Urteil des BVerfG vom 10.10.2012

verfassungsbeschwerde, zustellung, entlastung, formvorschrift

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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1095/12 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn H...
gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 17. Februar 2012
- 4 Ws 003/12 (R) -,
b) den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 18. Januar 2012 -
4 Ws 003/12 (R) -,
c) den Beschluss des Landgerichts München I vom 28. November 2011 -
StVK 957/11 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Lübbe-Wolff,
den Richter Huber
und die Richterin Kessal-Wulf
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473 ) am 10. Oktober 2012 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde kann nicht zur Entscheidung angenommen werden,
weil sie unzulässig ist. Der Beschwerdeführer hat den Rechtsweg nicht in der
gebotenen Weise erschöpft.
1. Kann ein Beschwerdeführer mit einem Rechtsmittel, für das ihm
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, erreichen, dass seine
Rechte im Wege des fachgerichtlichen Rechtsschutzes gewahrt werden, so ist
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regelmäßig von ihm zu verlangen, dass er diesen Weg beschreitet, bevor er
Verfassungsbeschwerde einlegt (vgl. BVerfGE 10, 274 <281> ; 42, 252 <256 f.>; 77,
275 <282> ). Im vorliegenden Fall besteht diese Möglichkeit, obwohl der
Beschwerdeführer
sich
bereits mit
einem
erfolglos
gebliebenen
Wiedereinsetzungsantrag an das Oberlandesgericht gewandt hat.
2. Die vom Oberlandesgericht festgestellte Unzulässigkeit der Rechtsbeschwerde
beruhte nicht auf einem Verschulden des Beschwerdeführers, sondern darauf, dass
sie von dem zuständigen Geschäftsstellenbeamten nicht in einer den Anforderungen
der fachgerichtlichen Rechtsprechung entsprechenden Weise aufgenommen worden
war. Ursächlich für die Unzulässigkeit war somit ein Fehler der Justiz. In derartigen
Fällen besteht die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl.
BVerfGK 8, 303 <304>).
Eine Wiedereinsetzung scheidet im vorliegenden Fall nicht wegen Fristablaufs aus.
a) Jedenfalls in den Fällen, in denen der Wiedereinsetzungsgrund in einem den
Gerichten
zuzurechnenden Fehler liegt, fordert der Grundsatz fairer
Verhandlungsführung eine Belehrung des Betroffenen über die Möglichkeit, effektiven
Rechtsschutz im Wege der Wiedereinsetzung zu erreichen. Erst diese Belehrung
setzt die Wiedereinsetzungsfrist in Lauf (vgl. BVerfGK 8, 303 <304>). Ein solcher Fall
liegt hier vor. Die vom Beschwerdeführer erhobene Rechtsbeschwerde war nach den
Feststellungen des Oberlandesgerichts nicht formgerecht (§ 118 Abs. 3 StVollzG)
erhoben, weil der Rechtspfleger sie nicht in der erforderlichen Weise protokolliert
hatte. Die danach gebotene Belehrung, dass und wie der Beschwerdeführer
Wiedereinsetzung erlangen konnte (vgl. BVerfGK 8, 303 <304, 306>), ist ihm nicht
erteilt worden.
b) Eine Belehrung des Beschwerdeführers über den Weg, auf dem er
Wiedereinsetzung erlangen kann, war nicht deshalb entbehrlich, weil - zumindest in
rückblickender Betrachtung - davon ausgegangen werden könnte, dass der
Beschwerdeführer über die Möglichkeit, Wiedereinsetzung zu erlangen, unabhängig
von einer solchen Belehrung hinreichend unterrichtet war. So war dem
Beschwerdeführer
offenkundig nicht
bekannt,
dass
innerhalb
der
Wiedereinsetzungsfrist die versäumte Handlung - nämlich die innerhalb der
Rechtsbeschwerdefrist nicht formgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde - nachgeholt,
die Rechtsbeschwerde also erneut, diesmal formgerecht, erhoben werden musste,
damit der Wiedereinsetzungsantrag Erfolg haben konnte (§ 120 Abs. 1 StVollzG
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i.V.m. § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO).
c) Den Beschwerdeführer über das richtige Vorgehen zur Korrektur des Justizfehlers
zu belehren erübrigte sich im vorliegenden Fall auch nicht deshalb, weil das
Oberlandesgericht in dem Beschluss, mit dem es die Rechtsbeschwerde als
formwidrig verwarf, zusätzlich angemerkt hat, dass der Beschwerdeführer die
Anforderungen an die Zulässigkeit einer Rechtsbeschwerde auch mangels
hinreichender
Darlegungen
zum
Inhalt
des
Schadensersatz-
oder
Folgenbeseitigungsanspruchs,
mit
dem
er
vor
dem
Landgericht sein
Feststellungsinteresse begründet hatte, nicht erfüllt habe.
