Urteil des BVerfG vom 20.11.2013

BVerfG: verfassungsbeschwerde, kinderbetreuung, erlöschen, anhörung, amtsstelle, mitbewerber, verfügung, rechtsschutz, staatsprüfung, anteil

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 63/12 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Rechtsanwältin M…
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Prof. Dr. Volkert Vorwerk,
Erbprinzenstraße 27, 76133 Karlsruhe -
gegen
a)
das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21. November 2011 -
NotZ(Brfg) 3/11 -,
b)
das Urteil des Oberlandesgerichts Celle, zugestellt am 11. Februar
2011 - Not 18/10 -,
c)
den Bescheid des Präsidenten des Oberlandesgerichts Celle vom
24. Juni 2010 - 10 M 419 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Gaier,
Schluckebier,
Paulus
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.
August 1993 (BGBl I S. 1473) am 20. November 2013 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die erneute Bestellung einer früheren Notarin nach einer
vorübergehenden Amtsniederlegung nach § 48b der Bundesnotarordnung (BNotO).
2
1. a) §§ 48b und 48c BNotO regeln die vorübergehende Niederlegung des Notaramts. Die
Vorschriften lauten:
3
§ 48b
(1) Wer als Notarin oder als Notar
1. mindestens ein Kind unter achtzehn Jahren oder
2. einen nach amtsärztlichem Gutachten pflegebedürftigen sonstigen Angehörigen
tatsächlich betreut oder pflegt, kann das Amt mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde
vorübergehend niederlegen.
(2) Die Dauer der Amtsniederlegung nach Absatz 1 darf auch in Verbindung mit der
Amtsniederlegung nach § 48c zwölf Jahre nicht überschreiten.
§ 48c
(1) Erklärt der Notar mit dem Antrag auf Genehmigung der vorübergehenden Amtsniederlegung
nach § 48b, sein Amt innerhalb von höchstens einem Jahr am bisherigen Amtssitz wieder
antreten zu wollen, wird er innerhalb dieser Frist dort erneut bestellt. § 97 Abs. 3 Satz 2 gilt
entsprechend.
(2) Nach erneuter Bestellung am bisherigen Amtssitz ist eine nochmalige Amtsniederlegung
nach Absatz 1 innerhalb der nächsten beiden Jahre ausgeschlossen; § 48b bleibt unberührt. Die
Dauer mehrfacher Amtsniederlegungen nach Absatz 1 darf drei Jahre nicht überschreiten.
4
Die vorübergehende Niederlegung des Notaramts führt nach § 47 Nr. 7 BNotO sowohl im Fall
des § 48b BNotO als auch im Fall des § 48c BNotO zu dessen Erlöschen.
5
b) Bewerber um eine Notarstelle sind nach § 6b Abs. 1 Halbsatz 1 BNotO durch Ausschreibung
zu ermitteln. Dies gilt gemäß § 6b Abs. 1 Halbsatz 2 BNotO nicht bei einer erneuten Bestellung
nach einer vorübergehenden Amtsniederlegung innerhalb der Jahresfrist gemäß § 48c BNotO.
6
Notarstellen werden nach Maßgabe des § 6 Abs. 1 BNotO vergeben. Die Reihenfolge bei der
Auswahl unter mehreren geeigneten Bewerbern richtet sich nach der persönlichen und der
fachlichen Eignung unter Berücksichtigung der die juristische Ausbildung abschließenden
Staatsprüfung und der bei der Vorbereitung auf den Notarberuf gezeigten Leistungen (§ 6 Abs. 3
Satz 1 BnotO). Im Fall des Anwaltsnotariats nach § 3 Abs. 2 BNotO wird die fachliche Eignung
nach Punkten bewertet; die Punktzahl bestimmt sich zu 60 % nach dem Ergebnis der notariellen
Fachprüfung und zu 40 % nach dem Ergebnis der die juristische Ausbildung abschließenden
Staatsprüfung, soweit nicht bei einem Bewerber, der Notar ist oder war, im Einzelfall nach
Anhörung der Notarkammer ausnahmsweise besondere, die fachliche Eignung vorrangig
kennzeichnende Umstände zu berücksichtigen sind (§ 6 Abs. 3 Satz 3 BNotO).
