Urteil des BVerfG vom 22.02.2015

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die rückwirkende Festsetzung von Kanalanschlussbeiträgen

- Bevollmächtigte: Lambsdorff Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB,
Oranienburger Straße 3, 10178 Berlin -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2205/15 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der B… GmbH & Co. KG,
vertreten durch den persönlich haftenden Gesellschafter H.,
gegen a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts
Berlin-Brandenburg vom 7. August 2015
- OVG 9 N 135.13, OVG 9 N 136.13, OVG 9 N 137.13 -,
b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus
vom 28. Februar 2013 - VG 6 K 972/12 -,
c) das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus
vom 28. Februar 2013 - VG 6 K 971/12 -,
d) das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus
vom 28. Februar 2013 - VG 6 K 793/12 -,
e) den Widerspruchsbescheid des Oberbürgermeisters
der Stadt Cottbus vom 16. Juli 2012 - II-70/Faß -,
f) den Widerspruchsbescheid des Oberbürgermeisters
der Stadt Cottbus vom 16. Juli 2012 - II-70/Faß -,
g) den Widerspruchsbescheid des Oberbürgermeisters
der Stadt Cottbus vom 16. Juli 2012 - II-70/Faß -,
h) den Beitragsbescheid des Oberbürgermeisters der Stadt Cottbus
vom 21. November 2011 - 644105916 -,
i) den Beitragsbescheid des Oberbürgermeisters der Stadt Cottbus
vom 21. November 2011 - 644105919 -,
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j) den Beitragsbescheid des Oberbürgermeisters der Stadt Cottbus
vom 21. November 2011 - 644105923 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Gaier,
Schluckebier,
Paulus
am 22. Dezember 2015 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 7. August
2015 - OVG 9 N 135.13, OVG 9 N 136.13, OVG 9 N 137.13 -, die Urteile des
Verwaltungsgerichts Cottbus vom 28. Februar 2013 - VG 6 K 972/12 -, - VG 6 K
971/12 -, - VG 6 K 793/12 -, die Widerspruchsbescheide des Oberbürgermeisters der
Stadt Cottbus vom 16. Juli 2012 - II-70/Faß - und die Beitragsbescheide des
Oberbürgermeisters der Stadt Cottbus vom 21. November 2011 - 644105916 -,
- 644105919 -, - 644105923 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht
aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem
verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20 Absatz 3 des
Grundgesetzes). Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts wird aufgehoben und
die Sache an dieses zurückverwiesen.
2. Das Land Brandenburg hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu
erstatten.
G r ü n d e :
Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen ihre
Heranziehung
zu
Kanalanschlussbeiträgen
auf
der
Grundlage
des
Kommunalabgabengesetzes für das Land Brandenburg (KAG Bbg).
I.
1. Die Beschwerdeführerin war Eigentümerin mehrerer Grundstücke, die bereits vor dem
3. Oktober 1990 an die Schmutzwasserkanalisation im Gebiet der beklagten Stadt (im
Folgenden: Beklagte) angeschlossen wurden. Im Jahr 2011 zog die Beklagte die
Beschwerdeführerin für die Grundstücke zu Kanalanschlussbeiträgen heran. Mit ihrer
Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus
Art. 3 Abs. 1 sowie Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
2. Die Beklagte und das Ministerium der Justiz und für Europa und Verbraucherschutz des
Landes Brandenburg hatten Gelegeneit, zu der Verfassungsbeschwerde Stellung zu
nehmen. Die Akten der Ausgangsverfahren wurden beigezogen.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die
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Annahme ist zur Durchsetzung von in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechten der
Beschwerdeführerin angezeigt (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der
Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden.
Die im Wesentlichen zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (vgl. §
93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht
aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des
Vertrauensschutzes aus Art. 20 Abs. 3 GG. Die Anwendung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg
in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Entlastung der Kommunen von pflichtigen
Aufgaben vom 17. Dezember 2003 (GVBl I S. 294) in Fällen, in denen Beiträge nach der
ursprünglichen Fassung dieser Vorschrift vom 27. Juni 1991 (GVBl I S. 200) nicht mehr
erhoben werden könnten, verstößt gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot (vgl. im
Einzelnen BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. November 2015 -
1 BvR 2961/14, 1 BvR 3051/14 -, www.bverfg.de).
III.
Die angegriffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts ist aufzuheben und die Sache
an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG).
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Gaier
Schluckebier
Paulus