Urteil des BVerfG vom 26.06.2014

BVerfG: versammlungsfreiheit, unbeteiligter dritter, verfassungsbeschwerde, auflage, grundrecht, verbraucherschutz, lautsprecheranlage, beschränkung, eingriff, gefahr

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2135/09 -
Bundesadler
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau S…
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Wächtler und Kollegen,
Rottmannstraße 11 a, 80333 München -
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 5. August
2009 - 2 Ss OWi 811/2009 -,
b)
das Urteil des Amtsgerichts München vom 9. April 2009 - 1125 OWi
111 Js 10211/09 -
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof,
den Richter Masing
und die Richterin Baer
am 26. Juni 2014 einstimmig beschlossen:
Das Urteil des Amtsgerichts München vom 9. April 2009 - 1125 OWi 111 Js 10211/09 - verletzt
die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 8 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an das Amtsgericht München zurückverwiesen. Damit wird der Beschluss des
Oberlandesgerichts Bamberg vom 5. August 2009 - 2 Ss OWi 811/2009 - gegenstandslos.
Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird
auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Gründe:
I.
1
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Verurteilung
zu einer Geldbuße wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz.
2
1. Die Beschwerdeführerin nahm am 1. Mai 2008 an einer Versammlung des Deutschen
Gewerkschaftsbundes in München mit dem Thema „01. Mai. Tag der Arbeit“ teil. Angemeldet
waren eine stationäre Auftaktkundgebung, ein Versammlungszug und eine stationäre
Abschlusskundgebung. Für die Versammlung hatte das Kreisverwaltungsreferat München als
zuständige Versammlungsbehörde mit Bescheid vom 28. April 2008 unter dem Unterpunkt
„Kundgebungsmittel / Versammlungshilfsmittel“ unter anderem die Auflage erlassen, dass
Lautsprecher und Megaphone nur für Ansprachen und Darbietungen, die im Zusammenhang mit
dem Versammlungsthema stehen, sowie für Ordnungsdurchsagen verwendet werden dürfen.
Während des Versammlungszuges benutzte die Beschwerdeführerin an zwei Orten einen
Lautsprecher, welcher auf einem Handwagen mitgeführt wurde, für folgende Durchsagen:
„Bullen raus aus der Versammlung!“ und „Zivile Bullen raus aus der Versammlung - und zwar
sofort!“.
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2. Gegen die Beschwerdeführerin wurde ein Bußgeldverfahren eingeleitet. Das Amtsgericht
verurteilte die Beschwerdeführerin mit angegriffenem Urteil wegen Verstoßes gegen das
Versammlungsgesetz (Nichtbeachtung beschränkender Auflagen) gemäß § 29 Abs. 2, Abs. 1 Nr.
3 i.V.m. § 15 Abs. 1 VersG zu einer Geldbuße von 250 Euro.
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Hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Auflage bestünden keine Bedenken. Zwar sei ein
gänzliches Verbot des Einsatzes von Lautsprecheranlagen bei einer Versammlung nicht
zulässig, die Versammlungsbehörde könne jedoch insoweit Beschränkungen anordnen, als
beispielsweise die Sicherheit des Straßenverkehrs oder der Schutz unbeteiligter Dritter vor
schädlichen Umwelteinwirkungen dies erforderten und die Verwendung von Lautsprechern nicht
funktional zur Verwirklichung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit notwendig seien. Der
Zweck einer kollektiven Meinungsbildung und -kundgabe entfalle, wenn der Einsatz
elektronischer Verstärker allein oder hauptsächlich anderen Zwecken als der
Meinungskundgabe zu versammlungsbezogenen Themen diene. In diesem Falle sei der Einsatz
des Verstärkers nicht anders zu bewerten, als wenn eine Einzelperson oder die Veranstalter
eines Informationsstandes sich eines Verstärkers bedienten, um ihr Anliegen zu verbreiten. Die
Beschränkung von Lautsprecherdurchsagen auf versammlungsthemenbezogene
Meinungsäußerungen und auf Ordnungsdurchsagen sei vor diesem Hintergrund im Lichte der
Versammlungsfreiheit nicht zu beanstanden. Die Beschränkung auf Ordnungsdurchsagen sei
auch nicht wegen mangelnder Bestimmtheit unzulässig. Es handele sich dabei zwar um einen
unbestimmten Rechtsbegriff, bei vernünftiger Betrachtung sei jedoch offensichtlich, was damit
gemeint sei: Durchsagen, welche Störungen des Versammlungszuges von außen oder innen
vermeiden sollen.
