Urteil des BVerwG vom 29.01.2015

BVerwG: kennzeichen, unterlassungsklage, übereinstimmung, grundrechtseingriff, wahrscheinlichkeit, bayern, verwaltungshandeln, speicher, kontrolle, anfechtungsklage

BVerwG 6 C 7.13 [
ECLI:DE:BVerwG:2014:221014U6C7.13.0
]
Rechtsquellen:
GG Art. 2 Abs. 1; Art. 19 Abs. 4
StVO § 23 Abs. 1
PAG Art. 13; Art. 33; Art. 38
Stichworte:
Unterlassungsklage; vorbeugende Unterlassungsklage; Rechtsschutzinteresse; Unterlassungsanspruch; Eingriff; Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung; automatisierte Kennzeichenerfassung; Abgleich mit Fahndungsdateien; fehlende Übereinstimmung; Löschung.
Leitsatz:
Ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung liegt nicht vor, wenn bei Einsatz einer Einrichtung der automatisierten
Erfassung von Kraftfahrzeugkennzeichen und deren Abgleich mit Fahndungsdatenbeständen zwar eine Übereinstimmung des tatsächlich
erfassten Kennzeichens mit einem im Fahndungsbestand vorhandenen Kennzeichen angezeigt wird, ein visueller Abgleich durch den damit
betrauten Polizeibeamten aber eine mangelnde Übereinstimmung ergibt und das erfasste Kennzeichen sofort gelöscht wird, ohne dass die
Anonymität des Inhabers aufgehoben wird.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 6 C 7.13
VG München - 23.09.2009 - AZ: VG M 7 K 08.3052
VGH München - 17.12.2012 - AZ: VGH 10 BV 09.2641
In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 22. Oktober 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Graulich, Dr.
Möller, Hahn und Prof. Dr. Hecker
für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 17. Dezember 2012 wird
zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Gründe
I
1 Der Kläger wendet sich gegen die automatisierte Erfassung und den automatisierten Abgleich seiner jeweiligen Kraftfahrzeugkennzeichen mit
polizeilichen Fahndungsbeständen auf öffentlichen Verkehrsflächen in Bayern.
2 Der Beklagte setzt seit dem Jahr 2006 auf Grundlage von Art. 33 Abs. 2 Satz 2 bis 5 PAG auf seinem Gebiet stationäre und mobile
Kennzeichenerfassungsgeräte ein. Derzeit betreibt er 25 automatisierte Kennzeichenerkennungssysteme, davon 22 stationäre, die insgesamt 30
Fahrspuren abdecken, und drei mobile. Die stationären Systeme sind aktuell auf zwölf Standorte verteilt und befinden sich insbesondere an
Bundesautobahnen. Die mobilen Systeme werden anlassbezogen eingesetzt, z.B. bei internationalen Fußballturnieren oder ähnlichen
Großereignissen. Der jeweilige Standort wird gemäß jährlich aktualisierter Lageerkenntnisse durch das Landeskriminalamt bestimmt. Diese
Lagebeurteilung wird im Innenministerium des Beklagten dokumentiert und der Landesbeauftragte für Datenschutz jährlich hierüber informiert.
3 Die stationären Systeme bestehen aus Kameras, die den fließenden Verkehr auf jeweils einer Fahrspur von hinten erfassen und das
Kennzeichen eines jeden durchfahrenden Fahrzeugs mittels nicht sichtbaren Infrarotblitzes bildlich aufnehmen. Der aus dem digitalen Bild des
Kennzeichens durch eine spezielle (OCR-)Software ausgelesene digitale Datensatz mit den Buchstaben und Ziffern des Kennzeichens wird über
eine Datenleitung an einen am Fahrbahnrand in einem verschlossenen Behälter untergebrachten stationären Rechner weitergeleitet, in dem das
erfasste Kennzeichen automatisch mit verschiedenen im Rechner abgespeicherten (Fahndungs-)Dateien abgeglichen wird. Die erfassten
Kraftfahrzeugkennzeichen werden ausschließlich mit Datensätzen verglichen, die aus Kennzeichen von Kraftfahrzeugen bestehen und aus dem
Sachfahndungsbestand von INPOL sowie für den Schengenbereich von SIS bzw. NSIS stammen. Anlass- und einzelfallbezogen findet auch ein
Abgleich mit spezifischen Dateien (z.B. der Datei „Gewalttäter Sport“) statt. Bei mobilen Systemen erfolgt die Erfassung der Kennzeichen über
am Fahrbahnrand aufgestellte Kameras. Der Abgleich wird über einen mobilen Rechner in einem vor Ort abgestellten Polizeifahrzeug
am Fahrbahnrand aufgestellte Kameras. Der Abgleich wird über einen mobilen Rechner in einem vor Ort abgestellten Polizeifahrzeug
vorgenommen.
