Urteil des BVerfG vom 01.12.2009

wrv, ladenöffnung, schutz der familie, religionsfreiheit

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2857/07 -
- 1 BvR 2858/07 -
Verkündet
am 1. Dezember 2009
Kehrwecker
Amtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
- Bevollmächtigte: Prof. Dr. Karl-Hermann Kästner,
Alt-Rathausstraße 5, 72511 Bingen -
Leitsätze
zum Urteil des Ersten Senats vom 1. Dezember 2009
- 1 BvR 2857/07 -
- 1 BvR 2858/07 -
1. Die aus den Grundrechten - hier aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG - folgende
Schutzverpflichtung des Gesetzgebers wird durch den objektivrechtlichen
Schutzauftrag für die Sonn- und Feiertage aus Art. 139 WRV in Verbindung
mit Art. 140 GG konkretisiert.
2. Die Adventssonntagsregelung in § 3 Abs. 1 des Berliner
Ladenöffnungsgesetzes steht mit der Gewährleistung der Arbeitsruhe an
Sonn- und Feiertagen nicht in Einklang.
Im Namen des Volkes
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
1. der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz,
vertreten durch den Vorsitzenden der Kirchenleitung,
Bischof Prof. Dr. H.,
und den Präsidenten des Konsistoriums, S.,
Georgenkirchstraße 69, 10249 Berlin,
gegen § 3 Abs. 1 Alternative 2, § 4 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Nr. 1 und § 6 Abs. 1, 2
des Berliner Ladenöffnungsgesetzes (BerlLadÖffG) vom 14. November
2006 (GVBl S. 1045) in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung
- Bevollmächtigte: Prof. Dr. Christian Starck,
Schlegelweg 10, 37075 Göttingen -
des Berliner Ladenöffnungsgesetzes vom 16. November 2007 (GVBl S.
580)
- 1 BvR 2857/07 -,
2.
des Erzbistums Berlin,
vertreten durch den Erzbischof Kardinal S.,
Hinter der Katholischen Kirche 3, 10117 Berlin,
gegen § 3 Abs. 1 Alternative 2, § 4 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Nr. 1 und § 6 Abs. 1, 2
des Berliner Ladenöffnungsgesetzes (BerlLadÖffG) vom 14. November
2006 (GVBl S. 1045) in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung
des Berliner Ladenöffnungsgesetzes vom 16. November 2007 (GVBl S.
580)
- 1 BvR 2858/07 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - unter Mitwirkung der Richterin
und Richter
Präsident Papier,
Hohmann-Dennhardt,
Bryde,
Gaier,
Eichberger,
Schluckebier,
Kirchhof,
Masing
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 23. Juni 2009 durch
Urteil
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für Recht erkannt:
Die Regelung über die Öffnung von Verkaufsstellen an den Adventssonntagen in
§ 3 Absatz 1 Alternative 2 des Berliner Ladenöffnungsgesetzes (BerlLadÖffG)
vom 14. November 2006 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin Seite 1045) in der
Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Berliner Ladenöffnungsgesetzes
vom 16. November 2007 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin Seite 580) ist mit
Artikel 4 Absatz 1 und Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 140 des Grundgesetzes und
Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung unvereinbar.
Die vorgenannte Bestimmung bleibt noch bis zum 31. Dezember 2009 anwendbar.
Im Übrigen werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.
Das Land Berlin hat den Beschwerdeführern deren notwendige Auslagen zur Hälfte
zu erstatten.
Gründe:
A.
Die Beschwerdeführer sind öffentlichrechtlich verfasste Religionsgemeinschaften im
Sinne von Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 der Weimarer
Reichsverfassung (WRV). Sie wenden sich mit ihren Verfassungsbeschwerden
unmittelbar gegen die Regelung der Ladenöffnungsmöglichkeiten an Sonn- und
Feiertagen im Land Berlin.
I.
1. Im Zuge der so genannten Föderalismusreform I im Jahr 2006 wurde das Recht
des Ladenschlusses aus dem Katalog der Gegenstände der konkurrierenden
Gesetzgebung für das Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG)
herausgenommen und die Gesetzgebungskompetenz insoweit auf die Länder
übertragen. Das Abgeordnetenhaus von Berlin beschloss daraufhin am
14. November 2006 das Berliner Ladenöffnungsgesetz (BerlLadÖffG, GVBl 2006, S.
1045). Das Gesetz trat am 17. November 2006 in Kraft. Ein Jahr später, am
16. November 2007, erging das Erste Gesetz zur Änderung des Berliner
Ladenöffnungsgesetzes (GVBl 2007, S. 580). Inzwischen haben alle Bundesländer
bis auf den Freistaat Bayern den Ladenschluss durch Landesgesetz geregelt.
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a) Zuvor waren die Ladenöffnungszeiten bundeseinheitlich in dem Gesetz
über den Ladenschluss (Ladenschlussgesetz - LadSchlG) vom 28. November 1956
(BGBl I S. 875) geregelt, zuletzt in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juni
2003 (BGBl I S. 744), diese zuletzt geändert durch Art. 228 der Verordnung vom
31. Oktober 2006 (BGBl I S. 2407). Nach wiederholten Ausweitungen der
Ladenöffnungszeiten unter der Geltung des Ladenschlussgesetzes des Bundes galt
an Werktagen, einschließlich der Sonnabende, zuletzt eine Ladenschlusszeit von
20.00 bis 6.00 Uhr (§ 3 Nr. 2 LadSchlG). An Sonn- und Feiertagen untersagte das
Gesetz grundsätzlich die Ladenöffnung (§ 3 Nr. 1 LadSchlG). Abweichend hiervon
ließ § 14 Abs. 1 LadSchlG die Ladenöffnung an bis zu vier Sonn- und Feiertagen aus
Anlass
von
Märkten, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen durch
Rechtsverordnung der Landesregierung oder der von ihr bestimmten Stellen zu. Die
Ladenöffnung durfte fünf zusammenhängende Stunden nicht überschreiten, musste
spätestens um 18.00 Uhr enden und sollte außerhalb der Zeit des
Hauptgottesdienstes liegen (§ 14 Abs. 2 LadSchlG). Die Sonn- und Feiertage im
Monat Dezember waren für jede - auch ausnahmsweise - Freigabe gesperrt (§ 14
Abs. 3 LadSchlG).
Daneben enthielt das Ladenschlussgesetz des Bundes Sonderregelungen für
bestimmte Verkaufsstellen wie Läden in Bahnhöfen oder in ländlichen Gebieten
sowie für bestimmte Warengruppen. Insbesondere ermächtigte § 10 LadSchlG die
Landesregierungen durch Rechtsverordnung zu bestimmen, dass und unter welchen
Voraussetzungen und Bedingungen in Kurorten und in einzeln aufzuführenden
Ausflugs-, Erholungs- und Wallfahrtsorten mit besonders starkem Fremdenverkehr an
jährlich höchstens 40 Sonn- und Feiertagen Verkaufsstellen geöffnet werden dürfen.
Die Dauer der Ladenöffnung war auf acht Stunden begrenzt. Es durfte nur der Verkauf
bestimmter, in § 10 Abs. 1 LadSchlG genannter Waren zugelassen werden. Überdies
konnten die obersten Landesbehörden nach § 23 LadSchlG in Einzelfällen befristete
Ausnahmen von den Vorschriften des Ladenschlussgesetzes bewilligen, wenn die
Ausnahmen „im öffentlichen Interesse dringend nötig“ waren.
b) Die nach der Änderung der Gesetzgebungskompetenz bisher erlassenen
Ladenschluss- oder -öffnungsgesetze der anderen Bundesländer halten in den
Grundzügen am Regelungskonzept des Ladenschlussgesetzes des Bundes fest. Im
Grundsatz sehen alle Landesgesetze vor, dass an Sonn- und Feiertagen keine
Ladenöffnung erfolgt. Für bestimmte Verkaufsstellen sowie für bestimmte Waren und
bestimmte Orte, etwa an Bahnhöfen, gibt es zahlreiche, zum Teil über die Regelung
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des Ladenschlussgesetzes des Bundes hinausgehende Ausnahmen. Insbesondere
ermöglichen die Regelungen für Kur- und Ausflugsorte in einigen Landesgesetzen
eine weitergehende Ladenöffnung als § 10 LadSchlG. Beispielsweise sehen die so
genannten Bäderregelungen in den Gesetzen von Schleswig-Holstein und
Mecklenburg-Vorpommern keine Sortimentsbeschränkung vor. Darüber hinaus
ermöglichen alle Landesgesetze eine begrenzte Zahl verkaufsoffener Sonn- und
Feiertage, die gesetzlich nicht an bestimmte Verkaufsstellen, Waren oder Orte
gebunden, häufig aber anlassbezogen sind. Insoweit weisen die meisten anderen
Bundesländer vier Sonn- und Feiertage zur Freigabe aus, Baden-Württemberg
lediglich drei, Brandenburg hingegen sechs. Zumeist ist eine Ladenöffnung an den
Adventssonntagen ausgeschlossen oder zumindest nur an einem einzigen
Adventssonntag im Jahr gestattet. Neben Berlin sehen nur die Gesetze über den
Ladenschluss von Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt keinen besonderen
Schutz der Adventssonntage vor. Die Landesgesetze enthalten - mit Ausnahme des
sächsischen und des Berliner Ladenöffnungsgesetzes - Regelungen entsprechend
der bundesrechtlichen allgemeinen Ausnahmevorschrift des § 23 LadSchlG.
2. a) Das Berliner Ladenöffnungsgesetz sieht - insoweit über die Regelungen in
anderen Ländern hinausreichend - die Freigabe von jährlich bis zu zehn Sonn- und
Feiertagen für die Ladenöffnung vor. Eine nach der Zahl der Tage nicht begrenzte,
§
23
LadSchlG
entsprechende allgemeine,
aber
einzelfallbezogene
Ausnahmeregelung mit eng gefassten Voraussetzungen kennt das Berliner
Ladenöffnungsgesetz nicht. Die Ladenöffnung an Werktagen ist vollständig
freigegeben (24-Stunden-Öffnungsmöglichkeit).
Die Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen ist im Berliner Ladenöffnungsgesetz wie
folgt geregelt: Kraft Gesetzes und ohne weitere Voraussetzungen dürfen
Verkaufsstellen an allen vier Adventssonntagen in der Zeit von 13.00 bis 20.00 Uhr
geöffnet werden (§ 3 Abs. 1 Alternative 2 BerlLadÖffG). Vier weitere Sonn- und
Feiertage jährlich können „im öffentlichen Interesse“ durch Allgemeinverfügung der
Senatsverwaltung freigegeben werden; eine uhrzeitliche Begrenzung sieht diese
Regelung nicht vor (§ 6 Abs. 1 BerlLadÖffG). Zusätzlich dürfen an zwei weiteren
Sonn- oder Feiertagen Verkaufsstellen nach vorheriger Anzeige gegenüber dem
zuständigen Bezirksamt aus Anlass „besonderer Ereignisse, insbesondere von
Firmenjubiläen und Straßenfesten“, von 13.00 bis 20.00 Uhr offen gehalten werden
(§ 6 Abs. 2 BerlLadÖffG). Von den Ladenöffnungsmöglichkeiten nach § 6 Abs. 1 und
§ 6 Abs. 2 BerlLadÖffG ausgenommen sind der 1. Januar, der 1. Mai, der Karfreitag,
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der Ostersonntag, der Pfingstsonntag, der Volkstrauertag, der Totensonntag und die
Feiertage im Dezember (§ 6 Abs. 1 Satz 2, § 6 Abs. 2 Satz 3 BerlLadÖffG).
In den Jahren 2007 bis 2009 hat die Berliner Senatsverwaltung von der Möglichkeit
des § 6 Abs. 1 BerlLadÖffG jeweils in vollem Umfang Gebrauch gemacht und durch
Allgemeinverfügungen die Öffnung der Verkaufsstellen an vier Sonn- oder Feiertagen
zugelassen. In allen bisher ergangenen Allgemeinverfügungen wurde die
Ladenöffnung allerdings auf die Zeit von 13.00 bis 20.00 Uhr begrenzt.
Neben diesen für alle Verkaufsstellen, also den gesamten Einzelhandel geltenden
Sonn- und Feiertagsregelungen bestehen weitere - auch bisher grundsätzlich schon
übliche
-
Ausnahmetatbestände,
die bereichsspezifisch vor allem nach
Warengruppen und Anbietern sowie nach besonderen Orten differenzieren:
Ausnahmen vom Ladenschluss an Sonn- und Feiertagen lässt das Gesetz unter
anderem zu für die Versorgung von Veranstaltungsbesuchern (§ 4 Abs. 1 Nr. 2
BerlLadÖffG), für den Verkauf von Blumen, Zeitungen und Zeitschriften, Back- und
Konditorwaren sowie Milch und Milcherzeugnissen (§ 4 Abs. 1 Nr. 3), für Kunst- und
Gebrauchtwarenmärkte (§ 4 Abs. 1 Nr. 5) sowie für Apotheken, Tankstellen und
Verkaufsstellen
auf
Personenbahnhöfen,
Verkehrsflughäfen
und in
Reisebusterminals (§ 5 BerlLadÖffG). Eine dem bundesrechtlichen § 10 LadSchlG
entsprechende Regelung für Kur-, Ausflugs- und Wallfahrtsorte sieht das Berliner
Ladenöffnungsgesetz nicht vor. Stattdessen ist in § 4 Abs. 1 Nr. 1 BerlLadÖffG die
Öffnung von Verkaufsstellen, die ausschließlich im Gesetz näher bestimmte Waren
für den Bedarf von Touristen anbieten, an jedem Sonn- und Feiertag in der Zeit von
13.00 bis 20.00 Uhr und ohne räumliche Begrenzung auf bestimmte Bezirke oder
Ausflugsziele freigegeben.
b) Die für den gesamten Einzelhandel unabhängig von Verkaufsort und Sortiment
geltenden
Regelungen der Ladenöffnungszeiten und der Ausnahmen vom
Ladenschluss an Sonn- und Feiertagen lauten in der Fassung des Gesetzes vom 16.
November 2007:
§ 3
Allgemeine Ladenöffnungszeiten
(1) Verkaufsstellen dürfen an Werktagen von 0.00 bis 24.00 Uhr und an
Adventssonntagen von 13.00 bis 20.00 Uhr geöffnet sein.
(2) Verkaufsstellen müssen, soweit die §§ 4 bis 6 nichts Abweichendes bestimmen,
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geschlossen sein
1. an Sonn- und Feiertagen und am 24. Dezember, wenn dieser Tag
auf einen Adventssonntag fällt,
2. am 24. Dezember, wenn dieser Tag auf einen Werktag fällt, ab
14.00 Uhr.
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten auch für Kunst- und Gebrauchtwarenmärkte.
(4) Die bei Ladenschluss anwesenden Kundinnen und Kunden dürfen noch
bedient werden.
§ 6
Weitere Ausnahmen
(1) Die für die Ladenöffnungszeiten zuständige Senatsverwaltung kann im
öffentlichen Interesse ausnahmsweise die Öffnung von Verkaufsstellen an
höchstens vier Sonn- oder Feiertagen durch Allgemeinverfügung zulassen. Der
1. Januar, der 1. Mai, der Karfreitag, der Ostersonntag, der Pfingstsonntag, der
Volkstrauertag, der Totensonntag und die Feiertage im Dezember sind hiervon
ausgenommen.
(2) Verkaufsstellen dürfen aus Anlass besonderer Ereignisse, insbesondere von
Firmenjubiläen und Straßenfesten, an jährlich höchstens zwei weiteren Sonn- oder
Feiertagen von 13.00 bis 20.00 Uhr öffnen. Die Verkaufsstelle hat dem zuständigen
Bezirksamt die Öffnung sechs Tage vorher anzuzeigen. Absatz 1 Satz 2 gilt
entsprechend.
Weitere Ausnahmen vom Ladenschluss an Sonn- und Feiertagen für besondere
Warengruppen und Anbieter sowie für Verkaufsstellen an besonderen Orten sehen
§ 4 und § 5 BerlLadÖffG vor:
§ 4
Verkauf bestimmter Waren an Sonn- und Feiertagen
(1) An Sonn- und Feiertagen dürfen öffnen
1. Verkaufsstellen, die für den Bedarf von Touristen
ausschließlich Andenken, Straßenkarten, Stadtpläne,
Reiseführer, Tabakwaren, Verbrauchsmaterial für Film- und
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Fotozwecke, Bedarfsartikel für den alsbaldigen Verbrauch sowie
Lebens- und Genussmittel zum sofortigen Verzehr anbieten, von
13.00 bis 20.00 Uhr und am 24. Dezember, wenn dieser Tag auf
einen Adventssonntag fällt, von 13.00 bis 17.00 Uhr,
2. Verkaufsstellen zur Versorgung der Besucherinnen und Besucher
auf dem Gelände oder im Gebäude einer Veranstaltung oder eines
Museums mit themenbezogenen Waren oder mit Lebens- und
Genussmitteln zum sofortigen Verzehr während der Veranstaltungs-
und Öffnungsdauer,
3. Verkaufsstellen, deren Angebot ausschließlich aus einer oder
mehreren der Warengruppen Blumen und Pflanzen, Zeitungen und
Zeitschriften, Back- und Konditorwaren, Milch und Milcherzeugnisse
besteht, von 7.00 bis 16.00 Uhr, an Adventssonntagen von 7.00 bis
20.00 Uhr und am 24. Dezember, wenn dieser Tag auf einen
Adventssonntag fällt, von 7.00 bis 14.00 Uhr,
4.
Verkaufsstellen
mit
überwiegendem
Lebens- und
Genussmittelangebot am 24. Dezember, wenn dieser Tag auf einen
Adventssonntag fällt, von 7.00 bis 14.00 Uhr,
5. Kunst- und Gebrauchtwarenmärkte von 7.00 bis 18.00 Uhr, an
Adventssonntagen von 7.00 bis 20.00 Uhr.
(2) In Verkaufsstellen nach § 2 Abs. 1 Nr. 3
1. darf leicht verderbliches Obst und Gemüse vom Erzeuger
angeboten werden an Sonn- und Feiertagen, an Adventssonntagen
von 7.00 bis 20.00 Uhr und am 24. Dezember, wenn dieser Tag auf
einen Adventssonntag fällt, von 7.00 bis 14.00 Uhr,
2.
dürfen
Weihnachtsbäume
angeboten
werden
an
Adventssonntagen von 7.00 bis 20.00 Uhr und am 24. Dezember,
wenn dieser Tag auf einen Adventssonntag fällt, von 7.00 bis 14.00
Uhr.
(3) Am Ostermontag, Pfingstmontag und am zweiten Weihnachtsfeiertag dürfen als
Waren nach Absatz 1 Nr. 3 nur Zeitungen und Zeitschriften und in Verkaufsstellen
nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 leicht verderbliches Obst und Gemüse vom Erzeuger angeboten
werden. Am Karfreitag, Volkstrauertag und Totensonntag dürfen Kunst- und
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Gebrauchtwarenmärkte nicht öffnen.
§ 5
Besondere Verkaufsstellen
An Sonn- und Feiertagen und am 24. Dezember dürfen geöffnet sein:
1. Apotheken für die Abgabe von Arzneimitteln und das
Anbieten von apothekenüblichen Waren,
2. Tankstellen für das Anbieten von Ersatzteilen für Kraftfahrzeuge,
soweit dies für die Erhaltung oder Wiederherstellung der
Fahrbereitschaft notwendig ist, sowie für das Anbieten von
Betriebsstoffen und von Reisebedarf,
3. Verkaufsstellen auf Personenbahnhöfen, auf Verkehrsflughäfen
und in Reisebusterminals für das Anbieten von Reisebedarf. Auf
dem Flughafen Berlin-Tegel dürfen darüber hinaus Waren des
täglichen Ge- und Verbrauchs, insbesondere Erzeugnisse für den
allgemeinen Lebens- und Haushaltsbedarf, Textilien, Sportartikel,
sowie Geschenkartikel angeboten werden.
