Urteil des BVerfG vom 17.03.2005

BVerfG: verfassungsbeschwerde, niedersachsen, papier, besitz, ausländer, grundrecht, ausnahme, betrug, ersetzung, entlastung

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1036/04 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau N...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Fred-J. Hullerum und Koll.,
Schießgrabenstraße 11, 21335 Lüneburg -
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Bundessozialgerichts vom 15. April 2004 - B 10 EG 2/04 B -,
b) das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 3. Dezember 2003 - L 2
EG 12/02 -,
c) das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 15. August 2002 - S 8 EG 7/00 -,
d) den Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Lüneburg vom 9. November 2000 -
107.13-43185-63/00 -,
2. mittelbar gegen
§ 1 Abs. 1 a Satz 1 des Gesetzes über die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub in der Fassung des
Gesetzes über Maßnahmen zur Bewältigung der finanziellen Erblasten im Zusammenhang mit der Herstellung der
Einheit Deutschlands, zur langfristigen Sicherung des Aufbaus in den neuen Ländern, zur Neuordnung des
bundesstaatlichen Finanzausgleichs und zur Entlastung der öffentlichen Haushalte (Gesetz zur Umsetzung des
Föderalen Konsolidierungsprogramms - FKPG) vom 23. Juni 1993 (BGBl I S. 944)
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Steiner,
Gaier
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a und § 93 c BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom
11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 17. März 2005 einstimmig beschlossen:
1. Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 3. Dezember 2003 - L 2 EG 12/02 - verletzt
die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil wird
aufgehoben. Die Sache wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Damit wird der Beschluss des
Bundessozialgerichts vom 15. April 2004 - B 10 EG 2/04 B - gegenstandslos.
2. Die Bundesrepublik Deutschland hat der Beschwerdeführerin die für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde
notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Nichtgewährung von Erziehungsgeld an Ausländer, die lediglich über eine
Aufenthaltsbefugnis verfügen.
I.
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1. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen § 1 Abs. 1 a Satz 1 des Gesetzes über die Gewährung von
Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub (BErzGG) in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen
Konsolidierungsprogramms (FKPG) vom 23. Juni 1993 (BGBl I S. 944). Nach dieser Regelung stand Ausländern, die
lediglich über eine Aufenthaltsbefugnis verfügten, seit dem 27. Juni 1993 anders als zuvor kein Anspruch auf
Erziehungsgeld zu. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli 2004 (1 BvR 2515/95, NVwZ 2005, S. 319 ff.) verwiesen.
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2. Die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann leben seit 1990 in Deutschland. Für beide wurden im Februar 2000 die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes (AuslG) in der Fassung vom 9. Juli 1990 (BGBl I S. 1354)
festgestellt. Sie erhielten daraufhin eine Aufenthaltsbefugnis. Im Juli 2000 brachte die Beschwerdeführerin einen Sohn
zur Welt. Ihr Antrag auf Bewilligung von Erziehungsgeld wurde abgelehnt, weil sie nur im Besitz einer
Aufenthaltsbefugnis sei. Auch im Klagverfahren hatte sie keinen Erfolg. Das Landessozialgericht wies ihre Berufung
gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts zurück. § 1 Abs. 1 a Satz 1 BErzGG in der Fassung des FKPG
sei verfassungsgemäß. Das Bundessozialgericht verwarf die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig.
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3. In ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG.
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4. Die Äußerungsberechtigten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
II.
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Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde nach § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur
Entscheidung an und gibt ihr nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG statt. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen
vor.
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1. Durch die Versagung des Erziehungsgeldes, das im fraglichen Zeitraum für zwei Jahre gewährt wurde und
600 DM im Monat betrug, ist der Beschwerdeführerin ein hinreichend schwerer Nachteil entstanden. Die für die
Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits
entschieden. Der Erste Senat hat mit Beschluss vom 6. Juli 2004 die Vorschrift des § 1 Abs. 1 a Satz 1 BErzGG in
der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Fassung mit Art. 3 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt (vgl. NVwZ
2005, S. 319 <320 f.>).
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2. Danach beruhen die mit der Verfassungsbeschwerde unmittelbar angegriffenen Gerichts- und
Verwaltungsentscheidungen - mit Ausnahme des Beschlusses des Bundessozialgerichts - auf einer mit Art. 3 Abs. 1
GG unvereinbaren Norm und sind deshalb verfassungswidrig (vgl. BVerfG, NvwZ 2005, S. 319 <321>). Nach § 95
Abs. 2 BVerfGG ist das angegriffene Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben. Die Sache ist an das
Landessozialgericht zurückzuverweisen. Der Beschluss des Bundessozialgerichts, mit dem nur über die Zulassung
der Revision entschieden wurde, wird gegenstandslos (vgl. BVerfGE 76, 143 <170>). Das Landessozialgericht hat das
Verfahren bis zu einer Ersetzung der verfassungswidrigen Regelung durch eine Neuregelung, längstens bis zum 1.
Januar 2006, auszusetzen. Kommt eine Neuregelung bis zu diesem Zeitpunkt nicht zu Stande, so ist auf das
Verfahren das bis zum 26. Juni 1993 geltende Recht anzuwenden (vgl. BVerfG, a.a.O.).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Steiner
Gaier