4 Das im Bildspeicher (RAM) der automatisierten Kennzeichenerkennungssysteme digital erfasste Bild des Kennzeichens wird dort nach dem
Datenbankabgleich sogleich mit einem Grauwert überschrieben. Die zum Abgleich verwendeten stationären oder mobilen Rechner verfügen über
eine sog. Log-Datei, in der die Kennzeichen jedoch nicht bildlich, sondern in anonymisierter Form und mit einer kryptologischen Hashfunktion
(als sog. MD5-Checksumme) des Kennzeichentextes gespeichert werden. Ergibt sich beim Datenabgleich kein Treffer auf dem jeweiligen
Rechner, wird das aufgenommene Kennzeichen nach dem Abgleich automatisch aus dem Arbeitsspeicher des Rechners gelöscht. Im Fall eines
Treffers, d.h. einer vom System festgestellten Übereinstimmung zwischen dem erfassten Kennzeichen und den auf dem Rechner im
Datenbanksystem abgespeicherten Datensätzen (der Fahndungsdateien) wird der Treffer temporär in der Datenbank auf diesem Rechner
gespeichert und entweder gleichzeitig über eine Datenleitung an den Zentralrechner der Einsatzzentrale des jeweils zuständigen Polizeipräsidiums
übermittelt oder auf dem mobilen Rechner (Notebook) vor Ort am Bildschirm aufgezeigt. Es erfolgt dann jeweils durch die zuständigen
Polizeibeamten eine visuelle Kontrolle der vom System gemeldeten Übereinstimmung. Erweist sich der Treffer als Fehlermeldung, weil das
tatsächlich erfasste und das in einer Fahndungsdatei abgespeicherte Kraftfahrzeugkennzeichen tatsächlich doch nicht übereinstimmen, gibt der
Polizeibeamte durch Betätigen des Buttons „Entfernen“ auf dem Rechner den Befehl, den gesamten Vorgang zu entfernen; in diesem Fall
verbleibt auch auf dem Rechner in der Einsatzzentrale als „Spur“ der Treffermeldung nur noch die MD5-Quersumme. Im Trefferfall, also bei
Übereinstimmung des erfassten mit einem gespeicherten Kraftfahrzeugkennzeichen startet der Polizeibeamte eine manuelle Abfrage bei der
betreffenden Fahndungsdatei, speichert dann den Vorgang bzw. die Daten und veranlasst gegebenenfalls weitere polizeiliche Maßnahmen. Im
Zeitraum Juni bis einschließlich September 2011, für den erstmals detaillierte Zahlen ermittelt wurden, kam es monatlich zu etwa acht Millionen
Kennzeichenerfassungen. Davon waren 40 000 bis 50 000 Treffermeldungen (Übereinstimmungen und Fehlermeldungen) und 500 bis 600 echte
Treffer (nur Übereinstimmungen) pro Monat.
5 Der Kläger hat am 3. Juni 2008 Klage erhoben, gerichtet auf Unterlassung der Erfassung und des Abgleichs seiner Kraftfahrzeugkennzeichen.
Zur Begründung hat er ausgeführt: Er pendele regelmäßig mit einem Personenkraftwagen zwischen seinem Hauptwohnsitz in A. (Bayern) und
einem weiteren Wohnsitz in S. und sei auch ansonsten häufig in Bayern, insbesondere im Grenzgebiet zu Österreich, unterwegs. Seine jährliche
Fahrleistung betrage ca. 25 000 km. Anlässlich dieser zahlreichen Fahrten müsse er damit rechnen, regelmäßig in standortfeste oder mobile
Kennzeichenkontrollen des Beklagten zu geraten. Auch wenn sein Kraftfahrzeugkennzeichen derzeit nicht in einer Fahndungsdatei gespeichert
sei, befürchte er, irrtümlich angehalten und kontrolliert zu werden. Es sei auch nicht ausgeschlossen, dass irgendwann eine Speicherung,
womöglich irrtümlich, erfolgen werde. Durch die mit Sicherheit in der Vergangenheit bereits erfolgte und in Zukunft noch erfolgende Erfassung
und den Abgleich seines Kraftfahrzeugkennzeichens werde er in seinen Grundrechten verletzt. Für den mit der Maßnahme verbundenen
Grundrechtseingriff fehle es an einer wirksamen gesetzlichen Grundlage, da Art. 33 Abs. 2 Satz 2 und 3 sowie Art. 38 Abs. 3 PAG
verfassungswidrig seien.