§ 7 BerlLadÖffG trifft arbeitszeitrechtliche Regelungen zum Schutz der
Arbeitnehmer. Danach dürfen Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen in
Verkaufsstellen nur mit Verkaufstätigkeit während der jeweils zugelassenen
Öffnungszeiten sowie zur Erledigung von Vorbereitungs- und Abschlussarbeiten
- wenn unerlässlich - während weiterer 30 Minuten beschäftigt werden; auf ihr
Verlangen hin sind sie in jedem Kalendermonat mindestens an einem Sonnabend
freizustellen. Beschäftigte mit mindestens einem Kind unter 12 Jahren im Haushalt
oder einer zu versorgenden, anerkannt pflegebedürftigen Person sollen auf
Verlangen an verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen freigestellt werden, soweit die
Betreuung durch eine andere im Haushalt lebende Person nicht gewährleistet ist.
Arbeitnehmer dürfen nur an zwei Adventssonntagen im Jahr beschäftigt werden.
§ 9 BerlLadÖffG bedroht Verstöße gegen näher bezeichnete Vorschriften des
B erl i ner Ladenöffnungsgesetzes als Ordnungswidrigkeit mit Geldbuße. Der
Ordnungswidrigkeitentatbestand, der auch die Bußgeldhöhe bestimmt, lautet
auszugsweise:
§ 9
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Ordnungswidrigkeiten
(1) Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig als Inhaberin
oder Inhaber einer Verkaufsstelle
1. entgegen § 3 Abs. 1, 2 und 3 eine Verkaufsstelle öffnet oder
Waren anbietet,
2. entgegen §§ 4 und 5 über die zulässigen Öffnungszeiten hinaus
Waren oder Waren außerhalb der genannten Warengruppen
anbietet,
3. entgegen § 6 über die zulässige Anzahl der Sonn- oder Feiertage
oder über die zulässigen Öffnungszeiten hinaus Verkaufsstellen
öffnet oder Waren anbietet oder die rechtzeitige Anzeige bei der
zuständigen Behörde unterlässt,
4. bis 6. ….
7. entgegen § 7 Abs. 5 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an
mehr als zwei Adventssonntagen im Jahr beschäftigt,
8. …
(2) …
(3) Die Ordnungswidrigkeiten können mit einer Geldbuße bis zu
2 500 Euro, in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 4 und des Absatzes 2 mit
einer Geldbuße bis zu 15 000 Euro geahndet werden.
Der höhere Bußgeldrahmen von 15.000 Euro betrifft den Betrieb von Kunst- und
Gewerbemärkten an Sonn- und Feiertagen entgegen § 3 und § 4 BerlLadÖffG und
Verstöße gegen die Arbeitszeitvorschrift des § 7 Abs. 1 BerlLadÖffG.
c) In der Begründung des Entwurfs zum Berliner Ladenöffnungsgesetz vom
14. November 2006 (Abgeordnetenhaus Drucks 16/0015) betonte der Senat von
Berlin, dem Sonntag komme insbesondere in unserer auf Betriebsamkeit bedachten
Gesellschaft eine große Bedeutung als Zeit zum physischen und mentalen
Kräfteschöpfen zu. Als Ausgleich für die ständig wachsenden Anforderungen aus der
Arbeitswelt, insbesondere auch an die Mobilität und Flexibilität der Beschäftigten, sei
der Sonntag im Interesse der Familie und zur Förderung von Sozialbeziehungen in
unserer heutigen Zeit unverzichtbar. Der Sonntag werde zur Erholung, für die
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Gestaltung des Familienlebens, zur Pflege gesellschaftlicher, sportlicher, kultureller
und nicht zuletzt auch religiöser Aktivitäten benötigt. Vom Grundsatz der Sonn- und
Feiertagsruhe könne deshalb nur ausnahmsweise unter Abwägung der Interessen
des Einzelhandels und der Kunden mit den Schutzinteressen der Beschäftigten
abgewichen werden. Das Gesetz sehe aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit keine
Sonderregelungen für allein inhabergeführte oder ausschließlich mit nicht-
angestellten Familienangehörigen geführte Verkaufsstellen vor. Im Interesse einer
weitgehenden Flexibilisierung der Verkaufszeiten, an der die Kunden interessiert
seien, sei zügig von der neuen Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht
worden.
Damit
werde auch dem Standort Berlin als Einkaufs- und
Tourismusmetropole Rechnung getragen. Als besondere Neuerung wird
hervorgehoben, dass das Gesetz keine Beschränkungen mehr für die werktäglichen
Öffnungszeiten enthält. Die Gesetzesbegründung gibt zugleich zu erkennen, dass die
früher begrenzten Öffnungszeiten das Verkaufspersonal vor überlangen Arbeitszeiten
hätten schützen sollen. Dies werde nunmehr durch den Arbeitszeitschutz
sichergestellt.
Die zeitlich begrenzte Freigabe der Ladenöffnung an den Adventssonntagen sei
Ergebnis der Abwägung der Interessen des Einzelhandels und der Kunden mit den
Schutzinteressen der Beschäftigten. Die Regelung des § 6 Abs. 1
BerlLadÖffG,
nach
der
die
Senatsverwaltung
ermächtigt
wird, durch
Allgemeinverfügung bis zu vier verkaufsoffene Sonn- und Feiertage jährlich
zuzulassen, löse die Regelungen der §§ 14 und 23 LadSchlG des Bundes ab. Die
Ladenöffnung solle insoweit bei Veranstaltungen oder Ereignissen ermöglicht
werden, die über die Stadt hinaus Bedeutung hätten und zahlreiche Touristen nach
Berlin holten. Mit der verkaufsstellenspezifischen Ladenöffnungsmöglichkeit des § 6
Abs. 2 BerlLadÖffG an zwei weiteren Sonn- und Feiertagen solle der Kritik Rechnung
getragen werden, dass die von der Senatsverwaltung ausgewählten Anlässe für die
vier Sonn- und Feiertage, die früher durch Rechtsverordnung bestimmt wurden, nicht
für alle Berliner Verkaufsstellen auch wirtschaftlichen Erfolg gebracht hätten.
Zur Erweiterung des an jedem Sonntag verkaufbaren Sortiments auf touristische
Bedarfsartikel in § 4 Abs. 1 Nr. 1 BerlLadÖffG führte der Senat aus, dass diese
Regelung die nach § 10 LadSchlG ergangene Verordnung über den Ladenschluss in
Ausflugs- und Erholungsgebieten ersetzen solle, derzufolge in der Zeit vom ersten
Sonntag im März bis zum dritten Sonntag im Oktober ein stark begrenztes Sortiment
in der Zeit von 11.00 bis 19.00 Uhr in elf exakt abgegrenzten Gebieten angeboten
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werden durfte. Zur Vermeidung der damit verbundenen erheblichen örtlichen
Abgrenzungsprobleme werde zukünftig der Verkauf eines abgegrenzten Sortiments in
der ganzen Stadt, an allen Sonn- und Feiertagen im Jahr, in der Zeit von 13.00 bis
20.00 Uhr, am 24. Dezember jedoch nur bis 17.00 Uhr zugelassen. § 4 Abs. 1 Nr. 4
BerlLadÖffG regele für den Sonderfall, dass der 24. Dezember auf einen Sonntag
fällt, eine Durchbrechung des sonn- und feiertäglichen Schließungsgebots für
Verkaufsstellen, die überwiegend Lebens- und Genussmittel anbieten. Hiermit solle
gewährleistet werden, dass die Bevölkerung sich mit frischen Lebensmitteln für die
nachfolgenden Weihnachtsfeiertage eindecken kann. Die Regelung des § 4 Abs. 2
Nr. 1 BerlLadÖffG erlaube den Verkauf von leichtverderblichem, erntefrischem Obst
und Gemüse in mobilen Verkaufsständen durch den Erzeuger oder durch die von ihm
Beauftragten auch an Sonn- und Feiertagen zur Deckung des Bedarfs der
Bevölkerung. Diese Regelung sei mit dem Land Brandenburg abgestimmt; denn
wegen der räumlichen Nähe verkauften vorrangig Anbieter aus dieser Region Obst
und Gemüse auf Berliner Straßen.
II.
Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung
von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 139 WRV durch die
Regelungen in § 3 Abs. 1 Alternative 2, § 4 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 2 Nr. 1, § 6 Abs. 1
und 2 und § 9 Abs. 2 BerlLadÖffG, soweit dieser für Fälle von Ordnungswidrigkeiten
lediglich ein Bußgeld bis zu 2.500 Euro vorsehe, sowie durch die von der Kumulation
der Regelungen ausgehende Wirkung. Die Beschwerdeführer begründen ihre
Verfassungsbeschwerden im Wesentlichen übereinstimmend.
1. a) Die Beschwerdeführer halten sich für beschwerdebefugt.
Sie meinen, ihrer Berufung auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG stehe nicht entgegen,
dass bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Normen
die Gewährleistung des Schutzes der Sonn- und Feiertagsruhe nach Art. 140 GG in
Verbindung mit Art. 139 WRV maßgebliche Relevanz entfalte. Zwar enthalte Art. 140
G G in Verbindung mit Art. 139 WRV nach bisheriger Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts kein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht,
sondern eine institutionelle Garantie. Indes werde die durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
geschützte
Möglichkeit
freier
Religionsausübung
in
ihren tatsächlichen
Rahmenbedingungen durch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV entfaltet
und ausgeformt. Es sei anerkannt, dass die Gewährleistungen der Weimarer
Kirchenartikel funktional auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung des
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Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt seien. Art. 139 WRV enthalte mit der
Zwecksetzung der „seelischen Erhebung“ auch eine religionsfördernde Komponente.
Der Sache nach konkretisiere Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV den
Gewährleistungsgehalt von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, insbesondere die aus dem
Grundrecht folgende Schutzpflicht des Staates. Indem die Verfassung den Schutz der
Sonntage nach Maßgabe von Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV im Sinne
einer institutionellen Garantie zur „seelischen Erhebung“ gewährleiste, erwachse den
Kirchen
und Religionsgemeinschaften im Rahmen ihres Grundrechts auf
Religionsfreiheit ein Anspruch, an diesem objektiv statuierten spezifischen Schutz
ungestörter Religionsausübung effektiv teilzuhaben und nicht durch Landesrecht
beeinträchtigt zu werden.
Die Beschwerdeführer sehen sich von den angegriffenen Regelungen auch
unmittelbar betroffen. Dies folge aus deren Kumulation, durch die eine Aushöhlung
des verfassungsrechtlichen Schutzes der Sonntage bewirkt werde. Bei den Eingriffen
in den Sonntagsschutz durch die Bestimmungen der § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Nr. 4 und
§ 4 Abs. 2 Nr. 1 BerlLadÖffG bedürfe es keines weiteren Vollzugsaktes. In den Fällen
d e s § 6 Abs. 1 und 2 BerlLadÖffG sei zwar jeweils eine gewisse Umsetzung
erforderlich. Gleichwohl komme es bei § 6 Abs. 2 BerlLadÖffG faktisch bereits
unmittelbar zu einer Grundrechtsverletzung durch das Gesetz, da sie angesichts der
kurzen Anzeigefrist von sechs Tagen und der Verteilung der Anmeldungen auf
sämtliche Berliner Bezirksämter in der Regel keine rechtzeitige Kenntnis von
Ladenöffnungen nach § 6 Abs. 2 BerlLadÖffG erhalten würden und somit auch keine
Rechtsmittel gegen die Untätigkeit der Bezirksverwaltung ergreifen könnten.
Fortsetzungsfeststellungsklagen
würden
angesichts
der unterschiedlichen
Gegebenheiten bei den jeweils öffnenden Verkaufsstellen und der meist fehlenden
Wiederholungsgefahr als unzulässig scheitern. Bei § 6 Abs. 1 BerlLadÖffG bedürfe es
einer
Allgemeinverfügung
der Senatsverwaltung, die verwaltungsgerichtlich
angegriffen werden könne. Sie als Beschwerdeführer seien aber bereits durch die
Ermächtigung zum Erlass von Allgemeinverfügungen unmittelbar betroffen, weil diese
Ermächtigung im Verbund mit den anderen angegriffenen Regelungen stehe. Durch
die Kumulation mit den „selbstvollziehenden“ Vorschriften komme es zur Verletzung
ihres Grundrechts auf freie Religionsausübung.
Schließlich seien sie auch selbst betroffen. Sie seien zwar nicht Adressaten der
Ladenöffnungsvorschriften. Ihre Grundrechtspositionen stünden aber in enger
Beziehung zu diesen Regelungen. Diese enge Beziehung folge aus der Verknüpfung
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von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG mit Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV. Ihre
Gottesdienste und religiösen Veranstaltungen würden an einer beträchtlichen Anzahl
von Sonntagen nachhaltig behindert. Die Sonntage würden durch die Öffnung von
Verkaufsstellen ihres ruhigen, geschützten Charakters entkleidet. Die Verfassung
bekenne sich aber ausdrücklich zum Sonntagsschutz nach christlicher Tradition. In
ihr sei ausdrücklich angelegt, dass der Sonntag für die christlichen Kirchen und
Religionsgemeinschaften der hervorgehobene Tag der Woche sei. Art. 140 GG in
Verbindung mit Art. 139 WRV schütze den gesamten Tag zur seelischen Erhebung
und unterscheide nicht nach Hauptgottesdienstzeiten und dem übrigen Tag. Dies sei
a u c h sachgerecht, weil sich die Religionsausübung und damit die seelische
Erhebung auch außerhalb von Gottesdiensten in anderen Formen vollziehe.
b) Weiter führen die Beschwerdeführer aus, der Rechtsweg sei erschöpft und der
Grundsatz der Subsidiarität gewahrt:
Die §§ 3 und 4 BerlLadÖffG könnten als Vorschriften eines formellen Gesetzes nicht
in einem verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren gemäß § 47 VwGO
angegriffen werden. Bei der Regelung des § 6 Abs. 2 BerlLadÖffG handele es sich
um eine Erlaubnis mit Anzeigevorbehalt. Ein Verwaltungsakt werde nur erlassen,
wenn die Behörde aufgrund der Anzeige die Ausnahme verweigere. Rechtsschutz
komme in Form einer Verpflichtungsklage in Betracht. Die Anzeigen seien aber an
die verschiedenen Bezirksämter zu richten. Kenntnis hiervon könnten sie, die
Beschwerdeführer, kaum erlangen. Deshalb sei es unzumutbar, sie auf den nicht
praktikablen Rechtsweg zu verweisen.
Gegen die Allgemeinverfügungen nach § 6 Abs. 1 BerlLadÖffG stehe zwar ein
Rechtsweg zur Verfügung. Insoweit sei aber § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG anwendbar
und damit auch ohne Erschöpfung des Rechtswegs die Zulässigkeit der
Verfassungsbeschwerde zu bejahen. Die Klärung der Frage, welche Grenzen einem
Ladenöffnungsgesetz durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 140 GG und
mit Art. 139 WRV gesetzt seien, sei von allgemeiner Bedeutung. Die Frage nach der
Begrenzung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zur Ladenöffnung am Sonntag
habe das Bundesverfassungsgericht noch nicht beantwortet. Bisher sei nur
festgestellt worden, dass ein Kernbereich an Sonn- und Feiertagsruhe unantastbar
sei und ein hinreichendes Niveau des Sonn- und Feiertagsschutzes gewahrt bleiben
müsse. Es sei noch nicht geklärt, wann Regelungen zur Ermöglichung der
Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht
mehr genügten (Bezugnahme auf BVerfGE 111, 10 <50, 52, 54>). Die aufgeworfene
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Frage werde auch in der Fachliteratur kontrovers diskutiert. Ihre Klärung habe darüber
hinaus für die anderen Länder Bedeutung.
2. Die Verfassungsbeschwerden seien auch begründet.
a)
Ihr
Anliegen,
den
Sonntag
nach
Maßgabe ihres religiösen
Selbstverständnisses zu begehen, werde vom Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1
und 2 GG erfasst. Dieser Schutz betreffe nicht nur die Möglichkeit, Gottesdienste und
sonstige religiöse Veranstaltungen ungehindert von staatlichen Geboten oder
Verboten abzuhalten. Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sei vielmehr mit
Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV verknüpft. Die Verfassung gewährleiste
den Schutz der Sonntage im Sinne einer institutionellen Garantie zur „seelischen
Erhebung“, mithin - neben der sozialpolitischen Zwecksetzung der Arbeitsruhe - mit
einer
religionsfördernden Zwecksetzung.
Demzufolge
fließe
der
verfassungsrechtliche Schutz der Sonn- und Feiertage im Umfang seiner
religionsfördernden Dimension in den Gewährleistungsgehalt des Grundrechts aus
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ein. Über diese Verknüpfung seien auch die äußeren
Rahmenbedingungen der Veranstaltung von Gottesdiensten und sonstigen religiösen
Veranstaltungen geschützt. Den Kirchen und sonstigen Religionsgemeinschaften
erwachse
ein
Anspruch, an diesem spezifischen Schutz ungestörter
Religionsausübung effektiv teilzuhaben. Insofern enthalte das Grundrecht auf
Religionsfreiheit partiell ein Teilhaberecht. Den Kirchen und sonstigen
Religionsgemeinschaften werde die Möglichkeit gesichert, gerade auch die vom
Werktag unterschiedenen Sonntage nach Maßgabe ihres Selbstverständnisses zu
begehen und dabei ihre Gläubigen tatsächlich erreichen zu können. Der Schutz der
Sonntage richte sich in erster Linie auf die ungestörte Abhaltung von Gottesdiensten
und sonstigen religiösen Veranstaltungen. Daneben sei den Kirchen an einer
Unterstützung ihrer diakonischen und familienfördernden Arbeit gelegen, welche
nach ihrem Selbstverständnis gleichermaßen zu ihrem Auftrag gehörten. Der
Sonntagsschutz erstrecke sich auf den ganzen Tag, weil er über den Gottesdienst
hinaus auch andere Güter schütze, die auch die Kirchen verteidigten: Das gelte für
die Familie, die Aktivitäten kirchlicher Vereine, kirchliche Feiern außerhalb der
Hauptgottesdienstzeiten bis hin zur Möglichkeit der „ruhigen Einkehr“. Damit bestehe
eine unmittelbare Interdependenz zwischen der Religionsfreiheit der Kirchen und
dem Schutz des Sonntags.
b) Die angegriffenen Vorschriften verletzten jeweils für sich genommen sowie in
ihrer Kumulation Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV und damit zugleich
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Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.
aa) § 3 Abs. 1 BerlLadÖffG verletze sie in ihren Grundrechten, weil danach eine
Ladenöffnung an allen Adventssonntagen von 13.00 bis 20.00 Uhr zulässig sei. Die
Sonntage in der Adventszeit nähmen einen hervorgehobenen Platz im Kirchenjahr
ein und würden von den Kirchen traditionell auch entsprechend begangen. Das
Berliner Ladenöffnungsgesetz beraube die Vorweihnachtszeit grundlegend ihres
verfassungsrechtlichen Schutzes. Aufgrund des besonderen Gepräges der
Adventssonntage würden durch die einschlägige Regelung die struktur- und
typusbestimmenden Merkmale des verfassungsrechtlichen Sonntagsschutzes in ihrer
religionsfördernden Komponente intensiv betroffen. Dies gelte umso mehr, als § 3
Abs. 1 BerlLadÖffG nicht vier punktuell über das Jahr verteilten Sonntagen ihren
spezifischen Schutz nehme, sondern vier aufeinander folgenden Sonntagen. Damit
werde der Schutz über einen Zeitraum von vier Wochen suspendiert. Die
Verfassungswidrigkeit der Bestimmung folge überdies daraus, dass ihr allein
wirtschaftliche Erwägungen zugrunde lägen, was in der Gesetzesvorlage deutlich
zum Ausdruck komme. Eine Ausnahmeregelung vom Sonn- und Feiertagsschutz
allein aus ökonomischen Gründen dürfe es aber nicht geben.
