, die Rücknahme der
Spätaussiedlerbescheinigung komme tatsächlich dem Entzug einer Staatsangehörigkeit gleich
und dem müsse entweder durch eine bestimmte Auslegung des § 7 des
Staatsangehörigkeitsgesetzes oder im Rahmen des Rücknahmeermessens Rechnung getragen
werden, vermögen diese Erwägungen zum materiellen Recht die Annahme einer Verletzung des
Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht zu begründen.
8 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Vormeier
Dr. Störmer
Dr. Häußler