6 Das Verwaltungsgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof hat die vom Verwaltungsgericht zugelassene
Berufung des Klägers zurückgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt, die Unterlassungsklage sei zulässig. Der Kläger sei aufgrund seiner
zahlreichen Fahrten auf bayerischen Autobahnen mit großer Wahrscheinlichkeit bereits mehrfach von einer Kennzeichenerfassung mit
anschließendem Abgleich betroffen gewesen und müsse auch künftig jederzeit damit rechnen, zumal die Maßnahme heimlich erfolge, sodass er
ihr nicht ausweichen könne und nachträglicher Rechtsschutz nicht in Betracht komme. Die Klage sei aber unbegründet. Kennzeichenerfassung
und -abgleich griffen zwar in den Schutzbereich des Grundrechts des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung ein. Dieser Eingriff beruhe
jedoch auf einer verfassungsgemäßen gesetzlichen Grundlage.
7 Schon an einem Grundrechtseingriff fehle es allerdings beim sog. „Nichttreffer“. In Bayern sei rechtlich und technisch sichergestellt, dass bei
negativem Ergebnis eines unverzüglich nach der Erfassung vorgenommenen Abgleichs die erfassten Kennzeichen anonym blieben und sofort
spurenlos und ohne die Möglichkeit, einen Bezug zum Fahrer, Beifahrer oder Halter eines Fahrzeugs herzustellen, gelöscht würden. Zu einem
Grundrechtseingriff komme es nur dann, wenn ein erfasstes Kennzeichen in einem Speicher festgehalten werde und gegebenenfalls Grundlage
weiterer Maßnahmen werden könne. Das sei nicht nur beim „echten Treffer“ der Fall, d.h. bei tatsächlicher Übereinstimmung der abgeglichenen
Kennzeichen, sondern bereits beim sog. „unechten Treffer“, wenn sich nur infolge einer fehlerhaften Kennzeichenerkennung beim Abgleich mit
dem Fahndungsbestand eine Übereinstimmung ergebe. Weil es relativ häufig zu „unechten Treffern“ komme, bestehe eine hinreichende
Wahrscheinlichkeit, dass auch der Kläger insoweit in den Bereich des Grundrechtseingriffs gerate bzw. bereits geraten sei. Dieser
Grundrechtseingriff finde in den Art. 33 Abs. 2 Satz 2 bis 5 i.V.m. Art. 13 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 sowie Art. 38 Abs. 3 PAG eine verfassungsgemäße
gesetzliche Grundlage.
8 Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Verwaltungsgerichtshof zugelassene Revision des Klägers, zu deren Begründung er im Wesentlichen
vorträgt, Kennzeichenerfassung und -abgleich griffen sowohl in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht als auch sein Grundrecht auf
informationelle Selbstbestimmung ein, und zwar auch bei einem „Nichttreffer“. Das sei jedenfalls deshalb der Fall, weil in Art. 38 Abs. 3 Satz 1
PAG statt einer sofortigen nur eine unverzügliche Löschung angeordnet sei. Auch sei die Spurenlosigkeit der Löschung nicht gewährleistet. Eine
Deanonymisierung sei mit vergleichsweise geringem Aufwand möglich, soweit Kennzeichen als MD5-Codes dauerhaft im Speicher der
verwendeten Rechner verblieben. Die gegenteilige Überzeugungsbildung des Verwaltungsgerichtshofs sei fehlerhaft, weil sie auf einer
unzutreffenden und unvollständigen Tatsachenbasis beruhe, die weiterer Aufklärung im Wege des Sachverständigenbeweises bedurft hätte.