bb) Auch § 4 Abs. 1 Nr. 4 BerlLadÖffG verletze den verfassungsrechtlichen Schutz
der Sonntage. Die Vorschrift solle der Gesetzesvorlage zufolge dazu dienen, der
Bevölkerung an Weihnachten für die beiden Feiertage eine Bevorratung mit frischen
Lebensmitteln zu ermöglichen, wenn der 24. Dezember auf einen Sonntag falle. Dem
fehle jede sachliche Berechtigung. Der Einkauf nicht verderblicher Lebensmittel lasse
sich auch vor dem 24. Dezember vornehmen. Angesichts der heutigen
Kühlmöglichkeiten gelte dies ebenso für verderbliche Lebensmittel. Im Übrigen
beziehe sich § 4 Abs. 1 Nr. 4 BerlLadÖffG pauschal auf „Verkaufsstellen mit
überwiegendem Lebens- und Genussmittelangebot“. Eine solche Regelung sei im
Sinne einer Bevorratung für die Weihnachtsfeiertage nicht erforderlich.
cc) Ebenfalls unverhältnismäßig sei § 4 Abs. 2 Nr. 1 BerlLadÖffG. Mit der
Privilegierung der Verkaufsstellen von Erzeugern heimischen Obstes und Gemüses
werde der Zweck der Wirtschaftsförderung verfolgt. Dieser Zweck genieße keinen
verfassungsrechtlichen Rang. Zudem sei auch insoweit angesichts der heutigen
Kühlmöglichkeiten nicht ersichtlich, weshalb der Handel mit „leicht verderblichem
Obst und Gemüse“ an Sonn- und Feiertagen erforderlich sein solle.
dd) Mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG unvereinbar sei ferner die Regelung über die
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Freigabe der Ladenöffnung durch Allgemeinverfügung an vier Sonn- und Feiertagen
wegen eines öffentlichen Interesses nach § 6 Abs. 1 BerlLadÖffG. Zwar lehne sich
diese Ausnahmeregelung an die vormals bundeseinheitlichen Regelungen der §§ 14,
23 LadSchlG an; sie unterscheide sich davon jedoch in einem maßgeblichen Punkt.
Nach dem Ladenschlussgesetz des Bundes habe die Ausnahme im Einzelfall im
öffentlichen Interesse dringend nötig sein müssen; dies sei etwa im Blick auf die
Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Waren bei Notfällen und
Katastrophen in Betracht gekommen. Die Regelung des § 6 Abs. 1 BerlLadÖffG
hingegen enthalte keine derartigen strengen Anforderungen mehr. Für die Zulassung
der Ladenöffnung genüge bereits eine mehr oder minder bedeutende Veranstaltung
o d e r ein Ereignis, welches in irgendeiner Weise das Interesse der Berliner
Bevölkerung oder der Touristen wecke. Von den Tatbestandsmerkmalen „im
öffentlichen
Interesse“
und „ausnahmsweise“
gehe
praktisch
kaum
Steuerungswirkung
aus. Das erweise sich an den bisher ergangenen
Allgemeinverfügungen, bei denen Anlass für die Zulassung von Ladenöffnungen an
Sonntagen im Jahr 2007 die Grüne Woche, jeweils zeitlich zusammentreffend ein
Theatertreffen
und
der Deutsche Röntgenkongress, die Internationale
Funkausstellung und das Musikfest 2007 sowie das Art Forum Berlin und der
Kunstherbst Berlin gewesen seien. Die Ermächtigung in § 6 Abs. 1 BerlLadÖffG
normiere
unangemessen geringe Ausnahmeanforderungen und verfolge
ausschließlich wirtschaftliche Zwecke.
ee) Der Regelung über die Ladenöffnung aus Anlass besonderer Ereignisse gemäß
§ 6 Abs. 2 BerlLadÖffG lägen ebenso allein wirtschaftliche Interessen zugrunde. Sie
sei unverhältnismäßig, weil sie angesichts der sehr großen Anzahl von
Handelsgeschäften in Berlin, der sehr niedrigen Erfordernisse für eine Ladenöffnung
- „Firmenjubiläen und Straßenfeste“ - und der Tatsache, dass pro Geschäft zwei
Öffnungen im Jahr ermöglicht würden, eine beträchtliche Streuwirkung entfalte. Das
Grundprinzip der Schließung von Verkaufsstellen an Sonn- und Feiertagen würde
damit in Berlin faktisch flächendeckend aufgegeben.
ff) Erst recht seien die angegriffenen Einzelbestimmungen in ihrer Kumulation
verfassungswidrig. Ausnahmen
vom
verfassungsrechtlichen
Sonn-
und
Feiertagsschutz seien jedenfalls dann verfassungswidrig, wenn ihre Kumulation dem
Regel-Ausnahme-Verhältnis des Verbots und der Gestattung von Sonntagsarbeit
zuwiderlaufe. Angesichts der quantitativen Dimension der möglichen Ladenöffnungen
- zehn Sonn- und Feiertage pro Jahr, was fast einem Fünftel aller Sonntage
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gleichkomme - sei es nicht mehr beachtet. Es sei zudem davon auszugehen, dass es
in Berlin keinen einzigen Sonntag mehr geben werde, an dem nicht eine größere
Anzahl
von
Geschäften
geöffnet
habe.
Die Gesamtwirkung
der
Ladenöffnungsmöglichkeiten werde nicht dadurch gemindert, dass die gesetzliche
Regelungstechnik eine Verteilung auf verschiedene Paragraphen vorsehe.
gg) Die Eingriffe seien insgesamt verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Wegen
der schrankenlosen Gewährleistung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG komme nur eine
Rechtfertigung
kraft
kollidierenden Verfassungsrechts in Betracht. Die
wirtschaftsbezogenen Grundrechte der Art. 12 und 14 GG trügen die Eingriffe in den
Sonn- und Feiertagsschutz nicht; denn die wirtschaftlichen Zwecksetzungen des
Berliner Ladenöffnungsgesetzes hätten keinen Verfassungsrang. Auch könne das
Versorgungsinteresse der Bevölkerung, dem angesichts des Sozialstaatsprinzips und
staatlicher Schutzpflichten Verfassungsrang zugesprochen werden könne, nicht
herangezogen werden, da die beanstandeten Vorschriften nicht der Grundversorgung
dienten.
hh) Die Aushöhlung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Sonn- und
Feiertagsruhe werde dadurch weiter verstärkt, dass das Gesetz nicht einmal
wirksame Sanktionen bei Verstößen gegen die noch vorhandenen, rudimentären
Restriktionen vorsehe. Nach Maßgabe von § 9 Abs. 2 BerlLadÖffG könnten
Zuwiderhandlungen allenfalls mit einer Geldbuße bis zu 2.500 Euro geahndet
werden. Es könne keine Rede davon sein, dass von diesem geringen Betrag
- insbesondere im Blick auf große Handelsketten und Kaufhäuser - eine
abschreckende Wirkung und ein Anreiz zur Rechtstreue ausgingen.
ii) Der Beschwerdeführer zu 2) führt überdies aus, die Vorschrift des § 4 Abs. 1 Nr. 4
BerlLadÖffG könne so verstanden werden, dass Verkaufsstellen, die Lebens- und
Genussmittel verkauften, an jedem Sonn- und Feiertag öffnen dürften; denn an die
einleitenden Worte des ersten Absatzes „An Sonn- und Feiertagen dürfen öffnen“
knüpfe im Satzbau auch Nr. 4 an, der für den 24. Dezember, falls er auf einen
Sonntag falle, ausnahmsweise nur eine Öffnungszeit von 7.00 bis 14.00 Uhr vorsehe.
In einer weiten, alle Sonn- und Feiertage einbeziehenden Auslegung sei die
Vorschrift verfassungswidrig. Falls das Bundesverfassungsgericht eine engere
Auslegung zugrunde lege - und für verfassungsmäßig halte -, müsse es dies in der
Entscheidung ausdrücklich feststellen.
III.
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Zu den Verfassungsbeschwerden haben schriftlich Stellung genommen das
Abgeordnetenhaus von Berlin und der Senat von Berlin, die Regierung des Landes
Brandenburg, die Thüringer Landesregierung, das Bundesverwaltungsgericht, die
Deutsche Bischofskonferenz, die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), der
B u n d Freireligiöser Gemeinden Deutschlands, der Dachverband Freier
Weltanschauungsgemeinschaften
e.V.,
die
Deutsche
Unitarier
Religionsgemeinschaft e.V., die Giordano-Bruno-Stiftung, der Humanistische
Verband Deutschlands - Bundesverband -, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel-
und Großbetriebe des Einzelhandels e.V. (BAG), die Bundesvereinigung der
Deutschen
Arbeitgeberverbände (BDA),
der
Deutsche
Industrie-
und
Handelskammertag sowie die Industrie- und Handelskammern zu Berlin und zu Köln
und die Landesarbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern des Landes
Brandenburg, der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE), der Christliche
Gewerkschaftsbund
(CGB) sowie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB)
zusammen mit der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Der Senat hat
zudem schriftliche Stellungnahmen der sachkundigen Auskunftspersonen Professor
Dr. Peter Knauth (Technische Universität Karlsruhe) und Professor Dr. Friedhelm
Nachreiner (Universität Oldenburg) eingeholt. Daneben hat er dem Bundestag, dem
Bundesrat, der Bundesregierung, den anderen Landesregierungen und -parlamenten
sowie weiteren sachkundigen Dritten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt, die
sich jedoch nicht geäußert haben.
1. Das Abgeordnetenhaus von Berlin und der Senat von Berlin haben eine
gemeinsame Stellungnahme abgegeben. Sie halten die Verfassungsbeschwerden für
unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet.
a) Die Beschwerdeführer seien bereits nicht beschwerdebefugt. Art. 139 WRV
könne im Verfahren der Verfassungsbeschwerde nicht gerügt werden. Das
Bundesverfassungsgericht habe bereits entschieden, dass aus Art. 140 GG keine
subjektiven Berechtigungen folgten. Art. 139 WRV sei eine institutionelle Garantie,
die den Gesetzgeber objektivrechtlich verpflichte, ein Mindestmaß an gesetzlichen
Regelungen zum Schutz von Sonn- und Feiertagen bereitzustellen. Die These einer
Subjektivierung des Art. 139 WRV wegen heutiger Gefährdungslagen für den
Sonntag sei nicht haltbar. Auch über die Konstruktion eines besonderen
Näheverhältnisses von Art. 139 WRV zu Art. 4 Abs. 1 und 2 GG könne sie nicht
begründet werden. Der Wortlaut des Art. 139 WRV lasse erkennen, dass der
verfassungsrechtliche Sonntagsschutz nicht ein speziell auf die Kirchen gerichtetes
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Anliegen sei, sondern säkular verstanden werden müsse. Eine andere Sichtweise sei
unvereinbar mit der auf weltanschauliche Neutralität ausgerichteten Grundkonzeption
des Art. 4 GG. Der thematische Zusammenhang von Art. 4 GG und Art. 139 WRV
ändere an der fehlenden subjektiven Wirkung des Art. 139 WRV nichts. Das
Nebeneinander von sozialpolitischen und religiösen Motiven lasse eine Zuordnung
zu individuellen Trägern, welche die Einhaltung des Sonn- und Feiertagsschutzes
geltend machen könnten, nicht zu. Alles andere würde auf die Zulassung einer
Popularbeschwerde hinauslaufen. Art. 4 GG schütze zwar ein religiös motiviertes
Verhalten
auch
und
gerade
an
Sonntagen.
Die Ausgestaltung der
Rahmenbedingungen für den Sonntag im Allgemeinen, wie sie allein Art. 139 WRV
im Auge habe, sei von der Religionsfreiheit aber nicht erfasst.
Die Beschwerdebefugnis fehle den Beschwerdeführern auch, wenn man Art. 4 GG
als
offener gegenüber den kirchlichen Sonntagsinteressen ansehe. Die
Beschwerdeführer seien durch das Berliner Ladenöffnungsgesetz weder selbst noch
unmittelbar betroffen. Überdies hätten sie schon die Möglichkeit einer
Grundrechtsverletzung nicht aufgezeigt. Durch die angegriffenen Vorschriften würden
die Rahmenbedingungen für die Religionsausübung der Beschwerdeführer schon
deshalb nicht unter Verstoß gegen Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV
unzumutbar verschlechtert, weil die nunmehr an Sonn- und Feiertagen erlaubten
Öffnungszeiten für Verkaufsstellen sich im Wesentlichen deckten mit denen, die
aufgrund der Verordnung über Sonntagsruhe im Handelsgewerbe und in Apotheken
vom 5. Februar 1919 zugelassen gewesen seien. Auf diese schon damals zulässigen
Tatbestände nehme Art. 139 WRV durch die Formulierung „bleiben… geschützt“
Bezug. Während der Weimarer Zeit und auch danach sei bis zum Inkrafttreten des
Ladenschlussgesetzes im Jahre 1956 die Ladenöffnung an Adventssonntagen
grundsätzlich erlaubt gewesen. Diese Sonntage hätten sogar als besonders wichtige
Verkaufstage gegolten. Das angegriffene Berliner Ladenöffnungsgesetz bleibe hinter
der Verordnung aus dem Jahr 1919 sogar noch zurück, weil es die Öffnung an
Adventssonntagen nur zeitlich begrenzt erlaube.
Schließlich seien die Verfassungsbeschwerden auch wegen fehlender Erschöpfung
des Rechtswegs unzulässig (§ 90 Abs. 2 BVerfGG), soweit sie sich gegen § 6 Abs. 1
und 2 BerlLadÖffG richteten. Denn diese Regelungen setzten jeweils einen
Vollzugsakt der Verwaltung im Vorfeld der Ladenöffnung voraus, gegen den sich die
Beschwerdeführer vor den Verwaltungsgerichten wenden könnten. Weshalb ihnen
insoweit
hinreichend
effektiver
Rechtsschutz versagt sei, legten die
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Beschwerdeführer nicht überzeugend dar.
b) Halte man die Verfassungsbeschwerden für zulässig, seien sie jedenfalls
unbegründet.
Die
angegriffenen Regelungen seien - auch objektiv -
verfassungsgemäß; sie würden der institutionellen Garantie des Art. 139 WRV
gerecht. Insbesondere ließen sie den unantastbaren Kern der Sonn- und
Feiertagsruhe unberührt. Art. 139 WRV verpflichte den Gesetzgeber, durch
gesetzliche Regelungen zu gewährleisten, dass die Sonn- und Feiertage als Tage
der Arbeitsruhe und seelischen Erhebung dienen können. Dabei verfüge er über
einen Gestaltungsspielraum. In erster Linie sei die formale Existenz der Institution
Sonn- und Feiertage geschützt. Dem trage § 3 Abs. 2 Nr. 1 BerlLadÖffG Rechnung,
indem er anordne, dass in der Regel Verkaufsstellen an Sonn- und Feiertagen
geschlossen sein müssten. Die Ausnahmeregelungen änderten hieran nichts, da die
institutionelle Garantie nicht jede auflockernde Veränderung des Sonn- und
Feiertagsschutzes verbiete. Die Bedürfnisse, insbesondere das Ruhebedürfnis,
hätten sich gewandelt und konkurrierten heute mit anderen Bedürfnissen. Die
religiöse Zweckbestimmung des Sonntags sei in den Hintergrund getreten.
Einschränkungen der institutionellen Garantie könnten daher leichter begründet
werden. Nicht nur das Unverzichtbare, das unbedingt Erforderliche, sondern auch
andere
plausible
gesetzgeberische Intentionen wie das Bemühen, das
Freizeitangebot oder die wirtschaftliche Situation zu verbessern, könnten eine
Einschränkung des Sonntagsschutzes rechtfertigen. Dem genügten die angegriffenen
Regelungen. Ebenso schütze Art. 139 WRV davor, dass die Institution bis auf eine
„wertlose Hülse“ ausgehöhlt werde. Davon könne vorliegend offensichtlich keine
Rede sein.
Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers sei im Übrigen nur durch einen
unantastbaren Kernbestand der Sonn- und Feiertagsruhe beschränkt: Einerseits
betreffe dies die Anzahl der geschützten Sonn- und Feiertage und den Sieben-Tage-
Rhythmus, andererseits das Regel-Ausnahme-Verhältnis von Arbeitsruhe und
Abwesenheit von werktäglicher Geschäftigkeit zu Sonntagsarbeit. Soweit die
Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang rügten, es werde ihnen durch die
Ladenöffnung an fast einem Fünftel aller Sonntage unzumutbar erschwert,
Gottesdienste und sonstige religiöse Veranstaltungen abzuhalten, könne dem schon
im Ansatz nicht gefolgt werden. Die Ladenöffnungsregelung stelle kein Gebot dar, die
Verkaufsstellen aufzusuchen und Gottesdienste nicht zu besuchen, sondern trage
lediglich einer geänderten sozialen Wirklichkeit Rechnung, namentlich geänderten
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Freizeitwünschen der Bürger, indem sie den Bürgern die Möglichkeit einräume, an
Sonn- und Feiertagen Verkaufsstellen aufzusuchen. Diese Möglichkeit sei auf zehn
Sonn- und Feiertage beschränkt und an sechs dieser Tage auch noch zeitlich
begrenzt. Das gebotene Regel-Ausnahme-Verhältnis werde angesichts der geringen
Zahl der Sonn- und Feiertage, an denen die Ladenöffnung erlaubt sei, und der
zeitlichen Beschränkung der Öffnung nicht verletzt. Dadurch, dass lediglich an vier
Sonntagen eine ganztägige Ladenöffnung zulässig sei, nähmen die Sonntage nicht
werktäglichen Charakter an. Eine bloße Zunahme der werktäglichen Prägung
begründete noch keinen Verstoß gegen den Kernbestand der Sonn- und
Feiertagsruhe.
Der weltanschaulich-religiösen Komponente des Art. 139 WRV habe der
Landesgesetzgeber ausreichend Rechnung getragen, indem er die Öffnung von
Verkaufsstellen an Sonn- und Feiertagen grundsätzlich verboten und zudem die
Öffnung an sechs von zehn verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen zeitlich begrenzt
und gerade die Hauptgottesdienstzeiten von der Ladenöffnung ausgenommen habe.
Die Entscheidung des Berliner Landesgesetzgebers bewege sich im Rahmen
seiner Gestaltungsfreiheit. Bei der Ausgestaltung des Schutzes der Sonn- und
Feiertage müsse der Gesetzgeber unter Berücksichtigung des nach Art. 139 WRV
gebotenen Regel-Ausnahme-Verhältnisses einen Ausgleich unter anderem mit dem
durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Interesse der Verbraucher am Einkaufen und der
durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsausübungsfreiheit der Ladeninhaber
treffen. Hierbei komme ihm ein weiter Spielraum zu. Anerkannt sei, dass
grundsätzlich nicht nur aus gesellschaftlichen und technischen Gründen notwendige
Arbeiten gestattet seien, sondern auch Arbeiten, welche dem Freizeitbedürfnis der
Bevölkerung zugute kämen. Bei solchen „Arbeiten für den Sonntag“ könne nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Abwägung eher für die
Ladenöffnung ausfallen als bei „Arbeiten trotz des Sonntags“. Allerdings bestehe
auch dann kein absolutes Verbot. Die angegriffenen Regelungen verstießen daher
nur dann gegen Art. 139 WRV, wenn der Gesetzgeber verpflichtet wäre, sie zu
unterlassen, weil der durch sie bewirkte Eingriff in die Sonn- und Feiertagsruhe nicht
durch plausible Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt und unverhältnismäßig wäre.
D avon sei nicht auszugehen. Die Handlungsfreiheit der Verbraucher und die
Berufsausübungsfreiheit der Ladeninhaber legitimiere die Ausnahmeregelung sowohl
einzeln als auch in ihrer Gesamtschau. Die Regelungen seien zum Schutz dieser
Rechtsgüter geeignet, erforderlich und unter Berücksichtigung des durch Art. 139
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WRV vorgegebenen Regel-Ausnahme-Verhältnisses auch angemessen. Dies gelte
insbesondere, wenn man die geänderten Einkaufsgewohnheiten der Bevölkerung
berücksichtige: Für breitere Teile der Bevölkerung habe das Einkaufen an Sonn- und
Feiertagen, insbesondere auch an Adventssonntagen, seinen werktäglichen
Charakter verloren und sei zu einer der Erholung dienenden Freizeitbeschäftigung
geworden, so dass die Ladenöffnung dazu tendiere, zu einer „Arbeit für den Sonntag“
zu werden. Selbst wenn man das anders sehe, komme den geänderten
Einkaufsgewohnheiten zusammen mit dem vom Gesetzgeber verfolgten Ziel der
Stimulierung der Wirtschaft jedenfalls solches Gewicht zu, dass es die Einschränkung
des Sonn- und Feiertagsschutzes in dem beschränkten Umfang rechtfertige.
