Urteil des BVerwG vom 19.08.2013

BVerwG: verfügung, rüge, verwaltungsprozess, tatsachenfeststellung, gefährdung, kunst, gebärdensprache, beratung, einheit, ermessensausübung

BVerwG 5 B 47.13
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 5 B 47.13
VG Potsdam - 06.09.2010 - AZ: VG 7 K 1835/06
OVG Berlin-Brandenburg - 23.01.2013 - AZ: OVG 6 B 35.11
In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. August 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und Dr. Häußler
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil
des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 23. Januar 2013 wird
zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1 1. Die auf die Zulassungsgründe eines Verfahrensmangels (a) und der grundsätzlichen
Bedeutung der Rechtssache (b) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
2 a) Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen eines Verfahrensmangels, auf
dem die Entscheidung beruhen kann, zuzulassen.
3 aa) Soweit der Kläger eine Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO)
mit der Begründung rügt, das Oberverwaltungsgericht habe versäumt zu ermitteln, ob der
Beklagte überhaupt die Frage des Präventionsverfahrens geprüft habe, ist ein Verfahrensmangel
nicht ausreichend im Sinne von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt.
4 Eine angebliche Verletzung der Sachaufklärungspflicht des Gerichts ist u.a. nur dann
ausreichend bezeichnet, wenn im Einzelnen dargetan wird, welche Tatsachen auf der
Grundlage der insoweit maßgeblichen materiellrechtlichen Auffassung der Vorinstanz
aufklärungsbedürftig gewesen wären, welche Beweismittel zu welchen Beweisthemen zur
Verfügung gestanden hätten, welches Ergebnis diese Beweisaufnahme voraussichtlich gehabt
hätte, inwiefern das angefochtene Urteil auf der unterbliebenen Sachaufklärung beruhen kann
und dass auf die Erhebung der Beweise vor dem Tatsachengericht durch Stellung förmlicher
Beweisanträge hingewirkt worden ist oder - sollte dies nicht der Fall gewesen sein - aufgrund
welcher Anhaltspunkte sich die unterbliebene Sachaufklärung dem Gericht hätte aufdrängen
müssen (stRspr, vgl. z.B. Beschlüsse vom 13. Januar 2009 - BVerwG 9 B 64.08 - Buchholz 310 §
86 Abs. 1 VwGO Nr. 372 S. 18 und vom 5. März 2010 - BVerwG 5 B 7.10 - Buchholz 310
§ 133 VwGO Nr. 94 S. 11 m.w.N.). Diesen Anforderungen trägt die Beschwerde
nicht ausreichend Rechnung.
5 Weder die Beschwerdebegründung noch die Sitzungsniederschrift lassen erkennen, dass in
der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht auf eine entsprechende
Sachverhaltsaufklärung hingewirkt oder gar ein förmlicher Beweisantrag im Sinne von § 86 Abs.
2 VwGO gestellt worden ist. Ebenso wenig legt die Beschwerde dar, warum sich dem
Oberverwaltungsgericht auf der Grundlage seiner Rechtsansicht und des ihm zum Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung vorliegenden Tatsachenmaterials eine weitere Sachverhaltsaufklärung
hätte aufdrängen müssen.
6 bb) Die vom Kläger behauptete Verletzung des § 114 VwGO rechtfertigt nicht die Annahme
eines Verfahrensmangels.
7 Ein solcher ist nur anzunehmen, wenn gegen eine Vorschrift verstoßen wird, die den äußeren
Verfahrensablauf regelt, nicht aber dann, wenn die Vorinstanz eine Vorschrift missachtet hat, die
den inneren Vorgang der richterlichen Rechtsfindung bestimmt. § 114 Satz 1 VwGO regelt in
Ergänzung von § 113 Abs. 1 und 5 VwGO die Grenzen der materiellen Befugnis der
Verwaltungsgerichte, die behördliche Ermessensausübung zu kontrollieren. Überschreitet ein
Gericht diese Grenzen, liegt darin ein materiellrechtlicher Fehler, der im Anwendungsbereich
des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO unbeachtlich ist (Beschluss vom 11. März 2009 - BVerwG 4 BN
7.09 - juris Rn. 6).
8 b) Der Kläger hat das Vorliegen der Voraussetzungen einer Revisionszulassung wegen
grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht
ausreichend dargelegt.
9 Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache
zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage des revisiblen
Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts
revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO
setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die
Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die
Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht.
Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur
Klärung einer bisherigen revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage
des revisiblen Rechts führen kann (vgl. Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 -
Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14). Dazu bedarf es auch der substantiierten
Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung und bereits ergangener
einschlägiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. Beschlüsse vom 11. August 2006 -
BVerwG 1 B 105.06 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 20 Rn. 2 und vom 5. Juni 2013 -
BVerwG 5 B 11.13, 5 PKH 14.13 - juris Rn. 2, jeweils m.w.N.).