9 Art. 33 Abs. 2 Satz 2 bis 5 und Art. 38 Abs. 3 PAG seien verfassungswidrig. In weiten Teilen fehle dem Beklagten schon die
Gesetzgebungskompetenz. Die Vorschriften verstießen zudem in mehrfacher Hinsicht gegen das Bestimmtheitsgebot. Art. 33 Abs. 2 Satz 2 bis 5,
Art. 38 Abs. 3 PAG genügten auch nicht den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Schließlich sei die Rechtsschutzgarantie des
Art. 19 Abs. 4 GG verletzt, weil die von einem Kennzeichenabgleich Betroffenen hierüber nicht informiert würden. Eine Benachrichtigung sei
ohne Gefährdung des Zwecks der Maßnahme möglich durch hinter den Kontrollstellen aufgestellte Hinweisschilder.
10 Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 17. Dezember 2012 und das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 23.
September 2009 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, es zu unterlassen, durch den verdeckten Einsatz automatisierter
September 2009 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, es zu unterlassen, durch den verdeckten Einsatz automatisierter
Kennzeichenerkennungssysteme Kennzeichen von Kraftfahrzeugen, die auf den Kläger zugelassen sind, zu erfassen und mit polizeilichen
Dateien abzugleichen.
11 Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
12 Er verteidigt das angefochtene Urteil.
13 Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich an dem Verfahren. Auch er verteidigt das angefochtene Urteil.
II
14 Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Das angefochtene Urteil steht im Ergebnis mit Bundesrecht im Einklang.
15 1. Das klägerische Begehren ist als vorbeugende Unterlassungsklage statthaft (a), und es besteht dafür auch eine Klagebefugnis (b).
16 a) Die Unterlassungsklage stellt einen Unterfall der allgemeinen Leistungsklage dar. Mit ihr wird auf die Unterlassung eines öffentlich-
rechtlichen Verwaltungshandelns geklagt. Die Statthaftigkeit dieser Klage begegnet bei drohendem Verwaltungshandeln ohne
Verwaltungsaktsqualität keinen Bedenken. Auch das Unterlassen einer hoheitlichen Maßnahme ist eine Leistung, und bei Verwaltungshandeln
ohne Verwaltungsaktsqualität kann die Zulassung einer Unterlassungsklage auch nicht zur Umgehung der Zulässigkeitsvoraussetzungen einer
Anfechtungsklage führen (Schenke, Verwaltungsprozessrecht 14. Auflage, 2014, Rn. 354). Das vom Kläger angegriffene öffentlich-rechtliche
Verwaltungshandeln liegt im Betrieb von derzeit 25 automatisierten Kennzeichenerkennungssystemen des Beklagten. Sowohl die Erfassung als
auch der Abgleich sind keine Verwaltungsakte im Sinne von Art. 35 Satz 1 BayVwVfG, weshalb eine Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO)
hier nicht in Betracht kommt. Dies hat das Berufungsgericht aus bayerischem Landesrecht bindend abgeleitet.
17 Allerdings wendet der Kläger sich gegen mögliche künftige Eingriffe. Will der Bürger ein Behördenhandeln abwehren, das er mit mehr oder
minder großer Gewissheit erst in der Zukunft erwartet, geht es um eine nur vorbeugende Unterlassungsklage. Verwaltungsrechtsschutz ist
allerdings grundsätzlich nachgängiger Rechtsschutz. Das folgt aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung, der der Gerichtsbarkeit nur die Kontrolle
der Verwaltungstätigkeit aufträgt, ihr aber grundsätzlich nicht gestattet, bereits im Vorhinein gebietend oder verbietend in den Bereich der
Verwaltung einzugreifen. Die Verwaltungsgerichtsordnung stellt darum ein System nachgängigen - ggf. einstweiligen - Rechtsschutzes bereit
und geht davon aus, dass dieses zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) grundsätzlich ausreicht. Vorbeugende Klagen
sind daher nur zulässig, wenn ein besonderes schützenswertes Interesse gerade an der Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes besteht,
wenn mit anderen Worten der Verweis auf den nachgängigen Rechtsschutz - einschließlich des einstweiligen Rechtsschutzes - mit für den Kläger
unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (stRspr; vgl. Urteile vom 12. Januar 1967 - BVerwG 3 C 58.65 - BVerwGE 26, 23 = Buchholz 427.3
§ 338 LAG Nr. 13, vom 8. September 1972 - BVerwG 4 C 17.71 - BVerwGE 40, 323 <326 f.>, vom 29. Juli 1977 - BVerwG 4 C 51.75 -
BVerwGE 54, 211 <214 f.>, vom 7. Mai 1987 - BVerwG 3 C 53.85 - BVerwGE 77, 207 <212> = Buchholz 418.711 LMBG Nr. 16 S. 34 und
vom 25. September 2008 - BVerwG 3 C 35.07 - BVerwGE 132, 64 Rn. 26).