Dies treffe auch für die einzelnen Regelungen zu. Die Ladenöffnung an allen
Adventssonntagen sei nicht zu beanstanden. Art. 139 WRV lasse sich nicht
entnehmen, dass stets alternierend einem Sonntag, an dem zeitlich beschränkt eine
Ladenöffnung zulässig ist, ein verkaufsfreier Sonntag folgen müsse. Dem von Art. 139
WRV verfolgten Ziel der Arbeitsruhe zugunsten der Arbeitnehmer im Einzelhandel
habe der Gesetzgeber dadurch Rechnung getragen, dass gemäß § 7 Abs. 5
BerlLadÖffG Arbeitnehmer nur an zwei Adventssonntagen im Jahr beschäftigt werden
dürfen. Zwar hätten die Adventssonntage im Kirchenjahr einen hervorragenden Platz.
Dem stehe aber gegenüber, dass der Einzelhandel im Weihnachtsgeschäft einen
beachtlichen Teil des Umsatzes erziele, und deshalb besonderes Interesse an der
Ladenöffnung habe, mit dem das gesteigerte Interesse der Bevölkerung an
Sonntagseinkäufen im Advent gegebenenfalls im familiären Rahmen korrespondiere.
Zudem habe der Berliner Gesetzgeber die Hauptgottesdienstzeiten von der
Ladenöffnung ausgespart. Die in § 4 Abs. 1 Nr. 4
BerlLadÖffG geregelte Ladenöffnung an Weihnachten, wenn der 24. Dezember auf
einen Adventssonntag fällt, sei nicht zu beanstanden, weil lediglich der Verkauf
bestimmter Waren gestattet sei und zudem die Öffnungszeiten entsprechend den
Interessen der Beschwerdeführer auf die Zeit von 7.00 bis 14.00 Uhr beschränkt
seien. Die Regelung des Verkaufs von leicht verderblichem Obst und Gemüse durch
den Erzeuger (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 BerlLadÖffG) spiele für die Adventssonntage keine
nennenswerte Rolle.
Die weiteren Regelungen der Ladenöffnung bedürften keiner Einzelbetrachtung. Die
Ausnahmeregelungen seien überdies sachlich noch eingeschränkt durch die
Voraussetzungen des „öffentlichen Interesses“ beziehungsweise des „besonderen
Ereignisses“. Zudem hätten sich entsprechende Vorläufer schon in § 14 und § 23
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LadSchlG gefunden. Die Rechtslage des Berliner Ladenöffnungsgesetzes sei
demgegenüber sogar enger, weil die Zahl der verkaufsoffenen Sonn- und Feiertage
anders als in § 23 LadSchlG beschränkt sei.
2. Die Regierung des Landes Brandenburg hat sich lediglich zu § 4 Abs. 1 Nr. 4 und
§ 4 Abs. 2 Nr. 1 BerlLadÖffG geäußert, da nur diese Bestimmungen dem
brandenburgischen
Landesrecht ähnelten. Diese Vorschriften würden den
verfassungsrechtlichen Maßgaben gerecht. Durch sie werde weder der Kernbereich
des Sonn- und Feiertagsschutzes noch das verfassungsrechtlich verbürgte Regel-
Ausnahme-Verhältnis hinsichtlich der Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen
angetastet.
3. Die Thüringer Landesregierung hält die Verfassungsbeschwerden für zulässig
und
begründet.
Die Beschwerdeführer würden durch die angegriffenen
Gesetzesbestimmungen in ihrem Grundrecht auf Religionsausübungsfreiheit aus
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verletzt. Die Ausgestaltung des Sonn- und Feiertagsschutzes
genüge nicht mehr dem Gebot an den Gesetzgeber, einen absoluten Kernbereich der
Sonn- und Feiertagsruhe zu schützen. Die Regelungen in § 6 Abs. 1 und 2
BerlLadÖffG verstießen zudem gegen das Grundrecht der Beschwerdeführer auf
Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG, denn es sei vom
Zufall abhängig, ob die Beschwerdeführer Kenntnis von der Anzeige des
Verkaufsstelleninhabers gegenüber dem zuständigen Bezirksamt erhielten und
gegebenenfalls das Nichteinschreiten der Behörde gerichtlich überprüfen lassen
könnten.
4. Das Bundesverwaltungsgericht hat mitgeteilt, nach Inkrafttreten der so genannten
Föderalismusreform I mit der Änderung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG sei der für das
Wirtschaftsverwaltungsrecht zuständige 6. Revisionssenat nicht mit Verfahren aus
dem Gebiet des Ladenschlussrechts befasst gewesen. Der früher für das genannte
Rechtsgebiet zuständige 1. Revisionssenat habe sich in mehreren Entscheidungen
mit Fragen des Bundesgesetzes über den Ladenschluss befasst. Einen gewissen
Bezug zu den mit den vorliegenden Verfassungsbeschwerden aufgeworfenen Fragen
wiesen mehrere, im Einzelnen aufgeführte Entscheidungen auf. Von einer weiteren
Stellungnahme hat das Bundesverwaltungsgericht abgesehen.
5. Die Deutsche Bischofskonferenz hält die Verfassungsbeschwerden für zulässig
und begründet. Sie verweist auf die Beschwerdeschriften und hebt ergänzend hervor,
dass das angegriffene Gesetz den Schutz des Sonntags und der Feiertage in
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verfassungsrechtlich nicht mehr erträglicher Weise zurückdränge.
6. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) stimmt dem Inhalt der
Beschwerdeschrift
der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische
Oberlausitz in vollem Umfang zu und schließt sich auch den Überlegungen in der
Beschwerdeschrift des Erzbistums Berlin an.
7. Der Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands und der Dachverband Freier
Weltanschauungsgemeinschaften e.V. haben gleich lautende Stellungnahmen
abgegeben. Sie sind der Auffassung, die Verfassungsbeschwerden seien
abzuweisen, da die Beschwerdeführer nicht in ihren Rechten verletzt seien. Eine
kirchliche Deutungshoheit der Sonn- und Feiertage sei im weltanschaulich neutralen
Staat abzulehnen.
8. Der Verein Deutsche Unitarier Religionsgemeinschaft e.V. hat geäußert, von
staatlicher Seite sollten wiederkehrende Zeiten sichergestellt werden, die dem
Einzelnen Ruhe und Besinnung, Zeiten des religiösen Erlebens oder auch
Erlebnisse in Gemeinschaften erlaubten. Dies könne aber in verschiedenen Formen,
nicht nur durch Sonntagsruhe oder Feiertagsschutz erfolgen, wobei dem
gesellschaftlichen Wandel Rechnung getragen werden müsse. Traditionell kirchliche
Feiertage zu schützen, sei angesichts der Verpflichtung des Staates zur
weltanschaulichen Neutralität nicht die Aufgabe des Staates.
9.
Nach
Auffassung
der
Giordano-Bruno-Stiftung können
die
Verfassungsbeschwerden keinen Erfolg haben. Art. 139 WRV beinhalte nur einen
objektivrechtlichen Sonntagsschutz mit weitem Spielraum des Gesetzgebers. Auch
auf die Gewährleistung seines Kernbereichs bestehe kein subjektiver
Rechtsanspruch. Deshalb seien die Verfassungsbeschwerden unzulässig. Zudem
lasse sich selbst bei einer umfassenden objektivrechtlichen Prüfung des
angegriffenen Gesetzes kein Verfassungsverstoß feststellen. Von jährlich
52 Sonntagen blieben mindestens 44 von gravierender „werktäglicher Geschäftigkeit“
frei. An den vier Adventssonntagen dürften Verkaufsstellen nur von 13.00 bis
20.00 Uhr geöffnet sein. Der absolut geschützte Kernbereich der institutionellen
Garantie des Art. 139 WRV sei daher nicht berührt.
10. Der Humanistische Verband Deutschlands - Bundesverband - trägt vor, die
Verfassungsbeschwerden verkürzten den Schutz des Sonntags unzulässig auf eine
christlich-religiöse Schutzvorschrift, was schon dem Wortlaut des Art. 139 WRV
widerspreche. Der Sonntag sei kein speziell christlicher Feiertag. Art. 139 WRV
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enthalte lediglich eine objektivrechtliche Institutsgarantie ohne subjektive
Berechtigung. Das angegriffene Gesetz nehme auch nicht die Möglichkeit zum
Kirchgang. Im Übrigen müssten die soziologischen Determinanten im Lande Berlin
berücksichtigt werden. Die christlichen Kirchen vereinten nicht die Mehrheit der
Berliner unter sich. Die Regelungen des Berliner Ladenöffnungsgesetzes seien
verfassungsgemäß, da das Recht auf Religionsausübung für jede gläubige
Minderheit gewährleistet sei.
11. Nach Auffassung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe
d e s Einzelhandels e.V. (BAG) fehlt es den Beschwerdeführern bereits an einem
subjektiven Recht zur Geltendmachung ihrer Ansprüche. Dessen ungeachtet tasteten
die
angegriffenen Regeln des Berliner Ladenöffnungsgesetzes nicht den
Kernbestand der Sonn- und Feiertagsruhe an. Vielmehr stellten sie einen
interessengerechten Ausgleich zwischen den Erholungs- und Freizeitbedürfnissen
der Bevölkerung und dem Grundsatz der Arbeitsruhe her, ohne dabei das Regel-
Ausnahme-Verhältnis zwischen werktäglicher Beschäftigung und sonntäglicher
Arbeitsunterbrechung zu berühren. Im Übrigen diene die Neugestaltung der
Ladenschlusszeiten sowohl der Ausübung von Grundrechten der Ladeninhaber als
auch der Angestellten und Dritter sowie der Berücksichtigung übergreifender und
verfassungsrechtlich legitimierter gesellschaftlicher und ökonomischer Interessen der
Allgemeinheit. Die Berücksichtigung dieser Rechte und Interessen lasse einen
etwaigen Eingriff in Grundrechte der Beschwerdeführer in jedem Fall als gerechtfertigt
erscheinen.
Die
Bundesarbeitsgemeinschaft
weist
zudem darauf hin, dass eine
stichprobenartige Umfrage unter den mittelständischen Einzelhandelsunternehmen in
Berlin ergeben habe, dass 14 % der befragten Geschäftsinhaber erklärt hätten,
speziell im Hinblick auf die erweiterten Ladenöffnungszeiten neue Angestellte
eingestellt zu haben. Sie betont, dass mit der Neuregelung der Ladenöffnungszeiten
die von ihr für gleichheitswidrig erachtete Bevorzugung von Einzelhändlern an
privilegierten Standorten wie Tankstellen, Raststätten, Flughäfen und Bahnhöfen
sowie die Bevorzugung des Online-Handels deutlich abgemildert worden sei.
12. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) ist der
Ansicht, die Ausgestaltung der Ladenöffnungszeiten stelle keinen Verstoß gegen die
aus Art. 139 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG folgende Pflicht des Staates zur
Gewährleistung der Sonntagsruhe dar. Der Berliner Gesetzgeber bewege sich
innerhalb seines Ausgestaltungsspielraums. Die Vorschriften seien weder einzeln
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104
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106
107
noch in ihrer Zusammenschau verfassungswidrig.
13. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag enthält sich einer eigenen
Stellungnahme, weil die von den einzelnen Industrie- und Handelskammern
geäußerten wirtschaftsbezogenen Positionen im konkreten Fall so unterschiedlich
seien, dass ein klarer Trend nicht erkennbar sei.
So sei die Industrie- und Handelskammer Berlin der Auffassung, die Ladenöffnung
diene der Befriedigung von Freizeitbedürfnissen und stelle damit als „Arbeit für den
Sonntag“ eine privilegierte Ausnahme vom Gebot der Arbeitsruhe dar. Zu
berücksichtigen sei auch die Sonderrolle Berlins als Hauptstadt und
Touristenmetropole. Der Kernbestand des Sonn- und Feiertagsschutzes werde durch
die maßvolle Freigabe des Einzelhandels nicht angetastet.
Die Landesarbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern des Landes
Brandenburg vertrete die Ansicht, ein weitgehendes Verbot der Arbeit an Sonn- und
Feiertagen schade dem Standort Deutschland, seiner Wirtschaft und seinen Bürgern.
Das Arbeitszeitgesetz biete hinreichende Schutzmöglichkeiten.
Die Industrie- und Handelskammer zu Köln verweise auf die wichtige Funktion der
verkaufsoffenen Sonntage für den Einzelhandel sowie für die Vitalität der Innenstädte.
Für den innerstädtischen Einzelhandel eines Oberzentrums seien verkaufsoffene
Sonntage
geradezu notwendig, um sich im nationalen und internationalen
Standortwettbewerb zu behaupten.
14. Der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE) hält die Regelungen
des
Berliner Ladenöffnungsgesetzes
für
verfassungskonform.
Die
Verfassungsbeschwerden seien unzulässig, jedenfalls aber unbegründet. Es fehle
den Beschwerdeführern schon an der Beschwerdebefugnis, denn sie seien nicht
selbst und zumindest teilweise nicht unmittelbar von den angegriffenen Normen
betroffen. Die mögliche Verletzung eines Grundrechts sei nicht dargetan. Teilweise
unzulässig
seien
die Verfassungsbeschwerden darüber hinaus, weil die
Beschwerdeführer zunächst den Rechtsweg zu den Fachgerichten beschreiten
müssten. Unabhängig davon seien die Beschwerdeführer aber auch sachlich nicht in
ihren Grundrechten verletzt.
15. Nach Auffassung des Christlichen Gewerkschaftsbunds (CGB) dient der Sonn-
und
Feiertagsschutz des Art. 139 WRV im Schwerpunkt dem religiös-
gemeinschaftlichen Aspekt, der „seelischen Erhebung“, und weniger der körperlichen
108
109
Erholung.
Dies
ergebe sich aus dem Kontext der Bestimmung. Unter
Berücksichtigung dieses Umstands konkretisiere Art. 139 WRV die in Art. 4 GG
manifestierte Religionsfreiheit. Untermauert werde dies durch die christlich geprägte
Bedeutung des Sonntags in der abendländischen Kultur. Das angegriffene Gesetz
hebele den Schutz der Sonn- und Feiertage aus und verletze dessen Kernbereich.
Den Verfassungsbeschwerden sei stattzugeben.
16. Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und der Deutsche
Gewerkschaftsbund (DGB) teilen die Rechtsauffassung der Beschwerdeführer und
unterstützen die Verfassungsbeschwerden in einer gemeinsamen Stellungnahme. Im
Interesse der Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Sonn- und
Feiertagsschutz sei es notwendig, den Kirchen die Möglichkeit zur effektiven
Durchsetzung des Sonn- und Feiertagsschutzes zu eröffnen. Die angegriffenen
Vorschriften seien schon deshalb verfassungswidrig, weil das Land keine Kompetenz
zur Regelung der arbeitsschutzrechtlichen Aspekte des Ladenschlusses habe. Ferner
stellten die angegriffenen Regelungen einen nicht gerechtfertigten Eingriff in den
gemäß Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV garantierten Schutz der Sonn-
und Feiertagsruhe dar. Sie seien weder geeignet noch erforderlich, um die vom
Gesetzgeber verfolgten Ziele zu erreichen. Im Übrigen seien sie wegen der
gravierenden Folgen auch nicht angemessen. Hinzu komme, dass auch der Schutz
der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und die körperliche Unversehrtheit der Arbeitnehmer
(Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) beeinträchtigt würden.
Im Übrigen heben die Gewerkschaft ver.di und der Deutsche Gewerkschaftsbund
hervor, die Eignung der vom Landesgesetzgeber getroffenen Regelung, das verfolgte
Ziel
zu erreichen, nämlich zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen und die
wirtschaftliche Entwicklung positiv zu beeinflussen, begegne erheblichen Zweifeln.
Diese Ziele seien schon bei früheren Ausweitungen der Ladenöffnungszeiten
genannt, aber verfehlt worden. So habe insbesondere die Verlängerung der
Ladenöffnungszeiten an Samstagen bis 20.00 Uhr seit dem Jahr 2003 bis zum Jahr
2007 lediglich zu einer Umsatzsteigerung von 0,2 % geführt. Zugleich sei die Zahl der
Beschäftigten um 3,2 % zurückgegangen. Besonders gravierend sei die Entwicklung
bei den Vollzeitbeschäftigten. Deren Zahl sei seit 2003 um 10,5 % gesunken,
während der Anteil geringfügig entlohnter Beschäftigter um 4,9 % und der Anteil von
Teilzeitbeschäftigten um 5,9 % gestiegen sei. Diese Zahlen zeigten, dass eine
Verlängerung der Ladenöffnungszeiten nicht die erhofften positiven Effekte nach sich
ziehe. Die Veränderung der Öffnungszeiten habe keine Erhöhung des Konsums zur
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Folge, verursache aber höhere Betriebskosten. Regelmäßig würden diese durch
Einsparungen bei den Personalkosten kompensiert, was zu einer Ausweitung
geringfügig
entlohnter
Beschäftigung
zulasten sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung führe. Im Ergebnis würden lediglich die Kundenströme verlagert,
zugunsten der großen Einkaufszentren und der Innenstädte von Großstädten,
zulasten kleinerer Einzelhandelsgeschäfte und der Geschäfte in Klein- und
Mittelstädten
sowie
in städtischen
Randlagen.
Ziel
des
Berliner
Ladenöffnungsgesetzes sei gerade, die Kundenströme aus den umliegenden
Gebieten abzuziehen und die Kaufkraft nach Berlin zu verlagern. Diese
Konkurrenzsituation könne dazu führen, dass benachbarte Regionen zulasten des
Sonn- und Feiertagsschutzes um die liberaleren Öffnungszeiten wetteiferten.
Weiter weisen die Gewerkschaften darauf hin, dass die Arbeitszeiten der
Beschäftigten weit über die Öffnungszeiten der Geschäfte hinausgingen, weil die
Ladenöffnung umfangreiche Vor- und Nacharbeiten erfordere. Ferner betonen sie die
Bedeutung der durch die kollektiv freien Tage bewirkten gleichen Taktung des
sozialen Lebens. Erst diese Synchronisation der Freizeit schaffe die Möglichkeit, sich
dem Leben in der Familie, in der Ehe, den Vereinen, den Gemeinden und damit
Grundelementen des sozialen Zusammenlebens zuzuwenden. Die Veränderung der
Öffnungszeiten führe zu einer entsprechenden Veränderung der Rhythmizität von
Arbeit und Freizeit, verbunden mit einer Desynchronisation von biologischen und
sozialen Rhythmen. Die Abweichung von den Normal- und Standardarbeitszeiten
führe zu einer Erhöhung des Risikos von Beeinträchtigungen im physiologischen wie
im psychosozialen Bereich, und zwar nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern
auch für deren Familienangehörige.
Zur Beschäftigtenstruktur im Einzelhandel führen die Gewerkschaften aus, dass zum
31. März 2007 im Einzelhandel insgesamt - allerdings deutschlandweit - von etwa 2
Millionen Beschäftigten mehr als zwei Drittel, nämlich 1,4 Millionen, weiblich
gewesen seien. Von den im Handel insgesamt (Einzel- und Großhandel) zu diesem
Stichtag beschäftigten Frauen sei etwa die Hälfte jünger als 40 Jahre und rund drei
Viertel jünger als 50 Jahre. Die Anzahl von beschäftigten Frauen unter 50 Jahren
liege im Einzelhandel bei etwa 75 % und sei besonders groß. Diese Gruppe sei aber
gerade im Hinblick auf die mit der Sonn- und Feiertagsruhe verfolgten sozialen
Zwecke besonders sensibel. Personen in dieser Altersgruppe hätten typischerweise
häufig Kinder, die noch nicht volljährig und selbständig seien. Traditionell komme der
größere Teil der Kinderbetreuung und der Versorgung des Haushaltes noch immer
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116
den Frauen zu. Sie seien daher in besonderer Weise betroffen.