Die aus Gründen der Verfahrensfairness und zur Gewährleistung der Effektivität des
Rechtsschutzes erforderliche Belehrung ist grundsätzlich auch dann nicht verzichtbar,
wenn das Gericht der Rechtsbeschwerde aus anderen Gründen als wegen der für
formwidrig erachteten Protokollierung keine Erfolgsaussichten einräumt. Sinn des in
§ 118 Abs. 3 StVollzG - wie in der Parallelvorschrift § 345 Abs. 2 StPO - aufgestellten
Formerfordernisses ist es, sicherzustellen, dass das Vorbringen des Betroffenen in
sachlich und rechtlich geordneter Weise in das Verfahren eingeführt wird. Das
Formerfordernis des § 118 Abs. 3 StVollzG soll demnach einerseits der Entlastung
der Gerichte dienen. Daneben soll es aber auch zugunsten des regelmäßig
unkundigen Rechtsmittelführers dazu beitragen, dass sein Rechtsmittel nicht von
vornherein an Formfehlern oder anderen Mängeln scheitert (vgl. BVerfGK 8, 303
<305>; zu § 345 Abs. 2 StPO siehe BVerfGE 64, 135 <153>; BVerfG, Beschluss der
3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. November 2001 - 2 BvR 1471/01 -, Rpfleger
2002, S. 279; BGHSt 25, 272 <273>). Die Feststellung, dass eine Rechtsbeschwerde
nicht in der durch § 118 Abs. 3 StVollzG geforderten Weise vom Rechtspfleger
überprüft und verantwortet ist, schließt demnach die Feststellung ein, dass die vom
Gesetzgeber für erforderlich gehaltene Unterstützung des Rechtspflegers dem
Rechtsschutzsuchenden nicht zuteil geworden ist und dem Gericht somit die vom
Gesetzgeber
für erforderlich gehaltene Grundlage für die Prüfung des
Rechtsschutzbegehrens nicht vorliegt. Die Erfolgsaussichten einer zur Niederschrift
der
Geschäftsstelle
erhobenen Rechtsbeschwerde,
einschließlich
der
Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG, dürfen daher grundsätzlich
erst dann beurteilt werden, wenn eine unter Beteiligung des Rechtspflegers
ordnungsgemäß zustande gekommene Rechtsbeschwerde tatsächlich vorliegt (vgl.
BVerfGK 8, 303 <305>).
Zwar bleibt es den Gerichten unbenommen, einen Rechtsschutzsuchenden, der aus
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Gründen der Verfahrensfairness über die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung zu
belehren ist, zugleich auf rechtliche Gesichtspunkte hinzuweisen, von denen
abhängt, ob er sein letztlich verfolgtes Rechtsschutzziel wird erreichen können. Der
Zweck der Formvorschrift wird jedoch insbesondere dann in besonders
offensichtlicher Weise verfehlt, wenn einem Rechtsbeschwerdeführer neben einer auf
unzureichender
Aufgabenwahrnehmung
des
Rechtspflegers beruhenden
Formwidrigkeit
seiner
Rechtsbeschwerde
vorgehalten wird,
sein
Rechtsbeschwerdevortrag genüge nicht den Darlegungsanforderungen. Denn der
Sinn des Formerfordernisses besteht unter anderem gerade darin, dem
Beschwerdeführer
die notwendige Unterstützung bei der Erfüllung der
Darlegungsanforderungen zu sichern.
3. Da der Beschwerdeführer über die Möglichkeit, Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand zu erlangen, erst durch den vorliegenden Beschluss in der notwendigen Weise
informiert wird, beginnt die maßgebliche Wiedereinsetzungsfrist erst mit der
Zustellung dieses Beschlusses zu laufen (BVerfGK 8, 303 <306>, m.w.N.).
Der Beschwerdeführer kann daher innerhalb einer Woche seit Zustellung dieses
Beschlusses durch eine von einem Rechtsanwalt unterzeichnete Schrift oder zur
Niederschrift der Geschäftsstelle des Landgerichts oder der Geschäftsstelle des
Amtsgerichts, in dessen Bezirk die Vollzugsanstalt liegt, in der er untergebracht ist
(§ 120 Abs. 1 StVollzG i.V.m. § 299 StPO), erneut Rechtsbeschwerde einlegen,
indem er gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt (§ 118 Abs. 1
Satz 1 und Abs. 2, § 120 Abs. 1 StVollzG, § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO). Hierzu ist ihm
rechtzeitig Gelegenheit zu geben. Nutzt der Beschwerdeführer diese Möglichkeit, so
wird die Amtsperson, die als Rechtspfleger tätig wird, auf die Wahrung der nach der
Rechtsprechung
des Oberlandesgerichts
bestehenden
Form-
und
Darlegungserfordernisse zu achten haben.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG
abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Lübbe-Wolff
Huber
Kessal-Wulf