7
2. a) Die Beschwerdeführerin ist seit 1982 als Rechtsanwältin zugelassen und wurde im Jahr
1994 zur Notarin bestellt. Die am Ausgangsverfahren beteiligte Dienstaufsichtsbehörde (im
Folgenden: Beklagter) gestattete ihr im Jahr 2004 die vorübergehende Amtsniederlegung für
einen längeren Zeitraum als ein Jahr. Nach der vorübergehenden Niederlegung des Notaramts
der Beschwerdeführerin war in ihrem früheren Amtsbereich zunächst kein neuer Notar bestellt
worden. Im Jahr 2010 beantragte die Beschwerdeführerin, ihr das Notaramt wieder zu erteilen.
8
b) Der Beklagte wies den Antrag zurück. In den Fällen der Amtsniederlegung für mehr als ein
Jahr sei für die Bestellung die Ausschreibung einer Notarstelle notwendig. Für eine solche
Ausschreibung bestehe aber aufgrund der konkreten Bedarfsplanung derzeit kein Bedürfnis.
9
Nachdem das Oberlandesgericht die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage abgewiesen
hatte, blieb auch die Berufung der Beschwerdeführerin vor dem Bundesgerichtshof ohne Erfolg.
Die Beschwerdeführerin habe keinen Anspruch auf erneute Bestellung zur Notarin an ihrem
bisherigen Amtssitz. Zwar lege der Wortlaut des § 48b BNotO die Annahme nahe, der Notar
könne nach Ablauf des Zeitraums der Niederlegung sein Amt ohne weiteres wieder aufnehmen.
Ein derartiges Verständnis der Norm lasse aber den Gesamtzusammenhang des Gesetzes
sowie Sinn, Zweck und Entstehungsgeschichte der Bestimmung außer Acht. Der Gesetzgeber
habe sich bewusst dafür entschieden, dem Notar, der sein Amt für mehr als ein Jahr aus
familiären Gründen niederlege, keinen Wiederbestellungsanspruch einzuräumen. Trotz
geäußerter Bedenken, dass die Regelung keine entscheidende Verbesserung hinsichtlich der
Vereinbarkeit von Beruf und Familie bringe, habe der Gesetzgeber an der Bestimmung
festgehalten. Der Umstand, dass ein Bewerber um eine Stelle als Anwaltsnotar schon einmal
eine Notarstelle innegehabt und sein Amt gemäß § 48b BNotO für mehr als ein Jahr
vorübergehend niedergelegt habe, werde aber bei einer künftigen Auswahlentscheidung gemäß
§ 6 BNotO Berücksichtigung finden müssen. Hingegen könne § 48b BNotO im Wege der
verfassungskonformen Auslegung kein Anspruch auf Wiederbestellung am bisherigen Amtssitz
entnommen werden. Die Bestimmung sei nicht verfassungswidrig.
10
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer
Grundrechte aus Art. 3, Art. 6 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG.
11
4. Dem Bundeskanzleramt, dem Bundesministerium des Innern, dem Bundesministerium der
Justiz, den Justizministerien der Bundesländer, der Bundesnotarkammer, dem Deutschen
Anwaltverein e.V., dem Deutschen Juristinnenbund e.V. und dem Republikanischen
Anwältinnen- und Anwälteverein e.V. sowie dem Beklagten wurde Gelegenheit zur
Stellungnahme gegeben.
12
Der Beklagte hat in seiner Stellungnahme darauf hingewiesen, dass zwischenzeitlich eine
Notarstelle für den Amtsgerichtsbezirk der Beschwerdeführerin ausgeschrieben worden sei. Er
habe der Bewerbung der Beschwerdeführerin nicht entsprochen. Auch bei einem Absehen von
dem Erfordernis einer notariellen Fachprüfung (§ 7a BNotO) hätten die Leistungen der
Beschwerdeführerin nicht an die ihrer Mitbewerber herangereicht. Die Beschwerdeführerin habe
gegen diese Entscheidung zwar rechtzeitig Klage erhoben, von der Einlegung eines Antrags im
einstweiligen Rechtsschutzverfahren aber bewusst abgesehen und trotz ausdrücklichen
Hinweises die Aushändigung der Urkunde an einen in der Rechtsanwaltssozietät der
Beschwerdeführerin tätigen Rechtsanwalt nicht verhindert.
