Urteil des BVerwG vom 27.06.2013

BVerwG: anfechtungsklage, bindungswirkung, anstalt, verwaltungsakt, beitragsfestsetzung, bezirk, kunst, gebärdensprache, klagebegehren, link

BVerwG 8 AV 2.12
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 8 AV 2.12
VG Frankfurt am Main - 09.11.2012 - AZ: VG 9 K 3854/12.F
In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Juni 2013
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts
Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Deiseroth
und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph
beschlossen:
Der Antrag des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 9. November 2012 auf
Bestimmung des örtlich zuständigen Verwaltungsgerichts wird als unzulässig
verworfen.
Gründe
I
1 Die Klägerin, ein Wertpapierhandelsunternehmen, hat nach erfolglosem
Widerspruchsverfahren beim Verwaltungsgericht Berlin Klage gegen die
Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunternehmen (EdW) mit dem Begehren
erhoben, den von der EdW erlassenen Beitragsbescheid vom 2. März 2010 über 316 527,24 €
sowie den Widerspruchsbescheid der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin)
vom 2. Februar 2011 aufzuheben, mit dem diese den im Ausgangsbescheid geforderten Betrag
auf 312 722,67 € ermäßigt, eine Widerspruchsgebühr von 9 800 € festgesetzt und die Kosten
des Widerspruchsverfahrens zu 98,8 % der Klägerin und zu 1,2 % der EdW auferlegt hatte. Mit
Bescheid vom 15. August 2012 hat die BaFin die Widerspruchsgebühr auf 7 000 € ermäßigt.
2 Nachdem die Klägerin auf gerichtliche Anregung - unter Aufrechterhaltung ihres gegen den
Beitragsbescheid der EdW vom 2. März 2010 gerichteten Begehrens - mit Schriftsatz vom 8.
Oktober 2012 ihre Klage gegen die Festsetzung der Widerspruchsgebühr nunmehr allein gegen
die BaFin gerichtet hatte, hat das Verwaltungsgericht Berlin nach Anhörung der Beteiligten mit
Beschluss vom 16. Oktober 2012 das Klageverfahren gegen die BaFin über die Festsetzung der
Widerspruchsgebühr im Widerspruchsbescheid vom 2. Februar 2011 in Gestalt des
Abänderungsbescheides vom 15. August 2012 abgetrennt, sich dafür für örtlich unzuständig
erklärt und den Rechtsstreit insoweit an das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main verwiesen.
Dieses hat sich seinerseits mit Beschluss vom 9. November 2012 für örtlich unzuständig erklärt
und zur Feststellung der örtlichen Zuständigkeit gemäß § 53 VwGO das
Bundesverwaltungsgericht angerufen.
II
3 Der Antrag ist unzulässig. Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main hat eine nach § 83 Satz
1 VwGO i.V.m. § 17a GVG nicht vorgesehene und damit rechtswidrige Entscheidung getroffen.
4 Nach § 53 Abs. 3 VwGO hat u.a. auf Anrufung eines mit dem Rechtsstreit befassten Gerichts
das nächsthöhere Gericht oder das Bundesverwaltungsgericht das zuständige Gericht innerhalb
der Verwaltungsgerichtsbarkeit (nur) unter den in § 53 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 VwGO normierten
Voraussetzungen zu bestimmen. Eine Entscheidung nach § 53 VwGO ist ausgeschlossen, wenn
das zuständige Gericht feststeht oder sich ohne Anrufung des nächsthöheren oder des
Bundesverwaltungsgerichts ermitteln lässt. § 53 VwGO durchbricht nicht die Regelung über den
gesetzlichen Richter, sondern ergänzt sie für den Fall, dass das Prozessrecht keine oder keine
widerspruchsfreie Zuweisung enthält. Es ist nicht der Sinn des § 53 VwGO, dem
Bundesverwaltungsgericht die Entscheidung von Zweifelsfragen, die sich aus der Auslegung
von § 52 VwGO oder anderen Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung ergeben, gleichsam
in der Art einer Vorabentscheidung zuzuweisen (vgl. u.a. Beschlüsse vom 7. Februar 2006 -
BVerwG 1 AV 1.06 - Buchholz 310 § 53 VwGO Nr. 30 m.w.N. und vom 4. Juni 2007 - BVerwG 2
AV 1.07 - juris m.w.N.).
5 Für das allein auf die Festsetzung der Widerspruchsgebühr im Widerspruchsbescheid vom 2.
Februar 2011 in Gestalt des Abänderungsbescheides vom 15. August 2012 bezogene und
isoliert gegen die BaFin gerichtete Klagebegehren, auf das sich der Vorlagebeschluss
ausschließlich bezieht, steht das örtlich zuständige Gericht bereits fest, so dass der Antrag auf
Bestimmung des örtlich zuständigen Verwaltungsgerichts unzulässig ist.