Schließlich weisen die Gewerkschaften auch auf die Folgen der Sonn- und
Feiertagsöffnung für andere Bereiche hin, etwa in der Zulieferindustrie und im Bereich
der Infrastruktur. Besonders kritisch sehen die Gewerkschaften die Ladenöffnung an
den Adventssonntagen. Die Beschäftigten im Einzelhandel bedürften gerade in der
Vorw eihnachtszeit wegen
der
besonderen
Belastungen
durch
das
Weihnachtsgeschäft noch dringlicher der Erholungsphase am Wochenende.
Die angegriffenen Regelungen seien nach allem weder geeignet noch erforderlich,
die
vom
Landesgesetzgeber verfolgten Ziele zu erreichen. Sie seien
unverhältnismäßig, weil die mit der Öffnung an Sonn- und Feiertagen verbundenen
Folgen so gravierend seien, dass die verfolgten Ziele solche Ausnahmen nicht
rechtfertigen könnten. Neben der Religionsfreiheit sei zugleich der Schutz der Familie
i m Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG gefährdet und der Schutz der körperlichen
Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG beeinträchtigt.
17. Die sachkundigen Auskunftspersonen Professor Dr. Knauth und Professor Dr.
Nachreiner haben zu den Auswirkungen von Sonn- und Feiertagsarbeit auf die
Beschäftigten und deren Angehörige aus arbeits- und sozialwissenschaftlicher Sicht
Stellungnahmen abgegeben.
IV.
In der mündlichen Verhandlung haben sich geäußert: die Beschwerdeführer, das
Abgeordnetenhaus und der Senat von Berlin, der Handelsverband Berlin-
Brandenburg e.V., die Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe des
Einzelhandels e.V., der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels, die Vereinte
Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der
Evangelischen Kirche in Deutschland sowie die sachkundigen Auskunftspersonen
Professor Dr. Knauth und Professor Dr. Nachreiner.
Die Vertreter des Abgeordnetenhauses und des Senats von Berlin haben die
Ansicht vertreten, dass das Berliner Ladenöffnungsgesetz den Sonntagsschutz
gegenüber der Rechtslage nach dem Ladenschlussgesetz des Bundes nicht
verschlechtert, sondern sogar verstärkt habe. Denn die Bezirksämter hätten nach
früherer Rechtslage gestützt auf § 23 LadSchlG zahlreiche Ausnahmen vom Verbot
d e r Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen zugelassen. Die neue gesetzliche
Regelung sehe eine solche allgemeine Ausnahmeregelung hingegen nicht vor. Im
neuen Gesetz habe man die Zahl der für eine Freigabe offenen Sonn- und Feiertage
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120
auf eine absolute Höchstzahl begrenzt und zudem die Schwierigkeiten und
Unwägbarkeiten, welche die Anwendung des § 23 LadSchlG mit sich gebracht habe,
beseitigt.
B.
Die zulässigen Verfassungsbeschwerden haben in der Sache teilweise Erfolg.
I.
Die
Verfassungsbeschwerden
sind
zulässig.
Die beschwerdeführenden,
öffentlichrechtlich verfassten Religionsgemeinschaften sind beschwerdefähig und
beschwerdebefugt (1.). Das Gebot der Rechtswegerschöpfung steht der Zulässigkeit
nicht entgegen (2.).
1. Die Beschwerdeführer sind als juristische Personen ungeachtet ihrer
öffentlichrechtlichen Organisationsform hinsichtlich des Grundrechts der
Religionsfreiheit beschwerdefähig (vgl. BVerfGE 42, 312 <321 f.>; 53, 366 <387 f.>)
und auch beschwerdebefugt. Sie machen geltend, durch die angegriffenen Normen in
einem verfassungsbeschwerdefähigen Recht (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90
Abs. 1 BVerfGG), nämlich in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 140 GG
und Art. 139 WRV selbst, unmittelbar und gegenwärtig verletzt zu sein. Dies erscheint
als möglich (vgl. BVerfGE 94, 49 <84>; siehe auch BVerfGE 28, 17 <19>; 52, 303
<327>; 65, 227 <232 f.>; 89, 155 <171>).
a) Ein Betroffensein in einem eigenen Grundrecht wäre von vornherein
ausgeschlossen, wenn auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts bereits entwickelte Grundsätze zur Reichweite des
Grundrechts der Beschwerdeführer aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG angewandt werden
könnten und auf deren Grundlage eine Verletzung dieses Grundrechts in Verbindung
mit Art. 140 GG und Art. 139 WRV ohne weiteres zu verneinen wäre (vgl. BVerfGE
110, 274 <287 ff.> zu Art. 12 Abs. 1 GG). Die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung
ist hingegen dann gegeben, wenn die Verfassungsbeschwerde eine bislang vom
Bundesverfassungsgericht noch nicht entschiedene, offene verfassungsrechtliche
Frage aufwirft (vgl. BVerfGE 94, 49 <84>; Magen, in: Umbach/Clemens/Dollinger,
BVerfGG,
2. Aufl.,
§
92
Rn.
50),
die
die
Annahme
eines
verfassungsbeschwerdefähigen Rechts jedenfalls nicht von vornherein ausschließt.
Das ist hier hinsichtlich der Frage eines etwaigen Überwirkens der
objektivrechtlichen Schutzgarantie des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV
121
122
123
auf das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG im Sinne einer Konkretisierung und
Stärkung des Grundrechtsschutzes der Fall.
Die Beschwerdeführer werfen die Frage auf, ob und inwieweit sich
Religionsgemeinschaften im Wege einer Verfassungsbeschwerde auf die
verfassungsrechtliche Sonn- und Feiertagsgarantie des Art. 139 WRV berufen
können.
Es handelt sich hierbei um einen in der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts noch nicht geklärten Problemkreis, da bislang nur die
Wirkung des Art. 139 WRV gegenüber Grundrechtsträgern beurteilt wurde, die sich in
ihrer Berufsausübungsfreiheit eingeschränkt sahen und denen an Ausnahmen vom
Sonn- und Feiertagsschutz gelegen war (vgl. BVerfGE 111, 10). Daneben wurde in
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lediglich ausgesprochen, dass
Art. 140 GG selbst keine Grundrechtsqualität beizumessen ist (vgl. BVerfGE 19, 129
<135>; siehe dazu auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom
18. September 1995 - 1 BvR 1456/95 -, NJW 1995, S. 3378 f.). Offen geblieben ist
bisher aber, ob und inwieweit gerade Art. 139 WRV im Zusammenwirken mit Art. 4
Abs. 1 und 2 GG oder anderen Grundrechten Religionsgemeinschaften oder anderen
Betroffenen eine Durchsetzung des Sonn- und Feiertagsschutzes ermöglicht.
Unbeantwortet ist weiter, ob und inwieweit der Schutzgehalt eines Grundrechts - hier
des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG - durch den Sonntagsschutz des Art. 139 WRV (i.V.m.
Art. 140 GG) konkretisiert und verstärkt werden kann und dabei die Gewährleistungen
der Arbeitsruhe und der Möglichkeit zu seelischer Erhebung in die Bestimmung des
Schutzgehalts der Grundrechtsnorm einzubeziehen sind. Bejahendenfalls stellt sich
die bislang ebenso ungeklärte Frage, ob es gerade wegen der Bedeutung des
Sonntagsschutzes für die Ladenöffnung konkrete, auch grundrechtsverbürgte
Grenzen für diese gibt und wo sie verlaufen.
Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG steht auch den Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften zu (vgl. nur BVerfGE 24, 236). Schon nach der
b i s h e r i g e n Rechtsprechung
des
Bundesverfassungsgerichts
sind
die
Gewährleistungen der Weimarer Kirchenartikel funktional auf die Inanspruchnahme
und Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt (vgl. BVerfGE
102, 370 <387>).
Danach erscheint eine Verletzung der Beschwerdeführer in einem durch die
Gewährleistung des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV konkretisierten
Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG durch die gesetzliche Erweiterung der
Ladenöffnungsmöglichkeiten an Sonn- und Feiertagen als möglich.
124
125
b) Die Beschwerdeführer haben überdies auch hinreichend dargelegt, selbst
betroffen zu sein, obgleich sie nicht unmittelbar Adressaten der landesgesetzlichen
Regelungen über die Verkaufsstellenöffnung sind. Aus ihrem Vortrag ergibt sich die
Möglichkeit eines rechtlich erheblichen Nachteils auch für sie. Geöffnete Läden und
eine Inanspruchnahme des Sonn- oder Feiertages seitens der Beschwerdeführer zum
Zwecke der seelischen Erhebung schließen sich zwar nicht gänzlich aus. So können
auch während der Ladenöffnungszeiten Gottesdienste oder andere religiöse
Veranstaltungen abgehalten oder diese gegebenenfalls auf Tageszeiten verlegt
werden, zu denen die Geschäfte noch nicht oder nicht mehr geöffnet haben. Eine
Selbstbetroffenheit der Beschwerdeführer kommt aber unter dem Gesichtspunkt in
Betracht, dass sich durch die in Rede stehenden Ladenöffnungszeiten generell der
Charakter der Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe, aber auch der
Besinnung verändert, weil diese Tage auch in ihrer Ganzheit als Tage der Ruhe und
der seelischen Erhebung religiöse Bedeutung für die Beschwerdeführer haben („…
am siebten Tage sollst Du ruhen, ...“; vgl. in der Bibel Ex 23, 12; dazu weiter Dtn 5,
12-14 und in den Zehn Geboten Ex 20, 8-11). Das gilt jedenfalls auf der Grundlage
der Annahme einer Konkretisierung des Schutzgehalts des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
durch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV, auf die sich die Beschwerdeführer
berufen.
c) Die Beschwerdeführer sind durch die in Rede stehenden Normen zudem
gegenwärtig betroffen, weil das Berliner Ladenöffnungsgesetz in Kraft ist. Die
unmittelbare Betroffenheit der Beschwerdeführer folgt daraus, dass die angegriffenen
Vorschriften
über
die
Möglichkeit
der Verkaufsstellenöffnung an den
Adventssonntagen (§ 3 Abs. 1 Alternative 2 BerlLadÖffG) keines weiteren
Vollzugsaktes bedürfen, also so genannte selbstvollziehende Gesetzesnormen sind
(vgl.
BVerfGE 109, 279 <306 f.> m.w.N.). Das gilt auch für die Bestimmungen in § 4 Abs. 1
Nr. 4 und Abs. 2 Nr. 1 BerlLadÖffG. Soweit die Regelungen des § 6 Abs. 1 und 2
BerlLadÖffG jeweils noch einer Umsetzung bedürfen, also einer Allgemeinverfügung
oder einer vorherigen Anzeige mit folgender Duldung seitens der Verwaltung, steht
dies der Annahme unmittelbaren Betroffenseins nicht entgegen. Von den Anzeigen
der Verkaufsstellen werden die Beschwerdeführer zumeist nicht rechtzeitig Kenntnis
erlangen. Angesichts der Kumulation der im Gesetz an verschiedenen Stellen
angelegten Ladenöffnungsmöglichkeiten an Sonn- und Feiertagen ist eine
unmittelbare
Betroffenheit
auch
durch § 6 Abs. 1 BerlLadÖffG kraft
126
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131
Sachzusammenhangs gegeben.
2. Das Gebot der Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) und der
Grundsatz der Subsidiarität stehen der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden
nicht entgegen.
a) Gegen die „selbstvollziehenden“ Bestimmungen der § 3 Abs. 1 Alternative 2, § 4
Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 2 Nr. 1 BerlLadÖffG, welche die Öffnungen an den vier
Adventssonntagen sowie für den Verkauf von leicht verderblichem Obst und Gemüse
und für einen auf den Sonntag fallenden Heiligabend betreffen, ist für die
B eschw erdeführer kein
wirkungsvoller
Rechtsschutz
außerhalb
des
Verfassungsbeschwerdeverfahrens gegeben.
b) Hinsichtlich der Regelung der mit einer Anzeigepflicht verbundenen Befugnis der
Verkaufsstellen zur Öffnung aus besonderem Anlass (§ 6 Abs. 2
BerlLadÖffG) besteht ebenso wenig ein wirkungsvoller fachgerichtlicher
Rechtsschutz. Die erforderlichen Anzeigen, die sechs Tage vor der beabsichtigten
Ladenöffnung zu erfolgen haben, müssen den Beschwerdeführern nicht zur Kenntnis
gebracht werden.
c) Wegen der Möglichkeit, vier Sonn- und Feiertage durch Allgemeinverfügung
aufgrund des § 6 Abs. 1 BerlLadÖffG für die Verkaufsstellenöffnung freizugeben, ist
den Beschwerdeführern eine Verweisung auf den fachgerichtlichen Rechtsweg nicht
zumutbar.
Sie
erstreben eine verfassungsgerichtliche Überprüfung des
Normenkomplexes der § 3 Abs. 1 Alternative 2, § 4 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 2 Nr. 1, § 6
Abs. 1 und 2 BerlLadÖffG insgesamt; die anderen Vorschriften können aber nicht
ohne den damit im Sachzusammenhang stehenden § 6 Abs. 1 BerlLadÖffG
erschöpfend beurteilt werden.
II.
Die Verfassungsbeschwerden sind teilweise begründet. Das Schutzkonzept, das
den Regelungen zur Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen im Land Berlin zugrunde
liegt, wird der Schutzverpflichtung des Landesgesetzgebers aus Art. 4 Abs. 1 und 2
GG in seiner Konkretisierung durch Art. 139 WRV (i.V.m. Art. 140 GG) nicht
hinreichend gerecht.
Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG wird in seiner Bedeutung als
Schutzverpflichtung
des Gesetzgebers (1.) durch den objektivrechtlichen
Schutzauftrag für den Sonn- und Feiertagsschutz aus Art. 139 WRV (i.V.m. Art. 140
132
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135
GG) konkretisiert, der neben seiner weltlich-sozialen Bedeutung in einer religiös-
christlichen Tradition wurzelt (2.). Danach ist ein Mindestniveau des Schutzes der
Sonntage und der gesetzlich anerkannten - hier der kirchlichen - Feiertage durch den
Gesetzgeber zu gewährleisten (3.). Dem genügt das Berliner Sonn- und
Feiertagsschutzkonzept nicht in jeder Hinsicht. Die dort vorgesehene Möglichkeit der
Ladenöffnung an allen vier Adventssonntagen ist mit den Mindestanforderungen an
einen auch grundrechtsverbürgten Schutz nicht mehr in Einklang zu bringen. Die
Regelung über die Öffnung aufgrund Allgemeinverfügung an vier weiteren Sonn- und
Feiertagen trägt nur bei einschränkender Auslegung den Erfordernissen des vom
Gesetzgeber zu gewährleistenden Mindestschutzes Rechnung (4.). Im Übrigen halten
die angegriffenen Bestimmungen im Rahmen des vom Landesgesetzgeber verfolgten
Schutzkonzepts verfassungsrechtlicher Prüfung stand (5.).
1. Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist hier in seiner Bedeutung als
Schutzverpflichtung des Staates betroffen.
Das Berliner Ladenöffnungsgesetz greift weder gezielt in die Religionsfreiheit der
Beschwerdeführer ein, noch liegt in den verschiedenen Bestimmungen und Optionen
z u r Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen das „funktionale Äquivalent“ eines
Eingriffs. Es richtet sich mit den hier angegriffenen Vorschriften an die
Verkaufsstelleninhaber und eröffnet diesen Möglichkeiten zur Ladenöffnung an Sonn-
und Feiertagen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erschöpft sich der
Grundrechtsschutz nicht in seinem klassischen Gehalt als subjektives Abwehrrecht
gegenüber staatlichen Eingriffen. Aus Grundrechten ist vielmehr auch eine
Schutzpflicht des Staates für das geschützte Rechtsgut abzuleiten, deren
Vernachlässigung von dem Betroffenen mit der Verfassungsbeschwerde geltend
gemacht werden kann (vgl. BVerfGE 92, 26 <46>; ähnlich BVerfGE 56, 54 <80 f.>; 77,
170 <215>; 79, 174 <202>). Auch die Religionsfreiheit beschränkt sich nicht auf die
Funktion eines Abwehrrechts, sondern gebietet auch im positiven Sinn, Raum für die
aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen
Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern (vgl. BVerfGE 41, 29
<49>). Diese Schutzpflicht trifft den Staat auch gegenüber den als Körperschaften des
öffentlichen Rechts verfassten Religionsgemeinschaften.
Der Staat muss dieser Schutzpflicht durch hinreichende Vorkehrungen genügen.
Aus einer grundrechtlichen Schutzpflicht folgt in der Regel indessen keine bestimmte
136
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138
Handlungsvorgabe. Die zuständigen staatlichen Organe, insbesondere der
Gesetzgeber, haben vielmehr zunächst in eigener Verantwortung zu entscheiden, wie
sie ihre Schutzpflichten erfüllen. Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, ein
Schutzkonzept aufzustellen und normativ umzusetzen. Dabei kommt ihm ein weiter
E i n s c h ä tz u n g s - , Wertungs-
und
Gestaltungsspielraum
zu.
Das
Bundesverfassungsgericht kann die Verletzung einer solchen Schutzpflicht nur
feststellen, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn
die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig
unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich
hinter dem Schutzziel zurückbleiben (vgl. BVerfGE 92, 26 <46>; ähnlich BVerfGE 56,
54 <80 f.>; 77, 170 <215>; 79, 174 <202>) .
2. Allein aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG lässt sich keine staatliche Verpflichtung
herleiten, die religiös-christlichen Feiertage und den Sonntag unter den Schutz einer
näher auszugestaltenden generellen Arbeitsruhe zu stellen und das Verständnis
bestimmter Religionsgemeinschaften von nach deren Lehre besonderen Tagen
zugrunde zu legen. Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG erfährt jedoch eine
Konkretisierung durch die Sonn- und Feiertagsgarantie nach Art. 140 GG in
Verbindung mit Art. 139 WRV: Die Sonn- und Feiertagsgarantie wirkt ihrerseits als in
der Verfassung getroffene Wertung auf die Auslegung und Bestimmung des
Schutzgehalts von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ein und ist deshalb auch bei der
Konkretisierung der grundrechtlichen Schutzpflicht des Gesetzgebers zu beachten.
Art. 139 WRV enthält einen Schutzauftrag an den Gesetzgeber (vgl. BVerfGE 87, 363
<393>), der im Sinne der Gewährleistung eines Mindestschutzniveaus dem
Grundrechtsschutz aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG insoweit Gehalt gibt.
a) Art. 4 GG garantiert in Absatz 1 die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und
des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, in Absatz 2 das Recht der
ungestörten Religionsausübung. Beide Absätze des Art. 4 GG enthalten ein
umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht (vgl. BVerfGE 24, 236 <245 f.>;
32, 98 <106>; 44, 37 <49>; 83, 341 <354>; 108, 282 <297>), das auch die
Religionsfreiheit der Korporationen umfasst (vgl. BVerfGE 19, 129 <132>; 24, 236
<245>; 83, 341 <354 f.>).
Bei der näheren Bestimmung des Schutzgehalts des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1
und 2 GG ist auch an die Schutzgarantie des Art. 139 WRV für den Sonn- und
Feiertagsschutz anzuknüpfen. Die durch Art. 140 GG aufgenommenen Vorschriften
der Weimarer Reichsverfassung und somit auch Art. 139 WRV sind von gleicher
139
140
Normqualität wie die sonstigen Bestimmungen des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE
111, 10 <50> m.w.N.). Bei der Sonn- und Feiertagsgarantie handelt es sich zwar nicht
um ein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht (vgl. BVerfGE 19, 129 <135>; 19,
206 <218>). Die Gewährleistungen der so genannten Weimarer Kirchenartikel sind
aber funktional auch auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts
der Religionsfreiheit angelegt (vgl. BVerfGE 42, 312 <322>; 102, 370 <387>). Die
inkorporierten Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung, die mit dem
Grundgesetz ein organisches Ganzes bilden (vgl.
BVerfGE 66, 1 <22>; 70, 138 <167>), regeln das Grundverhältnis zwischen Staat und
Kirche (vgl. BVerfGE 42, 312 <322>). Es ist anerkannt, dass zumindest Teilaspekte
dieses Grundverhältnisses auch von Art. 4 GG erfasst werden (vgl. BVerfGE 42, 312
<322>). Im Kontext des Grundgesetzes sind die Kirchenartikel auch ein Mittel zur
Entfaltung der Religionsfreiheit der korporierten Religionsgemeinschaften (vgl.