18 Ein solches spezifisches Interesse an vorbeugendem Rechtsschutz ergibt sich vorliegend aus dem Umstand, dass der Beklagte dasjenige
Kennzeichenerfassungssystem, von dem die behaupteten Rechtsverletzungen ausgehen, bereits betreibt und auch weiterhin einsetzen wird. Hinzu
kommt, dass eine polizeiliche Kontrolle mit Hilfe von Kennzeichenerfassungssystemen für den Kläger als Autofahrer nicht erkennbar ist, weil die
Erfassung der einzelnen Kennzeichen beim Passieren der Aufnahmekameras von hinten erfolgt und der verwendete Infrarotblitz unsichtbar ist.
Die Erfassung geschieht damit heimlich mit der Folge, dass der Kläger ihr nicht ausweichen kann. Zudem sind dem Kläger die einzelnen
Standorte der Erfassungssysteme nicht bekannt. Aufgrund der Heimlichkeit der Maßnahme kommt ein nachträglicher Rechtsschutz gegen die
Erkennung und den Datenabgleich nicht in Betracht.
19 b) Die Zulässigkeit der vorbeugenden Unterlassungsklage lässt sich auch nicht wegen fehlender Klagebefugnis analog § 42 Abs. 2 VwGO in
Frage stellen. Es erscheint nach dem Vortrag des Klägers sowie im Lichte der beträchtlichen Erfassungsreichweite der vom Beklagten
betriebenen Systeme möglich, dass ein dem Kläger zuzuordnendes KFZ-Kennzeichen künftig erfasst und gegen polizeiliche Dateien abgeglichen
wird. Ferner erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen, dass hiermit in Rechte des Klägers eingegriffen und diese verletzt werden. Ob
letzteres tatsächlich der Fall ist, ist eine Frage der Begründbarkeit seiner Klage.
20 2. Die Klage ist aber unbegründet. Der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch setzt die begründete Besorgnis voraus, der Beklagte
werde künftig durch sein hoheitliches Handeln rechtswidrig in die geschützte Rechts- und Freiheitssphäre des Klägers eingreifen (Beschluss vom
29. April 1985 - BVerwG 1 B 149.84 - juris Rn. 9). Die erhobene Unterlassungsklage setzt für ihren Erfolg somit voraus, dass dem Kläger durch
die Anwendung der gesetzlichen Vorschriften über die automatisierte Kennzeichenerfassung (a) mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein
Eingriff in sein grundrechtlich geschütztes Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Unterfall des allgemeinen Persönlichkeitsrechts droht
(b). Das ist nach den tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs, an die das Bundesverwaltungsgericht als Revisionsgericht
gebunden ist, nicht der Fall.
21 a) Der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch richtet sich nur gegen hoheitliche Maßnahmen. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Nach
den Feststellungen im Berufungsurteil beruht die vom Kläger angegriffene automatisierte Kraftfahrzeug-Kennzeichenüberwachung durch den
Beklagten auf den polizeirechtlichen Normen der Art. 33 Abs. 2 Satz 2 bis 5 i.V.m. Art. 13 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 sowie Art. 38 Abs. 3 des Gesetzes
über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei (Polizeiaufgabengesetz - PAG) in der Fassung der Bekanntmachung vom
14. September 1990 (GVBl S. 397), zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. Juli 2014 (GVBl S. 286) und ist somit hoheitlicher Natur.
22 b) Dem Kläger droht nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in sein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.
23 aa) Ein KFZ-Kennzeichen ist als personenbezogenes Datum in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung
einbezogen. Zwar offenbart die Buchstaben-Zahlen-Kombination, aus der es besteht, aus sich heraus noch nicht diejenige Person, der das
einbezogen. Zwar offenbart die Buchstaben-Zahlen-Kombination, aus der es besteht, aus sich heraus noch nicht diejenige Person, der das
Kennzeichen als Halter zuzuordnen ist. Diese Person ist jedoch durch Abfragen aus dem Fahrzeugregister (vgl. §§ 31 ff. StVG) bestimmbar.
