Urteil des BVerfG vom 28.09.2013

BVerfG: öffentliche sicherheit, aufschiebende wirkung, verfassungsbeschwerde, erlass, kunstfreiheit, verhinderung, gewalt, verfügung, gefahr, wahrscheinlichkeit

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvQ 42/13 -
In dem Verfahren
über den Antrag,
im Wege der einstweiligen Anordnung
unter Abänderung des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 27.
September 2013 - OVG 1 S 245.13 - die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des
Antragstellers gegen die Verbotsverfügung der Gemeinde S. vom 23. September 2013 mit der
Maßgabe wiederherzustellen, dass dem Antragsteller auferlegt wird,
- zwei Zivilbeamte des Staatsschutzes des LKA Brandenburg zur Überwachung in die
Veranstaltung einzulassen,- an die Konzertteilnehmer bekanntzugeben, dass sich zwei Beamte
in den Verstaltungsräumen befinden,- die der Antragsgegnerin im Verfahren vorgelegte
Hausordnung vor Beginn des Konzertes zu verlesen, wobei ausdrücklich die Intonation und
Gestikulation strafbarer Inhalte, insbesondere des U-Bahn-Liedes und des Liedes „Hoch auf dem
gelben Wagen“ untersagt wird und jegliche strafrechtlich relevanten Zwischenrufe untersagt
werden,
- dass nur die Lieder gemäß der beiliegenden Liedliste gespielt werden dürfen,
- dass die Intonation „ACAB“ und auch ausgesprochen „all cops are bastards“ sowohl in
gesprochener wie gesungener Form untersagt wird
Antragsteller: B…,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Braeske, Hohnstädter, Thomas, Otto,
Körnerstraße 68, 04107 Leipzig -
in dem die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Gaier,
Eichberger,
Paulus
gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 28. September 2013 einstimmig
beschlossen hat, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt wird,
wird gemäß § 32 Abs. 5 Satz 2 BVerfGG die Begründung gesondert übermittelt.
Gründe:
1
Der Antragsteller ist Mitglied einer Musikband. Mit seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung wendet er sich gegen ein unter Anordnung sofortiger Vollziehung ausgesprochenes
Verbot einer angemeldeten Konzertveranstaltung dieser Musikband.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand
durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur
Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl
dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des
angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der
Antrag auf Eilrechtsschutz hat jedoch keinen Erfolg, wenn im Hauptsacheverfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde unzulässig oder offensichtlich
unbegründet wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 111, 147 <152 f.>; stRspr). Erweist sich eine
Verfassungsbeschwerde weder als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet,
sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, eine
Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die
entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, einer
Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 96, 120
<128 f.>; stRspr).
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2. Danach fehlt es hier an den Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
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Dabei kann offen bleiben, ob eine Verfassungsbeschwerde im vorliegenden Fall von vornherein
unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre. Denn angesichts der Kürze der Zeit ist der
Kammer jedenfalls eine eigene Folgenabwägung nicht möglich. Eine verantwortliche Abwägung
ist im Rahmen der Entscheidung über eine einstweilige Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG
nur in voller Kenntnis der hierfür maßgeblichen Umstände möglich. Fehlt es an einer
realistischen Möglichkeit, sich diese zu verschaffen, und ist insbesondere in der zur Verfügung
stehenden Zeit feststellbar, dass die Ausgangsentscheidungen die verfassungsrechtlichen
Grundsätze nicht verkannt haben, die für eine solche Abwägung gelten, sieht sich das
Bundesverfassungsgericht zu einer abweichenden Beurteilung außerstande (vgl. BVerfGE 56,
244 <246>; 72, 299 <301>; 83, 158 <161>).
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ging am Tag der geplanten
Konzertveranstaltung, einem Samstag, um 9:24 Uhr bei der zentralen Faxstelle des
Bundesverfassungsgerichts ein; aus organisatorischen Gründen bat der Antragsteller um eine
Entscheidung bis 13:00 Uhr. Das Gericht kann sich unter den aufgezeigten zeitlichen
Bedingungen kein hinreichend zuverlässiges Bild darüber machen, welche Gefahren bei
Durchführung des Konzerts zu besorgen und welche Maßnahmen zu deren Verhinderung
geboten und noch möglich sind.
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Die Ausgangsentscheidungen lassen im Übrigen erkennen, dass die Verwaltungsbehörde und
die Fachgerichte die einschlägigen verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht verkannt haben.
Sie gelangten zu der Einschätzung, dass die geplante Durchführung des Konzerts eine Gefahr
für die öffentliche Sicherheit im Sinne von § 13 Abs. 1 des Gesetzes über Aufbau und
Befugnisse der Ordnungsbehörden (Ordnungsbehördengesetz - OBG Bbg -) begründet, weil mit
hoher Wahrscheinlichkeit mit der Verletzung von Strafvorschriften (insbesondere §§ 86a, 130
StGB) zu rechnen sei. Diese Gefahrenprognose war nicht auf bloße Vermutungen, sondern auf
umfangreiche Tatsachenfeststellungen gestützt.
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Die Verwaltungsbehörde und das Oberverwaltungsgericht haben zugunsten des Antragstellers
angenommen, das Konzertverbot stelle einen Eingriff in die durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG
gewährleistete Kunstfreiheit dar. Die Kunstfreiheit ist nicht mit einem ausdrücklichen
Gesetzesvorbehalt versehen. Sie ist aber nicht schrankenlos gewährleistet, sondern findet ihre
Grenzen unmittelbar in anderen Bestimmungen der Verfassung, die ein in der
Verfassungsordnung des Grundgesetzes ebenfalls wesentliches Rechtsgut schützen (vgl.
BVerfGE 30, 173 <193>; 83, 130 <139>; 119, 1 <23>). In allen Fällen, in denen andere
Verfassungsgüter mit der Ausübung der Kunstfreiheit in Widerstreit geraten, muss ein
verhältnismäßiger Ausgleich der gegenläufigen, gleichermaßen verfassungsrechtlich
geschützten Interessen mit dem Ziel ihrer Optimierung gefunden werden (vgl. BVerfGE 81, 278
<292 f.>); der Konflikt zwischen der Kunstfreiheit und anderen verfassungsrechtlich geschützten
Rechtsgütern ist also im Wege fallbezogener Abwägung zu lösen (vgl. BVerfGE 77, 240 <253>;
119, 1 <28 f.>).
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Die im Eilverfahren getroffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts lässt hinreichend
erkennen, dass eine solche Abwägung vorgenommen wurde. Seine Einschätzung, die zu
besorgende Begehung von Straftaten nach §§ 86a und 130 StGB stelle eine Gefährdung des
demokratischen Rechtsstaats dar, die auch im Lichte der Kunstfreiheit nicht hingenommen
werden könne, verkennt die Gewährleistung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Gaier
Eichberger
Paulus