BVerfGE 102, 370 <387> zu Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV; siehe auch BVerfGE 99,
100 <119 ff.> zu Art. 138 Abs. 2 WRV).
b) Die funktionale Ausrichtung der so genannten Weimarer Kirchenartikel auf die
Inanspruchnahme des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gilt auch für die
Gewährleistung der Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung in Art. 139
WRV, obgleich in dieser Norm selbst der religiös-christliche Bezug nicht ausdrücklich
erwähnt wird. Art. 139 WRV hat nach seiner Entstehungsgeschichte, seiner
systemischen Verankerung in den Kirchenartikeln und seinen Regelungszwecken
neben seiner weltlich-sozialen auch eine religiös-christliche Bedeutung. Er sichert mit
seinem Schutz eine wesentliche Grundlage für die Rekreationsmöglichkeiten des
Menschen und zugleich für ein soziales Zusammenleben und ist damit auch Garant
für die Wahrnehmung von Grundrechten, die der Persönlichkeitsentfaltung dienen. Er
erweist sich so als verfassungsverankertes Grundelement sozialen Zusammenlebens
und staatlicher Ordnung und ist als Konnexgarantie zu verschiedenen Grundrechten
zu begreifen. Die Gewährleistung von Tagen der Arbeitsruhe und der seelischen
Erhebung ist darauf ausgerichtet, den Grundrechtschutz - auch im Sinne eines
Grundrechtsvoraussetzungsschutzes - zu stärken und konkretisiert insofern die aus
den jeweils einschlägigen Grundrechten folgenden staatlichen Schutzpflichten (vgl.
Häberle, Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 2. Aufl. 2006, S. 63 f., 70).
Schon die Entstehungsgeschichte der Vorschrift lässt die Verknüpfung der tradierten
religiösen und sozialen Aspekte des Sonn- und Feiertagsschutzes zutage treten. Bei
der Einbringung in der Weimarer Nationalversammlung hob der Berichterstatter, der
141
142
143
Abgeordnete Mausbach (Zentrumspartei), hervor, die Bestimmung schütze die
„öffentliche Sitte“ und die christliche Tradition und Religionsausübung. Die großen
geschichtlichen Bestandteile der Kultusausübung enthielten aber auch wertvolle
Freiheitsrechte für die Einzelnen; und gerade diese Seite der Sonntagsruhe, die
„Schonung der Freiheit“ und der „sozialen Gleichwertigkeit aller Klassen“, sei darin
angesprochen (vgl. Heilfron, Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919, 6.
Band, 1920, S. 4007). Der Religionsbezug des Art. 139 WRV wird bestätigt durch
seine Stellung im Grundrechtsteil der Weimarer Reichsverfassung unter der
Abschnittsüberschrift „Religion und Religionsgesellschaften“. Die Inkorporation der
Weimarer Kirchenartikel in das Grundgesetz war letztlich ein Kompromiss, bei dessen
Findung der überkommene Gewährleistungsgehalt des Art. 139 WRV nicht mehr zur
Debatte stand. Damit setzte sich im Ergebnis die motivische Allianz zwischen
religions- und arbeitsverfassungspolitischen Bestrebungen fort, die schon das
Zustandekommen des Art. 139 WRV bestimmt hatte (vgl. Korioth, in: Maunz/Dürig,
GG, Art. 139 WRV Rn. 9 f.).
Art. 139 WRV ist damit ein religiöser, in der christlichen Tradition wurzelnder Gehalt
eigen, der mit einer dezidiert sozialen, weltlich-neutral ausgerichteten Zwecksetzung
einhergeht.
c) Soweit Art. 139 WRV an den Sonntag und an die staatlich anerkannten religiösen
Feiertage in ihrer überkommenen christlichen Bedeutung als arbeitsfreie Ruhetage
anknüpft, deckt er sich im lebenspraktischen Ergebnis in seinen Wirkungen
weitgehend mit der sozialen Bedeutung der Sonn- und Feiertagsgarantie. Er hat
insoweit seine Wurzeln im jüdischen Sabbat (Samstag). Das jüdische Verständnis
des Sabbats als heiliger Ruhetag wurde später auf den Sonntag übertragen (vgl.
Bergholz, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XXXI, 2000, Artikel Sonntag,
S. 451 ff.).
In der neuzeitlichen Interpretation durch die großen öffentlichrechtlich verfassten
christlichen Religionsgemeinschaften kommt dem Sonntag und den religiös-
christlichen Feiertagen auch die Aufgabe zu, Schutz vor einer weitgehenden
Ökonomisierung des Menschen zu bieten. So heißt es etwa im Katechismus der
Katholischen Kirche (Rn. 2172), der Sonntag unterbreche den Arbeitsalltag und
gewähre eine Ruhepause; er sei ein Tag des Protestes gegen die „Fron der Arbeit“
und die „Vergötzung des Geldes“. Das Leben der Menschen erhalte durch die Arbeit
und
die
Ruhe
seinen Rhythmus
(Rn.
2184).
Im
Evangelischen
Erwachsenenkatechismus (6. Aufl. 2000) wird hervorgehoben, der Mensch und die
144
145
146
Gesellschaft brauchten den Sonntag, um zu erfahren, dass Produktion und
Rentabilität nicht den Sinn des Lebens ausmachten. Nach diesem Verständnis ist der
„Rhythmus von Arbeit und Ruhe" ein „zentraler Rhythmus der christlich-jüdischen
Kultur“ (S. 424 f., S. 457).
d) Mit der Gewährleistung rhythmisch wiederkehrender Tage der Arbeitsruhe
konkretisiert Art. 139 WRV überdies das Sozialstaatsprinzip. Unter diesem
Gesichtspunkt hat er weitergehende grundrechtliche Bezüge. Die Sonn- und
Feiertagsgarantie fördert und schützt nicht nur die Ausübung der Religionsfreiheit.
Die Arbeitsruhe dient darüber hinaus der physischen und psychischen Regeneration
und damit der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG). Die Statuierung
gemeinsamer Ruhetage dient dem Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG).
Auch die Vereinigungsfreiheit lässt sich so effektiver wahrnehmen (Art. 9 Abs. 1 GG).
Der Sonn- und Feiertagsgarantie kann schließlich ein besonderer Bezug zur
Menschenwürde beigemessen werden, weil sie dem ökonomischen Nutzendenken
eine Grenze zieht und dem Menschen um seiner selbst willen dient.
Die soziale Bedeutung des Sonn- und Feiertagsschutzes und mithin der generellen
Arbeitsruhe im weltlichen Bereich resultiert wesentlich aus der - namentlich durch den
Wochenrhythmus bedingten - synchronen Taktung des sozialen Lebens. Während
die
Arbeitszeit- und Arbeitsschutzregelungen jeweils für den Einzelnen
Schutzwirkung entfalten, ist der zeitliche Gleichklang einer für alle Bereiche
regelmäßigen Arbeitsruhe ein grundlegendes Element für die Wahrnehmung der
verschiedenen Formen sozialen Lebens. Das betrifft vor allem die Familien,
insbesondere jene, in denen es mehrere Berufstätige gibt, aber auch
gesellschaftliche Verbände, namentlich die Vereine in den unterschiedlichen
Sparten. Daneben ist im Auge zu behalten, dass die Arbeitsruhe an Sonn- und
Feiertagen auch für die Rahmenbedingungen des Wirkens der politischen Parteien,
der Gewerkschaften und sonstiger Vereinigungen bedeutsam ist und sich weiter,
freilich im Verbund mit einem gesamten „freien Wochenende“, auch auf die
Möglichkeiten zur Abhaltung von Versammlungen auswirkt. Ihr kommt mithin auch
erhebliche Bedeutung für die Gestaltung der Teilhabe im Alltag einer gelebten
Demokratie zu. Sinnfällig kommt das dadurch zum Ausdruck, dass nach der
einfachrechtlichen Ausgestaltung der Tag der Wahlen ein Sonntag oder gesetzlicher
Feiertag sein muss (vgl. § 16 Satz 2 Bundeswahlgesetz).
Darüber hinaus eröffnet die generelle Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen dem
Einzelnen die Möglichkeit der physischen und psychischen Regeneration. Aus
147
148
149
arbeitswissenschaftlicher Sicht wird dem wesentliche Bedeutung für das individuelle
Wohlbefinden und die gesundheitliche Stabilität beigemessen, wie die sachkundigen
Auskunftspersonen Professor Dr. Peter Knauth und Professor Dr. Friedhelm
Nachreiner in der mündlichen Verhandlung fundiert ausgeführt haben.
e) Neben dieser anhand des Regelungszwecks bestimmten Bedeutung für den
Schutz der Grundrechte wird der Charakter des Art. 139 WRV als Konnexgarantie
dadurch unterstrichen, dass verfassungsrechtliche Institutsgarantien ohnehin in ihrem
jeweils spezifischen Gehalt auf Grundrechtsstärkung ausgerichtet sind. Da die
Verfassung insgesamt als ein teleologisches Sinngebilde erscheint (vgl. BVerfGE 19,
206 <220>) und der Sonn- und Feiertagsschutz in Art. 139 WRV zudem als
verfassungsrechtliche Wertung zu begreifen ist, ist dieser Schutzauftrag an den
Gesetzgeber bei der Konkretisierung seiner grundrechtsverankerten Schutzpflichten
heranzuziehen.
f) Die Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität steht einer
Konkretisierung des Schutzgehalts des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG durch Art. 139 WRV
nicht entgegen. Denn die Verfassung selbst unterstellt den Sonntag und die
Feiertage, soweit sie staatlich anerkannt sind, einem besonderen staatlichen
Schutzauftrag und nimmt damit eine Wertung vor, die auch in der christlich-
abendländischen Tradition wurzelt und kalendarisch an diese anknüpft. Wenn dies
d e n christlichen
Religionsgemeinschaften
einen grundrechtsverankerten
Mindestschutz der Sonntage und ihrer staatlich anerkannten Feiertage vermittelt, so
ist dies in der Wertentscheidung des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV
angelegt. Im Übrigen können sich auf diesen Schutz auch andere Grundrechtsträger
im Rahmen ihrer Grundrechtsverbürgungen berufen.
g) Der objektivrechliche Schutzauftrag, der in der Sonn- und Feiertagsgarantie
begründet ist (Art. 139 WRV), ist mithin auf die Stärkung des Schutzes derjenigen
Grundrechte angelegt, die in besonderem Maße auf Tage der Arbeitsruhe und der
seelischen Erhebung angewiesen sind. Dies trifft sich mit der Schutzpflicht, die auch
aus den Grundrechten selbst dem Staat und seinen Organen erwächst. Der
Schutzauftrag des Art. 139 WRV (i.V.m. Art. 140 GG) löst damit nicht nur die
Schutzfunktion der Grundrechtsverbürgung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Bezug auf
den Sonn- und Feiertagsschutz aus; darüber hinaus konkretisiert er auch inhaltlich
die materiellen Vorgaben für die Ausgestaltung des grundrechtlich gebotenen
Mindestschutzniveaus für die Sonn- und Feiertage durch den Gesetzgeber.
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154
3. Der Gesetzgeber verletzt die sich aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ergebende
Schutzpflicht, wenn er die aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV folgenden
Mindestanforderungen an den Sonn- und Feiertagsschutz unterschreitet.
a) Charakter und Umfang der Schutzgarantie des Art. 140 GG in Verbindung mit
Art. 139 WRV haben durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
schon bisher eine Konkretisierung erfahren:
Art. 139 WRV enthält einen Schutzauftrag an den Gesetzgeber (vgl. BVerfGE 87,
363 <393>), der für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen unter anderem ein Regel-
Ausnahme-Verhältnis statuiert (vgl. BVerfGE 87, 363 <393>; 111, 10 <53>).
Grundsätzlich hat die typische „werktägliche Geschäftigkeit“ an Sonn- und Feiertagen
zu ruhen. Der verfassungsrechtlich garantierte Sonn- und Feiertagsschutz ist nur
begrenzt einschränkbar. Ausnahmen von der Sonn- und Feiertagsruhe sind zur
Wahrung höher- oder gleichwertiger Rechtsgüter möglich; in jedem Falle muss der
ausgestaltende Gesetzgeber aber ein hinreichendes Niveau des Sonn- und
Feiertagsschutzes wahren (vgl. BVerfGE 111, 10 <50>).
Im Einzelnen gilt insoweit: Der Schutz der Sonn- und Feiertage wird in Art. 139 WRV
als gesetzlicher Schutz beschrieben. Dies bedeutet, dass die Institution des Sonn-
und Feiertags unmittelbar durch die Verfassung garantiert ist, die Art und das Ausmaß
des Schutzes aber einer gesetzlichen Ausgestaltung bedürfen. Der Gesetzgeber darf
in seinen Regelungen auch andere Belange als den Schutz der Arbeitsruhe und der
seelischen Erhebung zur Geltung bringen. Ihm ist deshalb ein Ausgleich zwischen
Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV einerseits und Art. 12 Abs. 1, aber auch
Art. 2 Abs. 1 GG anderseits aufgegeben (vgl. BVerfGE 111, 10 <50>).
Der Schutz des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV ist nicht auf einen
religiösen oder weltanschaulichen Sinngehalt der Sonn- und Feiertage beschränkt.
Umfasst ist zwar die Möglichkeit der Religionsausübung an Sonn- und Feiertagen.
Die Regelung zielt in der säkularisierten Gesellschafts- und Staatsordnung aber auch
auf die Verfolgung profaner Ziele wie die der persönlichen Ruhe, Besinnung,
Erholung und Zerstreuung. An den Sonn- und Feiertagen soll grundsätzlich die
Geschäftstätigkeit in Form der Erwerbsarbeit, insbesondere der Verrichtung
abhängiger Arbeit, ruhen, damit der Einzelne diese Tage allein oder in Gemeinschaft
mit anderen ungehindert von werktäglichen Verpflichtungen und Beanspruchungen
nutzen kann. Geschützt ist damit der allgemein wahrnehmbare Charakter des Tages,
dass es sich grundsätzlich um einen für alle verbindlichen Tag der Arbeitsruhe
155
156
handelt. Die gemeinsame Gestaltung der Zeit der Arbeitsruhe und seelischen
Erhebung, die in der sozialen Wirklichkeit seit jeher insbesondere auch im
Freundeskreis, einem aktiven Vereinsleben und in der Familie stattfindet, ist insoweit
nur dann planbar und möglich, wenn ein zeitlicher Gleichklang und Rhythmus, also
eine Synchronität, sichergestellt ist. Auch insoweit kommt gerade dem Sonntag im
Sieben-Tage-Rhythmus und auch dem jedenfalls regelhaft landesweiten
Feiertagsgleichklang besondere Bedeutung zu. Diese gründet darin, dass die Bürger
sich an Sonn- und Feiertagen von der beruflichen Tätigkeit erholen und das tun
können, was sie individuell für die Verwirklichung ihrer persönlichen Ziele und als
Ausgleich für den Alltag als wichtig ansehen. Die von Art. 139 WRV ebenfalls
erfasste Möglichkeit seelischer Erhebung soll allen Menschen unbeschadet einer
religiösen Bindung zuteil werden (vgl. BVerfGE 111, 10 <51>).
b) Der Gesetzgeber kann bei dem Ausgleich gegenläufiger Schutzgüter im Rahmen
seines Gestaltungsspielraums auf eine geänderte soziale Wirklichkeit, insbesondere
auf Änderungen im Freizeitverhalten, Rücksicht nehmen. Allerdings führt der Schutz
der Verwirklichung von Freizeitwünschen der Bürger insoweit zu einem Konflikt, als
diese auf die Bereitstellung von Leistungen angewiesen sind, die den Arbeitseinsatz
der Anbieter solcher Leistungen erfordern.
Einfachrechtlich werden schon seit jeher an Sonn- und Feiertagen Arbeiten
gestattet, die aus gesellschaftlichen oder technischen Gründen notwendig sind. Diese
Arbeiten „trotz des Sonn- und Feiertags“ sind in Grenzen durchaus zulässig. So ist
anerkannt, dass etwa zum Schutz von Grundrechten und sonst gewichtigen
Rechtsgütern der Bürger oder der Gemeinschaft in Rettungsdiensten, bei Feuerwehr,
Polizei, in der gesamten medizinischen Versorgung, für die Aufrechterhaltung der
Infrastruktur - neben der Energieversorgung auch die Sicherung der Mobilität
(Autostraßen, Bahnen, Busse, Luftverkehr) - an Sonn- und Feiertagen gearbeitet
werden darf. In diesen Bereich fallen auch die vielfältigen Notdienste der
unterschiedlichen Branchen und die Ausnahmen im industriellen Bereich aus
produktionstechnischen Gründen. Für die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit im
internationalen Vergleich und damit aus beschäftigungspolitischen Erwägungen ist
schließlich im Bereich der Industrie eine Ausnahme vom Sonntagsschutz seit langem
akzeptiert, zumal diese der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend entzogen ist und
ihr damit kein prägender Charakter für den äußeren Ruherahmen der Sonntage
zukommt (vgl. nur die Ausnahmeregelungen in § 10 Abs. 1 Nr. 14 bis 16 und Abs. 2
sowie insbesondere in § 13 Abs. 1, 4 und 5 Arbeitszeitgesetz - ArbZG). Dem
157
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159
entspricht, dass etwa der öffentlich wahrnehmbare Schwerlastverkehr aufgrund
verkehrsrechtlicher Bestimmung als Ausdruck des Sonntagsschutzes grundsätzlich
ruht, es aber auch hier Ausnahmen gibt (vgl. § 30 Abs. 3 Straßenverkehrs-Ordnung).
Neben diesen Feldern der „Arbeit trotz des Sonntags“ ist auch die „Arbeit für den
Sonntag“ anerkannt, die etwa in der Hotel- und Gastronomiebranche und im Bereich
der Sicherstellung der Mobilität des Einzelnen dazu dient, den Bürgern eine
individuelle Gestaltung ihres Tages der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung zu
ermöglichen. Stets aber muss ein hinreichendes Niveau des Sonn- und
Feiertagsschutzes gewahrt bleiben (vgl. BVerfGE 111, 10 <51 f.>). Das gilt auch im
Blick auf die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG; vgl.
BVerfGE 111, 10 <50, 52>).
c) Auf dieser Grundlage ergibt sich, dass gesetzliche Schutzkonzepte für die
Gewährleistung der Sonn- und Feiertagsruhe erkennbar diese Tage als solche der
Arbeitsruhe zur Regel erheben müssen. Hinsichtlich der hier in Rede stehenden
Ladenöffnung bedeutet dies, dass die Ausnahme eines dem Sonntagsschutz gerecht
werdenden Sachgrundes bedarf. Ein bloß wirtschaftliches Umsatzinteresse der
Verkaufsstelleninhaber und ein alltägliches Erwerbsinteresse („Shopping-Interesse“)
potenzieller Käufer genügen grundsätzlich nicht, um Ausnahmen von dem
verfassungsunmittelbar verankerten Schutz der Arbeitsruhe und der Möglichkeit zu
seelischer Erhebung an Sonn- und Feiertagen zu rechtfertigen. Darüber hinaus
müssen Ausnahmen als solche für die Öffentlichkeit erkennbar bleiben und dürfen
nicht auf eine weitgehende Gleichstellung der sonn- und feiertäglichen Verhältnisse
mit den Werktagen und ihrer Betriebsamkeit hinauslaufen.
Dem Regel-Ausnahme-Gebot kommt generell umso mehr Bedeutung zu, je geringer
das Gewicht derjenigen Gründe ist, zu denen der Sonn- und Feiertagsschutz ins
Verhältnis gesetzt wird und je weitergreifend die Freigabe der Verkaufsstellenöffnung
in Bezug auf das betroffene Gebiet sowie die einbezogenen Handelssparten und
Warengruppen ausgestaltet ist. Deshalb müssen bei einer flächendeckenden und
den gesamten Einzelhandel erfassenden Freigabe der Ladenöffnung rechtfertigende
Gründe von besonderem Gewicht vorliegen, wenn mehrere Sonn- und Feiertage in
Folge über jeweils viele Stunden hin freigegeben werden sollen.