6 Das Verwaltungsgericht Berlin hat sich mit seinem Beschluss vom 16. Oktober 2012
hinsichtlich des Verfahrens gegen die beklagte BaFin in Bezug auf deren Widerspruchsbescheid
vom 2. Februar 2011 in Gestalt ihres Abänderungsbescheides vom 15. August 2012 betreffend
die Widerspruchsgebühr für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit gemäß § 83 Satz 1
VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG an das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main verwiesen.
Dieser gemäß § 83 Satz 2 VwGO unanfechtbare Beschluss ist für das Gericht, an das verwiesen
worden ist, hinsichtlich der Zuständigkeit bindend (§ 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 3
GVG). Auch das Bundesverwaltungsgericht hat die durch den vorangegangenen
Verweisungsbeschluss ausgelöste Bindungswirkung zu beachten, und zwar unabhängig davon,
ob dieser Beschluss sachlich richtig gewesen ist (vgl. Beschlüsse vom 4. Juni 1993 - BVerwG 9
A 1.93 - juris, vom 15. Juni 1993 - BVerwG 9 A 2.93 - und vom 8. November 1994 - BVerwG 9 AV
1.94 - Buchholz 300 § 17a GVG Nr. 13).
7 Ob eine Vorlage an das Bundesverwaltungsgericht ausnahmsweise dann in Betracht kommt,
wenn Streit über die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses entsteht (vgl. Beschluss
vom 5. März 1993 - BVerwG 11 ER 400.93 - Buchholz 310 § 53 VwGO Nr. 21), bedarf aus
Anlass der vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung. Eine Durchbrechung der
Bindungswirkung ist allenfalls bei „extremen Verstößen“ denkbar (vgl. Beschlüsse vom 14.
November 1975 - BVerwG 6 ER 403.75 - Buchholz 310 § 53 VwGO Nr. 10, vom 1. Dezember
1992 - BVerwG 7 A 4.92 - DÖV 1993, 388 = Buchholz 407.3 VerkPBG Nr. 3, vom 4. Juni 1993
a.a.O. und vom 15. Juni 1993 a.a.O. m.w.N.; Kraft, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 53 Rn.
11). Solche liegen hier nicht vor.
8 Das örtlich zuständige Verwaltungsgericht bestimmt sich bei Anfechtungsklagen gegen den
Verwaltungsakt einer Bundesbehörde oder einer bundesunmittelbaren Anstalt des öffentlichen
Rechts gemäß § 52 Nr. 2 Satz 1 VwGO nach deren Sitz. Die Klägerin hat im Wege der
objektiven Klagehäufung (§ 44 VwGO) Anfechtungsklagen sowohl gegen die im Bescheid der
EdW vom 2. März 2010 in der Gestalt von Ziffer 1 des Widerspruchsbescheides der BaFin
getroffene Sachregelung (Beitragsfestsetzung) als auch - mit gesonderter gebührenrechtlicher
Begründung - gegen die in Ziffer 4 des genannten Widerspruchsbescheides der BaFin in der
Gestalt des Änderungsbescheides vom 15. August 2012 festgesetzte Widerspruchsgebühr
erhoben. Das Verwaltungsgericht Berlin hat angenommen, dass sich das örtlich zuständige
Gericht für die Anfechtungsklage gegen die Widerspruchsgebühr unabhängig von der
Anfechtungsklage gegen die Sachregelung bestimme, und deshalb insoweit das
Verwaltungsgericht Frankfurt am Main als das Verwaltungsgericht, in dessen Bezirk die BaFin
ihren Sitz hat, für zuständig angesehen. Eine willkürliche Verletzung des Anspruchs auf den
gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 VwGO (vgl. dazu u.a. Kraft, in: Eyermann, a.a.O.
§ 53 Rn. 11 m.w.N.) kann darin nicht gesehen werden.
9 Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main meint zwar sinngemäß, das Verwaltungsgericht
Berlin habe die Anfechtungsklage gegen die Widerspruchsgebühr von derjenigen gegen die
Sachregelung nicht trennen dürfen, weil diese für jene vorgreiflich sei. Ob dem zu folgen wäre,
stehe dahin, keinesfalls ergäbe sich hieraus eine willkürliche Verletzung des Anspruchs auf den
gesetzlichen Richter oder ein sonstiger „extremer Verstoß“ gegen die geltenden
Zuständigkeitsvorschriften. Richtig ist, dass die Anfechtungsklage gegen die Sachregelung
insofern vorgreiflich ist, als bei deren Erfolg die Festsetzung der Widerspruchsgebühr ohne
Rücksicht auf die von der Klägerin zusätzlich erhobenen gebührenrechtlichen Einwände keinen
Bestand haben könnte. Dem Verwaltungsgericht Frankfurt am Main ist aber unbenommen,
diesem Umstand dadurch Rechnung zu tragen, dass es das bei ihm anhängige Verfahren bis zur
Entscheidung über die Klage gegen die Sachregelung aussetzt (§ 94 VwGO).
Prof. Dr. Dr. h.c.Rennert
Dr. Deiseroth
Dr. Rudolph