Dies genügt für den Einbezug in den grundrechtlichen Schutzbereich.
24 bb) Der grundrechtliche Schutz entfällt nicht schon deshalb, weil die betroffene Information öffentlich zugänglich ist, wie es für KFZ-
Kennzeichen, die der Identifizierung dienen, sogar vorgeschrieben ist (§ 23 Abs. 1 Satz 3 StVO). Auch wenn der Einzelne sich in die
Öffentlichkeit begibt, schützt das Recht der informationellen Selbstbestimmung dessen Interesse, dass die damit verbundenen personenbezogenen
Informationen nicht im Zuge automatisierter Informationserhebung zur Speicherung mit der Möglichkeit der Weiterverwertung erfasst werden
(vgl. BVerfG, Urteil vom 11. März 2008 - 1 BvR 2074/05 u.a. - BVerfGE 120, 378 <399>).
25 cc) Der Schutzumfang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung beschränkt sich nicht auf Informationen, die bereits ihrer Art nach
sensibel sind und schon deshalb grundrechtlich geschützt werden. Auch der Umgang mit personenbezogenen Daten, die für sich genommen -
wie im Falle von KFZ-Kennzeichen - nur geringen Informationsgehalt haben, kann, je nach seinem Ziel und den bestehenden Verarbeitungs-
und Verknüpfungsmöglichkeiten, grundrechtserhebliche Auswirkungen auf die Privatheit und Verhaltensfreiheit des Betroffenen haben. Insofern
gibt es unter den Bedingungen der elektronischen Datenverarbeitung kein schlechthin, also ungeachtet des Verwendungskontextes, belangloses
personenbezogenes Datum mehr (vgl. BVerfG, Urteil vom 11. März 2008 a.a.O. S. 398 f.).
26 dd) Auch dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Erfassung eines größeren Datenbestandes letztlich nur Mittel zum Zweck für eine
weitere Verkleinerung der Treffermenge ist, kann bereits in der Informationserhebung ein Eingriff liegen, soweit sie die Informationen für die
Behörden verfügbar macht und die Basis für einen nachfolgenden Abgleich mit Suchkriterien bildet. Maßgeblich ist, ob sich bei einer
Gesamtbetrachtung mit Blick auf den durch den Überwachungs- und Verwendungszweck bestimmten Zusammenhang das behördliche Interesse
an den betroffenen Daten bereits derart verdichtet hat, dass ein Betroffensein in einer einen Grundrechtseingriff auslösenden Qualität zu bejahen
ist (vgl. BVerfG, Urteil vom 11. März 2008 a.a.O. S. 398).
27 Dies zugrunde gelegt, bilden Datenerfassungen keinen für die Annahme eines Grundrechtseingriffs hinreichenden Gefährdungstatbestand,
soweit die Daten unmittelbar nach der Erfassung technisch wieder spurenlos, anonym und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug
herzustellen, ausgesondert werden. Zu einem Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung kommt es daher in
den Fällen der elektronischen Kennzeichenerfassung dann nicht, wenn der Abgleich mit dem Fahndungsbestand unverzüglich vorgenommen
wird und negativ ausfällt (sogenannter Nichttrefferfall) sowie zusätzlich rechtlich und technisch gesichert ist, dass die Daten anonym bleiben und
sofort spurenlos und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, gelöscht werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 11. März 2008 a.a.O.
S. 399). Demgegenüber kommt es zu einem Eingriff in das Grundrecht, wenn ein erfasstes Kennzeichen im Speicher festgehalten wird und
gegebenenfalls Grundlage weiterer Maßnahmen werden kann. Darauf vor allem ist die Maßnahme gerichtet, wenn das Kraftfahrzeugkennzeichen
im Fahndungsbestand aufgefunden wird. Ab diesem Zeitpunkt steht das erfasste Kennzeichen zur Auswertung durch staatliche Stellen zur
Verfügung und es beginnt die spezifische Persönlichkeitsgefährdung für Verhaltensfreiheit und Privatheit, die den Schutz des Grundrechts auf
informationelle Selbstbestimmung auslöst (vgl. BVerfG, Urteil vom 11. März 2008 a.a.O. S. 399 f.).