4. Die angegriffenen Regelungen des Berliner Ladenöffnungsgesetzes über die
Verkaufsstellenöffnung an Sonn- und Feiertagen und die vom Landesgesetzgeber
g e w ä h l t e Schutzkonzeption
werden
diesen
grundrechtlichen
Schutzpflichtanforderungen aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 140 GG
160
161
162
und Art. 139 WRV nicht in jeder Hinsicht gerecht. Die vom Landesgesetzgeber
gew ähl te Schutzkonzeption ist zwar formell verfassungsgemäß und enthält
gewichtige schützende Elemente. Sie erweist sich indessen - auch eingedenk der
Weite des Gestaltungsspielraums des Landesgesetzgebers - hinsichtlich des
gebotenen Mindestschutzniveaus in einem wesentlichen Teil als nicht hinreichend
wirksam und bleibt insoweit hinter dem vorgegebenen Schutzziel erheblich zurück.
a) Der Berliner Landesgesetzgeber ist Adressat der grundrechtlichen Schutzpflicht;
denn ihm kommt die Gesetzgebungsbefugnis für die hier in Rede stehenden
Regelungen zu.
Mit der ausdrücklichen Herausnahme des Rechts des Ladenschlusses aus dem
Katalog der Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11
GG im Zuge der Föderalismusreform I ist die Gesetzgebungskompetenz auf die
Länder übergegangen (Art. 70 Abs. 1 GG). Kompetenzrechtlichen Zweifeln sind die
angegriffenen Vorschriften nicht deshalb ausgesetzt, weil sich die konkurrierende
Gesetzgebung des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auf das Gebiet des
Arbeitsrechts einschließlich des Arbeitsschutzes erstreckt und der Bund ein
Arbeitszeitgesetz
erlassen
hat,
in
§
7 BerlLadÖffG aber gleichwohl
arbeitsschutzrechtliche Aspekte des Ladenschlusses geregelt sind. Der Berliner
Landesgesetzgeber ist offenbar davon ausgegangen, dass die konkurrierende
Gesetzgebungskompetenz für das Arbeitszeitrecht im Zusammenhang mit dem
Ladenschluss beim Bund verblieben ist, dieser jedoch hiervon insoweit keinen
Gebrauch gemacht hat (vgl. Abgeordnetenhaus Drucks 16/0015, S. 14, zu § 7
BerlLadÖffG).
Die
Frage
der Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich des
arbeitszeitrechtlichen Regelungselements kann hier offen bleiben, weil die
individuell-arbeitnehmerschützende Bestimmung des § 7 BerlLadÖffG nicht
Angriffsgegenstand der Verfassungsbeschwerden ist. Selbst wenn dem
Landesgesetzgeber insoweit die Gesetzgebungskompetenz fehlen würde, blieben
die übrigen hier angegriffenen Bestimmungen des Gesetzes davon unberührt. Denn
dann würde die - insoweit strengere - bundesrechtliche Arbeitszeitschutzregelung
greifen (vgl. § 13 ArbZG) oder von der Fortgeltung der arbeitnehmerschützenden
Bestimmung des § 17 LadSchlG auszugehen sein (vgl. dazu Kühling, ArbuR 2006, S.
384; Kühn, ArbuR 2006, S. 418, siehe auch Kingreen/Pieroth, NVwZ 2006, S. 1221
<1224>; Horstmann, NZA 2006, S. 1246 <1249 f.>).
b) Die Schutzkonzeption und die angegriffenen Regelungen des Berliner
Ladenöffnungsgesetzes werden dem Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 4
163
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165
Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 139 WRV hinsichtlich des zu
gewährleistenden Mindestschutzes nicht uneingeschränkt gerecht. Der Gesetzgeber
hat zwar positive Schutzvorkehrungen getroffen, die bei der gebotenen
Gesamtbetrachtung seines Konzepts mit in den Blick zu nehmen sind. Die
Durchbrechungen dieses Schutzkonzepts verfehlen indessen in einem wesentlichen
Teil das erforderliche Mindestniveau an Schutz.
aa) Nach dem Berliner Landesrecht genießen die Sonntage und die allgemeinen
Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung staatlichen Schutz
(§ 1 Abs. 3 des Gesetzes über die Sonn- und Feiertage Berlin). An diesen Tagen sind
öffentlich bemerkbare Arbeiten verboten, soweit sie nicht nach Bundes- oder
Landesrecht allgemein oder im Einzelfall zugelassen sind (vgl. § 2 Feiertagsschutz-
Verordnung
Berlin
mit
weiteren Ausnahmetatbeständen). Das Berliner
Ladenöffnungsgesetz sieht dementsprechend im Grundsatz vor, dass Verkaufsstellen
an Sonn- und Feiertagen geschlossen sein müssen (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 BerlLadÖffG).
Damit wird der Konflikt zwischen den grundrechtlichen Positionen der Ladeninhaber
(Berufsfreiheit) und Einkaufswilligen (allgemeine Handlungsfreiheit) einerseits und
den Beschäftigten, den Ruhesuchenden sowie den Beschwerdeführern (Art. 2, 4 Abs.
1 und 2, Art. 6 Abs. 1 und 2 GG) andererseits im Ausgangspunkt und in der
systematischen
Anlage
zugunsten eines grundsätzlichen Schutzes der
Beschwerdeführer und anderer arbeitsruhesuchender Grundrechtsträger entschieden.
Im Ansatz entspricht das - für sich betrachtet - dem Schutzauftrag des Art. 139 WRV.
Auch in der Gesetzesbegründung zum Berliner Ladenöffnungsgesetz wird die
Bedeutung des Sonn- und Feiertagsschutzes zur Gewährleistung der Arbeitsruhe und
der seelischen Erhebung allgemein hervorgehoben (vgl. Abgeordnetenhaus Drucks
16/0015, S. 7 f.). Schließlich hat der Landesgesetzgeber auf eine generelle,
einzelfallbezogene Ausnahmeklausel ohne Begrenzung der Zahl der ihr
unterfallenden Sonn- und Feiertage verzichtet, wie sie das Bundesrecht kannte (§ 23
LadSchlG).
bb) Das Schutzkonzept des Landesgesetzgebers wird indessen durch die
Ausnahmeregelungen zur Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen erheblich
eingeschränkt. In einem wesentlichen Teil wird dadurch dem Erfordernis des Regel-
Ausnahme-Verhältnisses nicht hinreichend Rechnung getragen und es bestehen
insoweit keine genügenden Gründe. Im Ergebnis ist das erforderliche
Mindestschutzniveau deshalb nicht gewährleistet.
(1) Bei der Einordnung und Bewertung der Durchbrechungen der Arbeitsruhe an
166
Sonn- und Feiertagen kommt der Ladenöffnung großes Gewicht zu. Das Erreichen
des Ziels des Sonntagsschutzes - des religiös wie des weltlich motivierten - setzt das
Ruhen der typischen werktäglichen Geschäftigkeit voraus. Gerade die Ladenöffnung
prägt aber wegen ihrer öffentlichen Wirkung den Charakter des Tages in besonderer
Weise. Von ihr geht eine für jedermann wahrnehmbare Geschäftigkeits- und
Betriebsamkeitswirkung aus, die typischerweise den Werktagen zugeordnet wird.
Diese Wirkung wird nicht nur durch die in den Verkaufsstellen tätigen Arbeitnehmer
und sonstigen Beschäftigten ausgelöst, sondern auch durch die Kunden. Sie erfasst
überdies den Straßenverkehr und den öffentlichen Personennahverkehr in seiner
Dichte und hat Rückwirkungen auf dessen Beschäftigte wie auch den
verkehrsverursachten Lärm. Auf diese Weise bestimmt die Ladenöffnung maßgeblich
das öffentliche Bild des Tages. Damit werden notwendig auch diejenigen betroffen,
die weder arbeiten müssen noch einkaufen wollen, sondern Ruhe und seelische
Erhebung suchen, namentlich auch die Gläubigen christlicher Religionen und die
Religionsgemeinschaften selbst, nach deren Verständnis der Tag ein solcher der
Ruhe und der Besinnung ist.
(2) Die Zahl der durch die Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen potentiell
Betroffenen auf Beschäftigten- und Kundenseite sowie in so genannten Folgesparten,
zum Beispiel dem innerörtlichen Verkehr, ist vergleichsweise hoch. So liegt die Zahl
allein der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ausweislich der vorliegenden
statistischen Erhebungen deutschlandweit im Einzelhandel um mehr als das
Doppelte, in Berlin um nahezu das Doppelte über der Zahl der Beschäftigten in der
Gastronomiebranche. Der Anteil der weiblichen Beschäftigten ist besonders hoch
(vgl. dazu Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, Statistischer Bericht A VI 15 - vj 4/07,
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, Juni 2008). Hinzu kommen die
Selbständigen, die mithelfenden Familienangehörigen und vor allem die so
genannten geringfügig Beschäftigten. Hinsichtlich der zuletzt genannten Gruppe
deutet eine Studie, die von Gewerkschaftsseite publiziert worden ist, auf einen Trend
hin, demzufolge die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten den Anteil der nicht-
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten deutlich erhöht hat. Nach dieser Studie
beträgt der Anteil der Frauen an der Mitarbeiterschaft der Verkaufsstellen etwa 72 %
(so schon der Hinweis in BVerfGE 111, 10 <40>; vgl. WABE-Institut Berlin, Hrsg.
ver.di - Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, Einzelhandel - Branchendaten
2007/2008, 27. März 2008). Diese Beschäftigtenzahlen sind allerdings
Gesamtzahlen. Potentiell sind zwar alle Beschäftigten von der Durchbrechung des
Sonn- und Feiertagsschutzes betroffen. Real wird an freigegebenen Sonn- und
167
168
169
Feiertagen aber stets nur ein gewisser Anteil der Beschäftigten arbeiten.
Allein schon diese beachtliche Zahl von Betroffenen belegt eine erhebliche
Beeinträchtigung der grundsätzlichen Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen mit breiter
Öffentlichkeitswirkung, zumal wenn - wie hier - generelle, landesweite
Öffnungsmöglichkeiten für alle Verkaufsstellen in Rede stehen.
(3) Durch die maximale Ausweitung der werktäglichen Öffnungszeiten auf
24 Stunden, die, wenn von ihnen Gebrauch gemacht wird, mit entsprechendem
Personaleinsatz verbunden ist, gewinnt die Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen
noch mehr an Bedeutung und Gewicht. Mit der vollständigen Freigabe der
Ladenöffnungszeiten an Werktagen einschließlich des Samstags („shop-around-the-
clock“) kommt es notwendigerweise vermehrt zum Einsatz der Beschäftigten im
Schicht- und Nachtbetrieb. Deshalb ist für sie trotz der arbeitszeitrechtlichen
Vorschriften für den individuellen Arbeitsschutz gerade der Sonntag als einzig
verbleibender Tag der Arbeitsruhe im rhythmischen Gleichklang ein solcher der
Rekreation und der Möglichkeit des familiären und sozialen Zusammenseins von
herausragender Bedeutung. Das gilt zumal angesichts der Beschäftigtenstruktur im
Einzelhandel, in dem Frauen, die sich im Rahmen einer familiären Einbindung zu
einem großen Teil nach wie vor einer Doppelbelastung in ihren Familien ausgesetzt
sehen, besonders stark vertreten sind (in diesem Sinne auch schon BVerfGE 111, 10
<40>).
Die Professoren Knauth und Nachreiner haben in der mündlichen Verhandlung
hervorgehoben, dass die Ausweitung von Nacht- und Schichtarbeit bei gleichzeitiger
Einbeziehung des Tages der allgemeinen Arbeitsruhe vermehrt zu psychosozialen
Beeinträchtigungen führt. Eine Verringerung oder gar Aufgabe sozialer Beziehungen,
eine reduzierte Anteilnahme am sozialen Leben und eine Veränderung der
Einstellung zu sozialer, aber auch zu politischer Teilhabe, sind nicht nur bei
lebensnaher Betrachtung naheliegend; sie sind auch in der Arbeitswissenschaft
anerkannt. Die Desynchronisationseffekte führen zwangsläufig zu einer Verringerung
der sozialen Interaktionsdichte und -qualität, die sich auch auf den Familienverband
und zu betreuende Kinder auswirkt. Aus religiös-christlicher Sicht, die sich im
Ergebnis von den in der weltlich-sozialen Perspektive hervorgehobenen
Auswirkungen nicht wesentlich unterscheidet, wird insoweit den Sonn- und
Feiertagen der Charakter als Tag der Gemeinschaft, aber auch der Besinnung durch
ausgreifende Ladenöffnungsmöglichkeiten, die auch Folgesparten miterfassen,
weitgehend genommen.
170
171
(4) Schließlich fällt ins Gewicht, dass der Landesgesetzgeber gerade der
Berufsausübungsfreiheit der Verkaufstelleninhaber wie auch der allgemeinen
Handlungsfreiheit potenzieller Kunden in weitem Umfang Rechnung getragen hat. Er
hat die werktäglichen Öffnungszeiten vollständig freigegeben (24-Stunden-Öffnung)
und
warengruppenspezifische
sowie
orts-
und
anlassbezogene
Ausnahmeregelungen getroffen, die an Sonn- und Feiertagen dem Erwerbs- und
Einkaufsinteresse sowie dem Versorgungs- und Bedarfsdeckungsinteresse in hohem
Maße entsprechen (vgl. § 4 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3, Nr. 5, § 4 Abs. 2 und 3, § 5 Nr. 2, Nr. 3
BerlLadÖffG). Dem Bedarfsdeckungs- und Versorgungsargument kommt deswegen
an Sonn- und Feiertagen nur noch geringe Bedeutung zu. Auch im Hinblick auf die
beschäftigungspolitischen Effekte hat sich bislang kein Hinweis auf die Gefahr eines
beachtlichen Einbruchs im Einzelhandel ergeben. Die vorliegenden Erkenntnisse,
etwa in der Studie des WABE-Instituts (herausgegeben von ver.di - Vereinte
Dienstleistungsgewerkschaft, Einzelhandel - Branchendaten 2007/2008, Berlin, 27.
März 2008), deuten auch unter Berücksichtigung der vom Handelsverband Berlin-
B randenburg vorgelegten Übersichten darauf hin, dass es mit der
Sonntagsladenöffnung lediglich zu einer anderen Verteilung der Kundenströme und
einer Optimierung und Streckung des Einsatzes der Arbeitnehmer kommt. Erkennbar
verbleibt danach ein unternehmerisches Erwerbsinteresse, das sich mit dem
alltäglichen Shopping-Interesse von Besuchern und Einwohnern im Land Berlin
paart. Diese sind aber keine geeigneten Gründe, die es rechtfertigen könnten, das
Niveau des Sonn- und Feiertagsschutzes in erheblichem Umfang abzusenken.
(5) Die Beeinträchtigung der Sonn- und Feiertagsruhe wird nicht durch den von der
Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe des Einzelhandels
erhobenen Einwand relativiert, mit der Neuregelung der Ladenöffnungszeiten sei die
für gleichheitswidrig zu erachtende Bevorzugung von Einzelhändlern an privilegierten
Standorten (Tankstellen, Raststätten, Flughäfen, Bahnhöfen; vgl. § 5 BerlLadÖffG)
und die Bevorzugung des Online-Handels („E-Commerce“) deutlich abgemildert
worden. Diese Argumentation, die letztlich auf die Forderung des Ausgleichs von
Wettbewerbsnachteilen hinausläuft, die durch unterschiedliche tatsächliche und
rechtliche
Rahmenbedingungen
entstehen,
kann nicht
durchdringen.
Verfassungsrechtlich ist anerkannt, dass es grundsätzlich keinen Anspruch auf
Teilhabe an Vergünstigungen gibt. Niemand kann allein daraus, dass einer Gruppe
aus besonderem Anlass Vergünstigungen zugestanden werden, für sich ein
verfassungsrechtliches Gebot herleiten, dieselben Vorteile in Anspruch nehmen zu
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dürfen (vgl. BVerfGE 49, 192 <208>; 67, 231 <238>), sofern für ihn kein
vergleichbarer besonderer Anlass besteht. Wegen des Ausnahmecharakters der
Regelungen für die Verkaufsstellenöffnung an bestimmten Orten, die letztlich dem
Bereich der „Arbeit für den Sonntag“ zuzuordnen sind, kann deren Ausweitung auf bis
dahin nicht erfasste Sachverhalte nicht durch Berufung auf den allgemeinen
Gleichheitssatz erzwungen werden (vgl. BVerfGE 67, 231 <238>). Hinsichtlich des
Online-Handels („E-Commerce“) scheidet die Annahme einer sachwidrigen
Ungleichbehandlung schon deshalb aus, weil sich dessen Rahmenbedingungen
grundlegend anders darstellen.
(6) Soweit in der Gesetzesbegründung (vgl. Abgeordnetenhaus Drucks 16/0015, S.
7) hervorgehoben wird, dem Schutz des Verkaufspersonals werde durch das
Arbeitszeitrecht Rechnung getragen, ändert dies ebenfalls nichts an der
beeinträchtigenden Wirkung der Verkaufsstellenöffnung an Sonn- und Feiertagen.
Von diesen arbeitnehmerschützenden Bestimmungen geht nur eine individuelle
Schutzwirkung aus (vgl. § 7 BerlLadÖffG). Auf die öffentlich wahrnehmbare, den Tag
maßgeblich prägende Geschäftigkeitswirkung der Ladenöffnung sind sie ohne
Einfluss.
c) Auf dieser Grundlage führt die Bestimmung über die voraussetzungslose
siebenstündige Öffnung an allen vier Adventssonntagen wegen der vollständigen
Herausnahme eines zusammenhängenden Monatszeitraums aus dem Schutz der
Sonntage ohne hinreichend gewichtige Gründe zu einem Unterschreiten des Maßes
an gebotenem Mindestschutz. Die flächendeckende Möglichkeit der Öffnung aufgrund
einer Allgemeinverfügung an vier weiteren Sonn- oder Feiertagen bei öffentlichem
Interesse ohne zeitliche Begrenzung ist bei einschränkender Interpretation mit der
Verfassung vereinbar. Die weiteren mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen
Bestimmungen beeinträchtigen den verfassungsrechtlich gebotenen Mindestschutz
nicht in erheblichem Maße; sie sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
aa) Die Adventssonntagsregelung (§ 3 Abs. 1 Alternative 2 BerlLadÖffG) als
generelle
und materiell voraussetzungslose Freigabe der Öffnung von
Verkaufsstellen an allen Adventssonntagen von 13.00 bis 20.00 Uhr im Land Berlin
steht angesichts der Bedeutung der Verkaufsstellenöffnung für die Gewährleistung
der Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen mit dem Grundrecht der Beschwerdeführer
aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 139 WRV nicht
mehr in Einklang.
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(1) Die Besonderheit dieser Regelung besteht darin, dass schon kraft Gesetzes
ohne irgendeine weitere Voraussetzung vier Sonntage in Folge für die Dauer von
jeweils sieben Stunden zur Ladenöffnung freigegeben werden. Diese Vorschrift hält
der Anforderung, dass die Sonntagsruhe die Regel ist, nicht stand, weil sie einen in
sich geschlossenen Zeitblock von etwa einem Zwölftel des Jahres vollständig vom
Grundsatz der Arbeitsruhe ausnimmt. Daran ändert der allgemein gehaltene Hinweis
in der Gesetzesbegründung auf die Metropolfunktion Berlins nichts. Auch darin
spiegeln sich lediglich bloße Umsatz- und Erwerbsinteressen wider. Der Sache nach
läuft die Regelung mithin darauf hinaus, den Sonn- und Feiertagsschutz für die Dauer
eines Monates für die Verkaufsstellen, die den äußeren Charakter des Tages auch
angesichts der Zahl der unmittelbar wie mittelbar Betroffenen und der
Öffentlichkeitswirkung maßgeblich prägen, aufzuheben, ohne dass für eine derart
intensive Beeinträchtigung eine hinreichend gewichtige Begründung gegeben würde
oder sonst erkennbar wäre, die dem verfassungsrechtlichen Rang des
Sonntagsschutzes gerecht werden könnte.