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Vorliegend habe die Beschwerdeführerin mit ihrer Aussage aber weder eine eventuelle Störung
der Versammlung beseitigen wollen noch habe sie eine versammlungsthemenbezogene
Aussage getätigt. Sie habe vielmehr allein ihre Meinung und ihr Missfallen zur beziehungsweise
über die Teilnahme von Zivilpolizisten an dem Zug Ausdruck verleihen wollen und insoweit eher
zur Hervorrufung von Störungen beigetragen als solche verhindern wollen. Auch eine
weitergehende Verknüpfung mit einem besonderen Thema oder mit dem spezifischen
Versammlungsthema sei bei der getätigten Aussage nicht erkennbar. Insbesondere werde aus
der Art der getätigten Äußerung deutlich, dass die Beschwerdeführerin durch ihre Äußerung
auch keinen politischen Diskurs und Meinungsaustausch über ein zu viel an Polizeipräsenz bei
bayerischen Versammlungen beabsichtigt habe. Der Beschwerdeführerin sei die
gegenständliche Auflage auch bekannt gewesen und bewusst gewesen, dass die beiden von ihr
getroffenen Aussagen weder in direktem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema standen
noch einen geordneten Versammlungsablauf bezweckten.
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3. Das Oberlandesgericht verwarf den Antrag der Beschwerdeführerin, gemäß § 80 Abs. 1 OWiG
die Rechtsbeschwerde zuzulassen, als unbegründet.
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4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin insbesondere eine Verletzung
in ihrem Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG.
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5. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, sowie das
Bayerische Staatsministerium des Innern hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. In einer dem
Bundesverfassungsgericht zur Kenntnis gegebenen Stellungnahme der Landeshauptstadt
München gegenüber dem Bayerischen Staatsministerium des Innern hat die Landeshauptstadt
München die Auffassung vertreten, dass die angegriffenen Entscheidungen den
verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen. Insbesondere fielen die fraglichen
Äußerungen bereits nicht in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG, jedenfalls wäre der Eingriff
aber gerechtfertigt. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz
sowie das Bayerische Staatsministerium des Innern haben von einer weiteren Stellungnahme
abgesehen. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht
vorgelegen.
II.
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Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG). Soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Versammlungsfreiheit aus Art. 8
Abs. 1 GG rügt, liegen die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung vor
(§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die maßgebenden verfassungsrechtlichen Fragen zum Schutz
der Versammlungsfreiheit sind geklärt (vgl. BVerfGE 69, 315 <342 ff.>; 84, 203 <209 ff.>; 87, 399
<406 ff.>; 104, 92 <103 f.>). Danach ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.
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1. Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht
der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG.
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a) Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ist eröffnet. Die Beschwerdeführerin war
unstreitig Teilnehmerin einer auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten
Kundgebung und damit einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 104, 92
<104>). Vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit grundsätzlich umfasst war damit auch die
Verwendung von Lautsprechern oder Megaphonen als Hilfsmittel (vgl. BVerfGK 11, 102 <108>).