13
Hierauf hat die Beschwerdeführerin erwidert, sie müsse den Ausführungen des Beklagten zur
Einschätzung ihrer Leistungen widersprechen, weil sie bisher noch keinen Einblick in die
Bewerbungsunterlagen der Konkurrenten habe nehmen können. Von einstweiligem
Rechtsschutz gegen die Bestellung ihres Sozius zum Notar habe sie mit Blick auf die berufliche
Zusammenarbeit und auf die ungewissen Modalitäten ihrer Wiederbestellung zur Notarin
abgesehen.
14
Die Akten des Ausgangsverfahrens waren beigezogen.
II.
15
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Voraussetzungen des
§ 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist
insbesondere nicht zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt. Die
Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der Grundsatz der Subsidiarität der
Verfassungsbeschwerde nicht beachtet worden ist.
16
Dieser Subsidiaritätsgrundsatz erfordert, dass ein Beschwerdeführer über das Gebot der
Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung
stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um es gar nicht erst zu dem Verfassungsverstoß
kommen zu lassen beziehungsweise um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem
unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu
beseitigen (vgl. BVerfGE 81, 97 <102 f.>; 86, 15 <22>; 110, 1 <12>; 125, 104 <120>). Wie für
jede Zulässigkeitsvoraussetzung (vgl. dazu BVerfGE 106, 210 <214>) gilt auch für das
Subsidiaritätsgebot, dass ihm im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
genügt sein muss.
17
1. Allerdings steht der Zulässigkeit nicht entgegen, dass die Beschwerdeführerin anstelle der
vorübergehenden Amtsniederlegung nicht die Möglichkeit der Bestellung eines ständigen
Vertreters gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BNotO genutzt hat, um ihre - durch die
Betreuung ihres Kindes bedingte - Verhinderung an der Amtsausübung zu überbrücken. Die
Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde wird nur dann missachtet, wenn der Gebrauch einer
anderen Möglichkeit, die Grundrechtsverletzung zu verhindern oder zu beseitigen, einem
Beschwerdeführer auch zumutbar ist (vgl. BVerfGE 102, 197 <207>; 104, 65 <71>). Daran fehlt
es hier. Obgleich mit der Vertreterbestellung ein Erlöschen des Notaramts verhindert worden
wäre, war der Beschwerdeführerin dieser Weg nicht zumutbar. Zum einen hätte ein Vertreter das
Amt nach § 41 Abs. 1 Satz 1 BNotO auf Kosten der Beschwerdeführerin versehen, während zum
anderen die Vertreterbestellung nur durch die Aufsichtsbehörde erfolgen kann und eine solche
Maßnahme nach § 39 Abs. 1 Satz 2 BNotO in der Regel die Dauer eines Jahres nicht
überschreiten soll. Zwar könnten gerade Kindererziehungszeiten mit Blick auf das Eltern- und
Familiengrundrecht des Art. 6 GG der zuständigen Landesjustizverwaltung Anlass geben, bei
der Dauer einer Vertreterbestellung großzügiger zu verfahren und die Jahresfrist in geeigneten
Fällen zu überschreiten. Auf diese Möglichkeit kann die Beschwerdeführerin aber nicht in
zumutbarer Weise verwiesen werden, solange für sie nicht - etwa aufgrund einer Selbstbindung
der Aufsichtsbehörde durch allgemeine Verfügung - vorhersehbar und berechenbar ist, ob und
unter welchen Voraussetzungen eine Vertreterbestellung auch über die Jahresfrist hinaus für die
gesamte Dauer ihrer Beanspruchung durch Kinderbetreuung erfolgen wird.
18
2. Die Beschwerdeführerin hat dem Subsidiaritätsgebot aber deshalb nicht entsprochen, weil sie
ihre Bestellung auf die zwischenzeitlich in ihrem früheren Amtsbereich ausgeschriebene
Notarstelle nicht in erfolgversprechender Weise verfolgt und damit eine Möglichkeit nicht genutzt
hat, um die von ihr gerügte Verletzung von Grundrechten in einem hierfür geeigneten Verfahren
zu beseitigen. Obgleich sie von der Landesjustizverwaltung über die Konsequenzen belehrt
worden war, hat die Beschwerdeführerin mit Rücksicht auf ihren Anwaltssozius bewusst davon
Abstand genommen, zur Sicherung ihres Zugangs zu der von ihr begehrten Notarstelle in ihrem
Amtsgerichtsbezirk einstweiligen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.