10 Daran gemessen kommt die Zulassung der Revision hinsichtlich der als rechtsgrundsätzlich
aufgeworfenen Fragen
„Ist es zulässig, dass im Verwaltungsprozess um die Kündigungszustimmung eines behinderten
Menschen dann, wenn das Integrationsamt nicht nachweislich die Nichtdurchführung eines
Präventionsverfahrens als Abwägungsmaterial gesehen und zugrundegelegt hat, das Gericht
aus seiner Sicht prüft, ob bei gehöriger Durchführung des Präventionsverfahrens die Möglichkeit
bestanden hätte, die Kündigung zu vermeiden? Kann das Gericht auf diese Weise die
Ermessensentscheidung des Integrationsamtes stützen oder gar heilen, wenn das
Integrationsamt den Aspekt der Unterlassung eines Präventionsverfahrens nicht erkennbar in
seine Überlegungen mit eingestellt hat?“
„Ist die Kündigungszustimmung des Integrationsamtes ohne weiteres ermessensfehlerhaft, wenn
das Integrationsamt nicht nachweislich geprüft hat, ob der Arbeitgeber ein Präventionsverfahren
durchgeführt hat[?]“
nicht in Betracht.
11 Dies folgt schon daraus, dass sich diese Fragen in einem Revisionsverfahren nicht stellen
würden. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, das Integrationsamt habe den Umstand, dass ein
Präventionsverfahren nicht durchgeführt wurde, vernachlässigt. Dies entspricht nicht den
tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil. In den Urteilsgründen wird unter
anderem dargelegt, das Integrationsamt sei offenbar davon ausgegangen, dass auch ein
Präventionsverfahren wegen dauernder Arbeitsunfähigkeit des Klägers sinnlos sei. Dieser
Erwägung ist entgegen der Ansicht des Klägers die Feststellung zu entnehmen, dass das
Integrationsamt das Fehlen eines Präventionsverfahrens berücksichtigt hat. Diese
Tatsachenfeststellung ist - wie aufgezeigt - von dem Kläger nicht mit zulässigen und
begründeten Verfahrensrügen angegriffen und deshalb für den Senat nach § 137 Abs. 2 VwGO
bindend. Mithin müsste der Senat von ihr in einem Revisionsverfahren ausgehen.
12 Davon abgesehen erweist sich die Rüge auch deshalb als nicht ausreichend begründet, weil
es insoweit an der erforderlichen Auseinandersetzung mit der zu § 84 des Neunten Buches
Sozialgesetzbuch (Art. 1 des Gesetzes vom 19. Juni 2001 (BGBl I S. 1046), zuletzt geändert
durch Gesetz vom 14. Dezember 2012 (BGBl I S. 2598) - SGB IX - ergangenen
höchstrichterlichen Rechtsprechung fehlt. Gemäß § 84 Abs. 1 SGB IX schaltet der Arbeitgeber
bei Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeits-
oder sonstigen Beschäftigungsverhältnis, die zur Gefährdung dieses Verhältnisses führen
können, möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung und die in § 93 SGB IX genannten
Vertretungen sowie das Integrationsamt ein, um mit ihnen alle Möglichkeiten und alle zur
Verfügung stehenden Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Leistungen zu erörtern, mit
denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können und das Arbeits- oder sonstige
Beschäftigungsverhältnis möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann (so genanntes
Präventionsverfahren). In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des
Bundesarbeitsgerichts ist geklärt, dass die Durchführung eines Präventionsverfahrens zwar
keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die Zustimmungsentscheidung des Integrationsamtes
nach § 85 SGB IX ist, dieses Verfahren jedoch bei der Ermessensentscheidung des
Integrationsamtes über die Zustimmung zur Kündigung nach § 85 SGB IX und unter dem
Gesichtspunkt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegebenenfalls zulasten des Arbeitgebers
zu berücksichtigen ist, wenn bei gehöriger Durchführung des Präventionsverfahrens die
Möglichkeit bestanden hätte, die Kündigung zu vermeiden (vgl. Beschluss vom 29. August 2007
- BVerwG 5 B 77.07 - Buchholz 436.62 § 84 SGB IX Nr. 1 Rn. 5; BAG, Urteil vom 7. Dezember
2006 - 2 AZR 182/06 - BAGE 120, 293 Rn. 27). Das Unterbleiben des Präventionsverfahrens
steht einer Kündigung dann nicht entgegen, wenn die Kündigung auch durch dieses Verfahren
nicht hätte verhindert werden können. Ist das Integrationsamt nach eingehender Prüfung zu dem
Ergebnis gelangt, dass die Zustimmung zur Kündigung zu erteilen ist, kann nur bei Vorliegen
besonderer Anhaltspunkte davon ausgegangen werden, ein Präventionsverfahren nach § 84
Abs. 1 SGB IX hätte die Kündigung verhindern können (vgl. BAG, Urteil vom 7. Dezember 2006
a.a.O. Rn. 27 f.). Mit dieser auch dem angegriffenen Urteil des Oberverwaltungsgerichts (UA S.
19 f.) im Kern zugrunde liegenden Rechtsprechung setzt sich die Beschwerdebegründung nicht
in der nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO gebotenen Weise auseinander. Insbesondere fehlt es an
Erwägungen dazu, ob sich aus dieser Rechtsprechung zumindest Anhaltspunkte für die
Beantwortung der vom Kläger aufgeworfenen Fragen ergeben.
13 2. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO
abgesehen.
14 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und 3 VwGO und § 162 Abs. 3 VwGO.
Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.
Vormeier
Dr. Störmer
Dr. Häußler