28 Ausgehend von diesen durch das Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben ist im vorliegenden Fall für die Konstellation des
„Nichttreffers“ die Eingriffsqualität von Erfassung und Abgleich eines KFZ-Kennzeichens zu verneinen. Nach den Feststellungen des
Verwaltungsgerichtshofs vollzieht sich beides in dieser Konstellation ohne zeitlichen Verzug in vollständig automatisierter Weise und ist ferner
gesichert, dass die Daten einer menschlichen Kenntnisnahme unzugänglich bleiben.
29 Auch für die Konstellation des „unechten“ Treffers, die im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. März 2008 keiner gesonderten
Würdigung unterzogen worden ist, ist die Eingriffsqualität der Maßnahme zu verneinen. Zwar wird das erfasste Kennzeichen in dieser
Konstellation durch den Polizeibeamten, der mit dem visuellen Abgleich betraut ist, zur Kenntnis genommen. Der Polizeibeamte beschränkt sich
jedoch nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs auf die Vornahme dieses Abgleichs und löscht den Vorgang umgehend, wenn der
Abgleich negativ ausfällt. In diesem Stadium ist das behördliche Interesse an den betroffenen Daten nicht bereits derart verdichtet, dass - bezogen
auf den Inhaber des KFZ-Kennzeichens - ein Betroffensein in einer einen Grundrechtseingriff auslösenden Qualität zu bejahen ist. Das
behördliche Interesse ist in diesem Stadium nur ein systembezogenes Korrekturinteresse. Mithilfe des visuellen Abgleichs soll ausgeschlossen
werden, dass aufgrund des unvollkommenen Lesemodus des Systems polizeiliche Maßnahmen in Bezug auf Kennzeichen eingeleitet werden, die
zwar im Fahndungsbestand notiert sind, tatsächlich aber die Erfassungsstelle gar nicht passiert haben. Der Inhaber des tatsächlich erfassten
Kennzeichens hat insoweit nicht mehr hinzunehmen als eine lediglich kurzzeitige Wahrnehmung der Buchstaben-Zahlen-Kombination durch den
Polizeibeamten, der seinerseits nicht über die rechtliche Befugnis verfügt - und auch der Sache nach keinen Anlass hätte -, eine Abfrage aus dem
Fahrzeugregister vorzunehmen. Die Anonymität des Inhabers bleibt folglich gewahrt.
30 In der Konstellation des „echten“ Treffers wird hingegen die Eingriffsschwelle überschritten. Hat der abgleichende Polizeibeamte die vom
System gegebene Treffermeldung verifiziert, verdichtet sich das behördliche Interesse an den Daten. Durch die vorgesehene manuelle Abfrage
aus der Fahndungsdatei wird die Identität des Kennzeicheninhabers gelüftet. Durch die weiter vorgesehene Abspeicherung des Vorgangs werden
die gewonnenen Daten über Zeitpunkt und Ort der Erfassung für den Staat verfügbar gemacht. Dieser ist hierdurch in die Lage versetzt, weitere
Maßnahmen gegen den Betroffenen einleiten zu können. Der Betroffene ist hierdurch in einer einen Grundrechtseingriff auslösenden Qualität
berührt.
31 ee) Im vorliegenden Fall kann es hinsichtlich der Person des Klägers zum Szenarium eines „echten“ Treffers nach derzeitigem Sachstand nicht
kommen, da nach den vorinstanzlichen Feststellungen sein KFZ-Kennzeichen nicht im Fahndungsbestand gespeichert ist. Die bloße Eventualität,
es könnte zukünftig zu einer solchen Speicherung kommen, muss außer Betracht bleiben. Der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch
vermittelt keine Handhabe, ein behördliches Handeln abzuwehren, dem nur bei künftigem Hinzutreten außergewöhnlicher Umstände
Eingriffsqualität gegenüber dem Anspruchsteller zuwüchse.
32 3. Die Kosten der ohne Erfolg eingelegten Revision fallen dem Kläger zur Last (§ 154 Abs. 2 VwGO).
Neumann
Dr. Graulich
Dr. Graulich
Dr. Möller
Hahn
Prof. Dr. Hecker