19
a) Mit der von ihr hingenommenen Bestellung eines mit ihr konkurrierenden Bewerbers zum
Notar hat sich die Beschwerdeführerin selbst den Weg verstellt, die von ihr geltend gemachte
Grundrechtsverletzung auf einfachere Weise als im vorliegenden Verfahren zu beseitigen.
Wegen des Grundsatzes der Ämterstabilität (vgl. BGH, Beschluss vom 15. November 2010 -
NotZ 4/10 -, NJW-RR 2011, S. 412 f.), dessen Geltung nach fachgerichtlicher Rechtsprechung
nur im Fall einer - hier nicht gegebenen - Rechtsschutzverhinderung durch den Dienstherrn in
Frage steht (vgl. BVerwGE 138, 102), hat das Unterlassen der Beschwerdeführerin zur Folge,
dass sich die anderweitige Besetzung der ausgeschriebenen Notarstelle nicht mehr beseitigen
lässt. Ungeachtet der zwischenzeitlich erfolgten regulären Stellenausschreibungen hätte die
Beschwerdeführerin daher im vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren zunächst die
Ausschreibung einer neuen Amtsstelle im Amtsbereich durchsetzen oder ihre unmittelbare
erneute Bestellung zur Notarin ohne Stellenausschreibung erreichen müssen. Mit Blick auf die
gesetzliche Voraussetzung eines Bedürfnisses für die Schaffung einer Notarstelle, die § 4
BNotO allein an den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege orientiert und subjektive
Rechte von Bewerbern zumindest aus Art. 12 Abs. 1 GG ausschließt (vgl. BVerfGE 73, 280
<292>), erscheint die Erreichbarkeit dieses Ziels zwar zumindest fraglich. Diese zusätzlichen
Hindernisse bei der Durchsetzung ihrer Grundrechte hätte die Beschwerdeführerin aber
vermeiden können, wenn sie ihr Ziel auf die bereits ausgeschriebene Notarstelle gerichtet hätte,
zumal dies auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der
verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 3 Abs. 2 GG nicht ohne begründete Erfolgsaussichten
gewesen wäre.
20
b) Obgleich die angegriffenen Vorschriften verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen, ist in
der Sache deren Auslegung und Anwendung durch den Bundesgerichtshof mit dem
Grundgesetz vereinbar.
21
Den durch Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen beanspruchten Notarinnen und
Notaren wird - entgegen der missverständlichen Formulierung des § 48b BNotO - keine von
vornherein nur vorübergehende Amtsniederlegung ermöglicht. Folge der gesetzlichen
Regelungen ist vielmehr zunächst nach § 47 Nr. 7 BNotO das Erlöschen ihres notariellen Amtes.
Um das Amt erneut aufzunehmen, ist daher eine erneute Bestellung zur Notarin oder zum Notar
erforderlich, auf die § 48c BNotO allerdings nur dann einen Anspruch gibt, wenn das Notaramt
innerhalb eines Jahres wieder angetreten wird. Letztlich bleibt die Rückkehr in das konkrete
frühere Amt danach lediglich für ein Jahr sichergestellt, was schwerlich dem Zeitrahmen gerecht
werden kann, der typischerweise für Kinderbetreuung oder Pflegeaufgaben benötigt wird. Dies
mag zumindest einer der Gründe dafür sein, dass die vorübergehende Amtsniederlegung nach
den in der Stellungnahme der Bundesnotarkammer genannten Zahlen keine praktische
Bedeutung erlangen konnte: Nach dem Ergebnis einer Umfrage bei allen Notarkammern wurden
seit Inkrafttreten der Vorschriften nur in insgesamt 31 Fällen Anträge nach §§ 48b, 48c BNotO
gestellt. Zweifel an der Eignung der genannten Vorschriften waren ausweislich der
Stellungnahme der Hessischen Staatskanzlei auch bereits im Gesetzgebungsverfahren bekannt;
allerdings konnte sich der Gegenvorschlag einer - das Notaramt erhaltenden - bis zu fünfjährigen
Vertreterbestellung nicht durchsetzen. Ob diese Umstände im Zusammenwirken mit
Grundrechten zur Verfassungswidrigkeit namentlich der engen Voraussetzung für eine
Wiederbestellung führen können, kann allerdings vorliegend dahinstehen; denn selbst bei
unterstellter Wirksamkeit hätte die Beschwerdeführerin mit ihrer Bewerbung um die
ausgeschriebene Stelle Erfolg haben können.