Wenn der Berliner Landesgesetzgeber mit Blick auf die Besonderheiten der
Vorweihnachtszeit für eine Ladenöffnung an den Adventssonntagen Sachgründe
anführen könnte, so könnte dies die Ladenöffnung nur an einzelnen Sonntagen
rechtfertigen.
(2) Entgegen der in der Stellungnahme des Abgeordnetenhauses und des Senats
von Berlin vertretenen Auffassung kann der vorstehenden Bewertung der
gesetzlichen Freigabe der Adventssonntage nicht mit Erfolg entgegengehalten
werden, dass schon während der Zeit der Weimarer Republik und in der
Bundesrepublik bis zum Jahr 1956 gerade die Adventssonntage besonders wichtige
Verkaufstage des Handels gewesen seien. Diese Stellungnahme stützt sich darauf,
dass nach der Änderung des § 105b Abs. 2 Gewerbeordnung durch Art. 1 der
Verordnung über die Sonntagsruhe im Handelsgewerbe und in Apotheken vom
5. Februar 1919 (RGBl S. 176) die Öffnung der Verkaufsstellen durch die zuständigen
Behörden noch zugelassen gewesen sei und dies auch in der Weimarer Republik
gegolten habe. Danach habe die Polizeibehörde für sechs Sonn- und Festtage, die
höhere Verwaltungsbehörde für weitere vier Sonn- und Festtage im Jahre, an denen
„besondere Verhältnisse einen erweiterten Geschäftsverkehr erforderlich machen, für
alle oder für einzelne Geschäftszweige“ eine Beschäftigung bis zu acht Stunden
zulassen dürfen. Am 2., 3. und 4. Adventssonntag seien damals auf der Grundlage
dieser Regelung besonders hohe Umsätze erzielt worden. An die seinerzeitige
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Rechtslage knüpfe Art. 139 WRV an, indem er mit der Formulierung „bleiben ...
geschützt“ den Vergangenheitsbezug zum Ausdruck bringe.
Dieser Einwand verkennt, dass die vergangenheitsbezogene Wendung in Art. 139
WRV die Sonn- und Feiertage lediglich in allgemeiner Hinsicht dem fortdauernden
Schutz des Gesetzgebers anheimgibt, über dessen konkrete Ausgestaltung indessen
zunächst nichts aussagt. Bei der vergleichenden Beurteilung ist in Betracht zu ziehen,
dass Ausnahmen von der Sonntagsruhe im Handel nach der genannten früheren
Regelung an die Erfüllung einer begrenzenden Tatbestandsvoraussetzung gebunden
waren und eine verwaltungsbehördliche Entscheidung darüber voraussetzten. Sie
besagte nicht, dass eine Ladenöffnung an allen Adventssonntagen von vornherein
und überall zulässig sein sollte. Hinzu kommt, dass damals die Ladenöffnungszeiten
an den Werktagen abends kürzer waren und auch die Samstags-Öffnungszeiten nicht
bis in den späten Abend reichten. Die geringere Mobilität der Bevölkerung erschwerte
zudem in ländlichen Gebieten Einkäufe während der Werktage. Auch wegen der
damals deutlich ausgedehnteren werktäglichen Arbeitszeiten in anderen Branchen
hatte
die
Möglichkeit
zum Tätigen von Weihnachtseinkäufen an den
Adventssonntagen unter dem Versorgungs- und Bedarfsaspekt größere Bedeutung.
Dieser Gesichtspunkt hat aufgrund der veränderten Verhältnisse, vor allem mit der
Ausdehnung der werktäglichen Öffnungszeiten auf 24 Stunden, sein Gewicht
eingebüßt.
bb) Die Regelung, wonach die Senatsverwaltung im öffentlichen Interesse
ausnahmsweise die Öffnung von Verkaufsstellen an höchstens vier (weiteren) Sonn-
o d e r Feiertagen durch Allgemeinverfügung zulassen kann (§ 6 Abs. 1 Satz 1
BerlLadÖffG), ist mit dem Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 4 Abs. 1 und 2
GG in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 139 WRV jedenfalls bei einschränkender
Auslegung vereinbar.
(1) Hinsichtlich der Zahl von vier Tagen lässt sich gegen die Regelung im Blick auf
die Gesamtzahl von regelhaft 52 Sonntagen im Jahr und von insgesamt neun je nicht
zwingend auf einen Sonntag fallenden weiteren Feiertagen nichts erinnern, zumal
bestimmte Feiertage von dieser Öffnungsmöglichkeit ausgenommen sind (§ 6 Abs. 1
Satz 2 BerlLadÖffG). Da die Freigabe durch Allgemeinverfügung erfolgt, bedarf es
einer Verwaltungsentscheidung, die die Möglichkeit eröffnet, die jeweils betroffenen
Interessen und Rechtsgüter konkret in eine Abwägung einzubeziehen.
(2) Bedenken begegnet indessen die weite, allgemein gehaltene Voraussetzung für
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die Ausnahmeregelung: Erforderlich ist lediglich, dass die ausnahmsweise Öffnung
„im öffentlichen Interesse“ liegt. Dabei handelt es sich um einen
ausfüllungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriff, der es bei einem allein am
Wortlaut orientierten Verständnis ermöglicht, jedes noch so geringe öffentliche
Interesse genügen zu lassen. Hier ist eine der Wertung des Art. 139 WRV genügende
Auslegung geboten. Danach ist ein öffentliches Interesse solchen Gewichts zu
verlangen, das die Ausnahmen von der Arbeitsruhe rechtfertigt. Dazu genügen das
alleinige Umsatz- und Erwerbsinteresse auf Seiten der Verkaufsstelleninhaber und
das alltägliche „Shopping-Interesse“ auf der Kundenseite nicht.
Der Begriff des „öffentlichen Interesses“ soll der Gesetzesbegründung zufolge für
„besondere Ereignisse im Interesse der Berliner und Touristen“ zusätzliche
Öffnungszeiten zulassen. Dabei soll es um „große Veranstaltungen“ gehen, die
wegen ihrer Bedeutung für die ganze Stadt eine Geschäftsöffnung erforderlich
machen. Damit sind Veranstaltungen und Ereignisse gemeint, die auch „über die
Stadt hinaus Bedeutung haben und zahlreiche Touristen nach Berlin holen“
(Abgeordnetenhaus Drucks 16/0015, S. 13). Auf diese Weise wird dem Umstand
Rechnung getragen, dass sich in einem Land von der Struktur Berlins die Versorgung
von Touristen und Besuchern von großen Messen und anderen Großveranstaltungen
schwer auf bestimmte Bezirke begrenzen lässt. Für die von der Begründung in Bezug
genommene
Zielsetzung
und
Kategorie
von
Ereignissen
werden nur
Veranstaltungen, die einzeln oder in ihrem Zusammenwirken Bedeutung für Berlin als
Ganzes haben, die Ausnahme tragen können.
(3) Bei verfassungskonformer Auslegung ist nicht zu beanstanden, dass die
Ausnahme von der Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen in § 6 Abs. 1
BerlLadÖffG an den betroffenen Tagen keine ausdrückliche uhrzeitliche Eingrenzung
enthält. Während die anderen Ausnahmeregelungen zur Ladenöffnung an den
Adventssonntagen sowie aus Anlass besonderer Ereignisse eine Begrenzung auf
den Zeitraum von 13.00 bis 20.00 Uhr vorsehen (§ 3 Abs. 1 Alternative 2, § 6 Abs. 2
BerlLadÖffG), fehlt hier eine solche. Der Wortlaut lässt also den Schluss zu, dass an
den in Rede stehenden vier weiteren Sonn- oder Feiertagen - wie nach der Berliner
Regelung für Werktage - eine 24-Stunden-Öffnung statthaft sei. Gerade weil bei den
anderen Ausnahmeregelungen - von denen für besondere Verkaufsstellen und
bestimmte Waren abgesehen - ausdrücklich uhrzeitliche Begrenzungen genannt sind,
hi er indessen nicht, liegt diese Auslegung nicht fern. Von ihr gehen auch das
Abgeordnetenhaus und der Senat von Berlin in ihrer Stellungnahme aus. Ein solches
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Verständnis liefe allerdings darauf hinaus, dass die werktägliche Geschäftigkeit an
diesen Tagen wegen der prägenden öffentlichen Betriebsamkeitswirkung der
Verkaufsstellenöffnung in vollem Umfang auf die Sonn- und Feiertage übertragen
würde. Diese Tage würden sich insoweit - jedenfalls nach der maßgeblichen
Rechtslage
-
nicht
mehr deutlich vom Werktag unterscheiden. Der
Ausnahmecharakter der Regelung käme in der praktischen Anwendung und in der
öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr hinreichend zum Ausdruck.
Auch insoweit ist allerdings die Möglichkeit einer einengenden, grundrechts- und
sonntagsschutzgeleiteten Auslegung der Ausnahmebestimmung eröffnet. Diese
orientiert sich an dem System der übrigen Ausnahmen, das der Landesgesetzgeber
in § 3 Abs. 1 Alternative 2, § 6 Abs. 2 BerlLadÖffG errichtet hat und das uhrzeitliche
Begrenzungen vorsieht. Will der Landesgesetzgeber dennoch eine flächendeckende,
allgemeine 24-Stunden-Öffnung an Sonn- und Feiertagen ermöglichen, könnte er
dem verfassungsrechtlich zu gewährleistenden Schutz nur dadurch Rechnung tragen,
dass er dafür eine besonders hohe Voraussetzung vorsähe, etwa ein herausragend
gewichtiges öffentliches Interesse. Da dies nicht geschehen ist, ist es für die
vorliegende Fassung die schonendere Möglichkeit, anstatt der Verwerfung auch
dieses Ausnahmetatbestandes eine dem Ausnahmeregime in wesentlichen Teilen
eigene uhrzeitliche Begrenzung von 13.00 bis 20.00 Uhr zu verlangen, die Vorschrift
in dieser Interpretation jedoch unbeanstandet zu lassen. Anhaltspunkte dafür, dass
dieser einschränkenden Auslegung ein gegenläufiger Wille des Landesgesetzgebers
entgegenstünde, bestehen nicht. Ein solches einengendes Verständnis des
Ausnahmetatbestandes entspricht im Übrigen der bisherigen Anwendungspraxis im
Land Berlin, die auch in der mündlichen Verhandlung unwidersprochen bestätigt
worden ist.
5. Die weiteren angegriffenen Bestimmungen, die das Schutzkonzept des
Landesgesetzgebers
mit
Ausnahmen versehen,
begegnen
keinen
verfassungsrechtlichen Bedenken. Das gilt auch für das Zusammenwirken der nach
Maßgabe dieser Gründe nicht zu beanstandenden Regelungen.
a) Die Regelung, dass Verkaufsstellen aus Anlass besonderer Ereignisse,
insbesondere von Firmenjubiläen und Straßenfesten, an jährlich höchstens zwei
weiteren Sonn- oder Feiertagen von 13.00 bis 20.00 Uhr öffnen dürfen (§ 6 Abs. 2
Satz 1 BerlLadÖffG), ist verfassungsrechtlich weder für sich gesehen noch im
schutzkonzeptionellen Kontext zu beanstanden.
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Die Verkaufsstelle hat dem zuständigen Bezirksamt die Öffnung sechs Tage vorher
anzuzeigen (§ 6 Abs. 2 Satz 2 BerlLadÖffG). Der Schutz besonderer Feiertage nach
§ 6 Abs. 1 Satz 2 BerlLadÖffG gilt hier entsprechend (vgl. § 6 Abs. 2 Satz 3
BerlLadÖffG). Diese Ladenöffnungsmöglichkeit ist wegen ihrer engen örtlichen
Begrenzung ohnehin von geringer prägender Wirkung für den öffentlichen Charakter
des Tages. Es kann hingenommen werden, dass die im Gesetz geforderten
Voraussetzungen lediglich von eingeschränktem Gewicht sind, weil sie jeweils auf
konkrete Verkaufsstellen und ein Jubiläum oder auf Feste im Straßenzugsbereich
abheben. Auch besteht wegen des sechstägigen Vorlaufs der Anzeige eine
ausreichende Möglichkeit zur Kontrolle und gegebenenfalls zum Einschreiten der
Verwaltung. Dass damit gerade in einem überwiegend städtisch strukturierten Land
ein so genannter Flickenteppich entstehen kann, auf dem aufs Jahr gesehen
irgendwelche Verkaufsstellen mit uneingeschränktem Warenangebot immer geöffnet
haben, erscheint bei dieser Lösung unvermeidlich, aber hinnehmbar. Daher lässt sich
nicht sagen, diese Ausnahme unterschreite ein als hinreichend zu erachtendes
Mindestschutzniveau.
b) Die Beschwerdeführer beanstanden überdies einige weitere Einzelheiten des
Gesetzes, denen jedoch unter dem Gesichtspunkt der Wirksamkeit des
gesetzgeberischen Schutzkonzepts kaum oder allenfalls äußerst geringe Bedeutung
beizumessen ist und gegen die von Verfassungs wegen nichts zu erinnern ist.
aa) Unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Religionsfreiheit ist nichts dagegen
einzuwenden,
dass Verkaufsstellen mit überwiegendem Lebens- und
Genussmittelangebot am 24. Dezember von 7.00 bis 14.00 Uhr öffnen dürfen, wenn
dieser Tag auf einen Adventssonntag fällt (§ 4 Abs. 1 Nr. 4 BerlLadÖffG), und dass in
mobilen Verkaufsstellen leicht verderbliches Obst und Gemüse vom Erzeuger auch
an Sonn- und Feiertagen, an Adventssonntagen von 7.00 bis 20.00 Uhr und am
24. Dezember, wenn dieser Tag auf einen Adventssonntag fällt, von 7.00 bis
14.00 Uhr angeboten werden darf (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 BerlLadÖffG). Diese
Ausnahmeregelungen lassen aus sich heraus ohne weiteres Gründe erkennen, die
im Blick auf die Mindestschutzgewährleistung tragfähig sind. Sie sind im Kontext der
Ladenöffnungsregelungen von lediglich randständiger Bedeutung. Der Gesetzgeber
hält sich damit im Rahmen des ihm zukommenden weiten Gestaltungsspielraumes.
Zwar ist es zutreffend, wie die Beschwerdeführer geltend machen, dass es unter den
bevorratungspraktischen Bedingungen der heutigen Zeit ohne Schwierigkeiten
möglich ist, die benötigten Lebens- und Genussmittel für die Weihnachtsfeiertage
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auch am 23. Dezember zu erwerben, wenn der 24. Dezember auf einen Sonntag fällt.
Ebenso lässt sich vertreten, dass heimisches leicht verderbliches Obst und Gemüse
vom Erzeuger angesichts der heutigen Möglichkeiten zur Kühlung und Lagerung
nicht privilegierungsbedürftig sei. Die Argumentation der Beschwerdeführer geht aber
daran vorbei, dass dem Gesetzgeber im Rahmen der Ausgestaltung seines
Schutzkonzepts ein weiter Spielraum zukommt, namentlich bei der Statuierung von
spezifischen Ausnahmen. Gemessen daran lässt sich nicht feststellen, dass die in
Rede
stehenden Regelungen, die bestimmte Warengruppen betreffen, das
Schutzniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes gravierend beeinträchtigen würden.
bb) Soweit der Beschwerdeführer zu 2) die Fassung des § 4 Abs. 1 Nr. 4
BerlLadÖffG für missverständlich hält, ist klarzustellen, dass diese Vorschrift eine
Öffnung von Verkaufsstellen, die Lebens- und Genussmittel verkaufen, unzweifelhaft
nicht an jedem Sonn- und Feiertag erlaubt. Die dahingehenden Bedenken sind in
Ansehung des Wortlauts und des Zusammenhangs der in Absatz 1 enthaltenen
Regelungen nicht nachvollziehbar. Die Bestimmung beinhaltet eine Ausnahme, die
erkennbar nur dann greift, wenn der 24. Dezember (Heiligabend) auf einen
Adventssonntag fällt.
cc) Schließlich ist nicht ersichtlich, dass der im Gesetz vorgesehene Schutz nicht
wirksam durchgesetzt werden könnte. Verstöße gegen die Ladenschlusszeiten und
die Ausnahmebestimmungen stellen Ordnungswidrigkeiten dar und können in den
hier erheblichen Fallgestaltungen nach Maßgabe von § 9 Abs. 2
BerlLadÖffG mit einer Geldbuße bis zu 2.500 Euro geahndet werden. Dies allein mag
insbesondere für große Handelsketten und Kaufhäuser wirtschaftlich keine
abschreckende Wirkung entfalten. Es ist jedoch in Rechnung zu stellen, dass
Verstöße gegen die Ladenöffnungsvorschriften ordnungsrechtlich unterbunden
werden und unter Umständen auch weitere Konsequenzen haben können. Mithin
lässt sich nicht feststellen, dass das Schutzkonzept insoweit völlig unzulänglich oder
ungeeignet wäre, zumal auch die Höhe des angedrohten Bußgeldes nach der
Ladenschlussgesetzgebung des Bundes nicht höher lag (§ 24 Abs. 2 LadSchlG a.F.).
c) Die gesetzlich angelegten Ladenöffnungsmöglichkeiten an Sonn- und Feiertagen
fü h re n auch in ihrem Zusammenwirken eingedenk der verfassungswidrigen
Öffnungsmöglichkeit an allen vier Adventssonntagen nicht zu einem Verstoß gegen
die staatliche Schutzpflicht für die Religionsfreiheit der Beschwerdeführer, der das
gesamte Schutzkonzept mit all seinen angegriffenen Ausnahmetatbeständen für den
Sonn- und Feiertagsschutz ergreifen würde und als verfassungswidrig erscheinen
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ließe.
Im Übrigen hat der Berliner Landesgesetzgeber erkennbar gesehen, dass er bei
dem von ihm verfolgten Konzept einer flächendeckenden Freigabe der Ladenöffnung
an
Sonn-
und Feiertagen unter geringen Voraussetzungen und ohne
warengruppenspezifische Beschränkungen nur eine niedrige jährliche Höchstzahl
derart freigabefähiger Sonn- und Feiertage ansetzen durfte, um dem Regel-
Ausnahme-Gebot
und der verfassungsrechtlich geforderten Sicherung eines
Mindestniveaus des Sonn- und Feiertagsschutzes zu genügen. Diese Höchstzahl hat
er auf der Grundlage der von ihm gewählten Schutzkonzeption, also insbesondere
ohne allgemeine einzelfallbezogene Ausnahmebestimmung - etwa § 23 Abs. 1
LadSchlG entsprechend -, in nicht zu beanstandender Weise mit acht Sonn- oder
Feiertagen angesetzt (siehe § 3 Abs. 1 Alternative 2, § 6 Abs. 1 BerlLadÖffG).
III.
Die Regelung zur Öffnung der Verkaufsstellen an allen vier Adventssonntagen (§ 3
Abs. 1 Alternative 2 BerlLadÖffG) ist damit für verfassungswidrig zu erklären (§ 95
Abs.
3
BVerfGG).
Sie
bleibt
indes
unter Berücksichtigung
der
Berufsausübungsfreiheit der Verkaufsstelleninhaber, ihres in die Regelung gesetzten
Vertrauens und der von ihnen für die Vorweihnachtszeit des Jahres 2009 getroffenen
Dispositionen in diesem Jahr noch anwendbar. Ob und wie der Berliner
Landesgesetzgeber
seine Schutzkonzeption
anpasst,
obliegt
seiner
Gestaltungsmacht nach Maßgabe der Grundsätze dieser Entscheidung.
Den Beschwerdeführern sind ihre notwendigen Auslagen je zur Hälfte zu erstatten;
dies ist angemessen, weil ihre Verfassungsbeschwerden einen wesentlichen
Teilerfolg haben, der sich auch bei der Konkretisierung des Prüfungsmaßstabes
niederschlägt (§ 34a Abs. 2 BVerfGG).
Die Entscheidung ist zu B. I. 1. (Beschwerdebefugnis) und zu B. II. 2.
(Konkretisierung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG durch Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV)
mit
5 : 3 Stimmen, hinsichtlich der Anforderungen des Art. 140 GG in Verbindung mit
Art. 139 WRV einstimmig ergangen.
Papier
Hohmann-
Dennhardt
Bryde
Gaier
Eichberger
Schluckebier
Kirchhof
Masing