22
Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Urteil vom 23. Juli 2012 -
NotZ 12/11 -, NJW 2012, S. 2972 ff.) ist in einem neuen Auswahlverfahren um eine
ausgeschriebene Notarstelle besonders zu berücksichtigen, dass eine Bewerberin oder ein
Bewerber bereits einmal erfolgreich das Bewerbungsverfahren durchlaufen und die fachliche
und persönliche Eignung für das Amt hierdurch sowie durch die Ausübung des Amts bewiesen
habe. Auch in seiner mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung hat der
Bundesgerichtshof hervorgehoben, bei einer künftigen Auswahlentscheidung gemäß § 6 BNotO
werde der Umstand Berücksichtigung finden müssen, dass eine Bewerberin oder ein Bewerber
um eine Stelle im Bereich des Anwaltsnotariats schon einmal eine solche Stelle innegehabt und
das Amt gemäß § 48b BNotO für mehr als ein Jahr vorübergehend niedergelegt habe.
23
c) Diese Auslegung ist verfassungsrechtlich geboten. Sie ergibt sich aus den in der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinreichend geklärten verfassungsrechtlichen
Maßstäben des Art. 3 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 113, 1 <15 ff.>).
24
aa) Art. 3 Abs. 2 GG bietet Schutz auch vor faktischen Benachteiligungen. Die Verfassungsnorm
zielt auf die Angleichung der Lebensverhältnisse von Frauen und Männern (vgl. BVerfGE 109,
64 <89>; 113, 1 <15>). Durch die Anfügung von Satz 2 in Art. 3 Abs. 2 GG ist ausdrücklich
klargestellt, dass sich das Gleichberechtigungsgebot auf die gesellschaftliche Wirklichkeit
erstreckt (vgl. BVerfGE 92, 91 <109>; 109, 64 <89>; 113, 1 <15>). In diesem Bereich wird die
Durchsetzung der Gleichberechtigung auch durch Regelungen gehindert, die zwar
geschlechtsneutral formuliert sind, im Ergebnis aber aufgrund natürlicher Unterschiede oder der
gesellschaftlichen Bedingungen überwiegend Frauen betreffen (vgl. BVerfGE 104, 373 <393>;
113, 1 <15>). Demnach ist es nicht entscheidend, dass eine Ungleichbehandlung unmittelbar
und ausdrücklich an das Geschlecht anknüpft. Über eine solche unmittelbare
Ungleichbehandlung hinaus erlangen für Art. 3 Abs. 2 GG die unterschiedlichen Auswirkungen
einer Regelung für Frauen und Männer ebenfalls Bedeutung (vgl. BVerfGE 113, 1 <15 f.>).
25
bb) Die Vorschrift des § 48b BNotO kann zu einer faktischen Benachteiligung von Frauen
gegenüber Männern führen. Wenn das Amt für einen längeren Zeitraum als ein Jahr niedergelegt
wird, ist dies mit erheblichen Nachteilen verbunden, die typischerweise Frauen insbesondere im
Fall der Betreuung minderjähriger Kinder treffen. Sie müssen sich nach der gesetzlichen
Konzeption erneut um eine ausgeschriebene Notarstelle bewerben und ein
Bewerbungsverfahren durchlaufen. Gehen ihnen konkurrierende Mitbewerber vor, können sie
auf Dauer von der Ausübung des Notarberufs ausgeschlossen sein.
26
In der sozialen Wirklichkeit werden hierdurch in erster Linie Frauen benachteiligt. Trotz des
Anstiegs ihres Anteils unter den Berufstätigen tragen überwiegend Frauen die Aufgaben der
Kinderbetreuung und verzichten aus diesem Grund zumindest vorübergehend ganz oder
teilweise auf eine Berufstätigkeit (vgl. BVerfGE 113, 1 <19>). Für den Zeitraum, in dem sich die
Beschwerdeführerin zur vorübergehenden Amtsniederlegung aus Gründen der Kindererziehung
entschloss, wird dies nachdrücklich durch den verschwindend geringen Anteil von Männern
unter den Empfängern des damals gezahlten Erziehungsgeldes belegt (vgl. BVerfGE 113, 1
<19>*). Seit der Einführung des Elterngeldes hat sich die Situation zwar verbessert, nicht aber zu
einem annähernden Gleichstand zwischen den Geschlechtern geführt: So stieg der Anteil von
Männern im Jahr 2007 auf 11 % (vgl. Destatis, Datenreport 2008, S. 283), während 2011 die
Väterbeteiligung 27,3 % erreichte, wobei allerdings immer noch Mütter in durchschnittlich 95 %
der Fälle Elterngeld bezogen (Destatis, Zahlen & Fakten,
https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Soziales/Sozialleistungen/Elterngeld/Elterngeld.html).
Es gibt keine Hinweise dafür, dass die Situation in Familien, in denen ein Elternteil oder beide
Elternteile dem Notarberuf nachgehen, von diesem gesamtgesellschaftlichen Bild grundlegend
verschieden ist.
27
cc) Bei Besetzung einer gemäß § 4 BNotO bereits ausgeschriebenen Amtsstelle kann die
Beachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 3 Abs. 2 GG - jedenfalls für die
vorliegende Konstellation des Anwaltsnotariats - durch die vom Bundesgerichtshof befürwortete
Auslegung der Vorschriften der Bundesnotarordnung hinreichend sichergestellt werden. Zwar ist
es auch dann erforderlich, das für die Besetzung der Notarstelle vorgeschriebene
Bewerbungsverfahren zu durchlaufen, gemäß § 6 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 2 BNotO können aber
insbesondere in Fällen der Wiederbestellung nach Anhörung der Notarkammer ausnahmsweise
besondere, die fachliche Eignung vorrangig kennzeichnende Umstände berücksichtigt werden.
Dass bereits zuvor eine - beanstandungsfreie und nicht vernachlässigbare - notarielle
Amtstätigkeit vorzuweisen ist und das Amt aus familiären Gründen vorübergehend für einen
längeren Zeitraum als ein Jahr nach § 48b BNotO niedergelegt wurde, kann sich daher im
Einzelfall unter Abwägung der grundrechtlich geschützten Interessen der konkurrierenden
Bewerber als vorrangiges Kriterium der fachlichen Eignung gegenüber den sonst nach § 6
Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 1 BNotO maßgeblichen Prüfungsergebnissen durchsetzen.
28
Einer solchen Auslegung stehen die in § 6 Abs. 2 Satz 1 BNotO geregelten Voraussetzungen,
insbesondere die danach vorausgesetzte örtliche Wartezeit (§ 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BNotO) und
das Bestehen der notariellen Fachprüfung (§ 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BNotO), nicht entgegen. Denn
diese Erfordernisse sind nur in Sollvorschriften geregelt, so dass in begründeten
Ausnahmefällen von ihnen abgewichen werden kann, wenn besondere Umstände des
Einzelfalls dies erfordern (vgl. BVerfGK 15, 355 <371>). Die Landesjustizverwaltung wird
demnach insbesondere bei Bewerbung einer früheren Notarin, die ihr Amt nach § 48b Abs. 1
BNotO vorübergehend für einen längeren Zeitraum als ein Jahr niedergelegt hatte, sorgfältig zu
prüfen haben, ob unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 3
Abs. 2 GG eine Ausnahme von den Regelvoraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 BNotO
möglich und geboten ist. Bislang fehlende transparente und hinreichend voraussehbare
Vorgaben zur Verwaltungspraxis bei Auslegung und Anwendung der Vorschrift etwa in Form
eines Erlasses der Landesjustizverwaltung könnten dazu beitragen, die mit der gesetzlichen
Regelung verbundenen Unklarheiten auszuräumen und den betroffenen Amtsträgern und
Bewerbern Sicherheit für ihre beruflichen Perspektiven zu vermitteln.
29
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
30
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Gaier
Schluckebier
Paulus