Die als bußgeldbewehrt erachteten Lautsprecherdurchsagen standen auch inhaltlich in
hinreichendem Zusammenhang mit der durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützten Durchführung der
Versammlung. Mögen sie auch keinen spezifischen Bezug zum Versammlungsthema
aufgewiesen haben und nicht auf die Einhaltung der Ordnung gerichtet gewesen sein, so gaben
sie jedenfalls das versammlungsbezogene Anliegen kund, dass sich in dem auf den
Willensbildungsprozess gerichteten Aufzug selbst nur solche Personen befinden sollen, die am
Willensbildungsprozess auch teilnehmen, nicht aber auch am Meinungsbildungsprozess
unbeteiligte Polizisten, die als solche nicht erkennbar sind. In ihrer idealtypischen Ausformung
sind Demonstrationen die körperliche Sichtbarmachung von gemeinsamen Überzeugungen (vgl.
BVerfGE 69, 315 <345>). Wer an einer solchen Versammlung teilnimmt, ist grundsätzlich auch
dazu berechtigt, während der Versammlung dafür einzutreten, dass nur die das Anliegen der
Versammlung unterstützenden Personen an ihr teilnehmen und Polizisten sich außerhalb des
Aufzugs bewegen. Insoweit ist die entsprechende Lautsprecheraussage nicht - wie das
Amtsgericht annimmt - dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit entzogen.
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b) Durch die Sanktionierung der Lautsprecherdurchsagen mit einem Bußgeld greift die
amtsgerichtliche Entscheidung in diesen Schutzbereich ein. Dieser Eingriff ist auf der Grundlage
der gerichtlichen Feststellungen nicht gerechtfertigt.
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(1) Zwar ist die Versammlungsfreiheit nicht unbeschränkt gewährleistet. Bei Versammlungen
unter freiem Himmel sind zur Wahrung kollidierender Interessen Dritter Eingriffe in das
Grundrecht gemäß Art. 8 Abs. 2 GG durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes zulässig (vgl.
BVerfGE 87, 399 <406>). Es handelt sich bei der zur Anwendung gelangten Bußgeldvorschrift
des § 29 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 3 VersG um ein solches Gesetz, dessen Auslegung und Anwendung
grundsätzlich Sache der Strafgerichte ist (vgl. BVerfGK 10, 493 <495>). Allerdings haben die
staatlichen Organe und damit auch die Strafgerichte die grundrechtsbeschränkenden Gesetze
stets im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen und sich bei
Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutze gleichwertiger anderer Rechtsgüter
notwendig ist (vgl. BVerfGE 69, 315 <349>; 87, 399 <407>).
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(2) Diesem Maßstab wird die amtsgerichtliche Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einem
Bußgeld nicht gerecht.
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Indem die amtsgerichtliche Entscheidung die Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einer
Geldbuße in der Sache allein darauf stützte, dass sie die Lautsprecheranlage zu einem anderen
Zweck als zu einer im engen Sinne themenbezogenen Durchsage oder Ordnungsmaßnahme
nutzte, verkennt sie den Schutzgehalt des Art. 8 Abs. 1 GG, der - wie dargelegt - jedenfalls
grundsätzlich auch Äußerungen zu anderen versammlungsbezogenen Fragen erlaubt. Insoweit
konnte sich das Gericht auch nicht uneingeschränkt auf die entsprechende Auflage berufen.
Vielmehr durfte es die Auflage nur dann als verfassungsgemäß ansehen, wenn es sie einer
Auslegung für zugänglich hielt, nach der andere als strikt themenbezogene Äußerungen mit
Versammlungsbezug von ihr nicht ausgeschlossen sind. An einer solchen Berücksichtigung des
Schutzgehaltes der Versammlungsfreiheit fehlt es indes. Vielmehr belegt die angegriffene
Entscheidung die in Frage stehenden versammlungsbezogenen Äußerungen unabhängig von
jeder Störung mit einer Geldbuße. Für eine Störung durch den Gebrauch der
Lautsprecheranlage im konkreten Fall ist weder etwas dargetan noch ist sie sonst ersichtlich. Die
Lautsprecherdurchsagen der Beschwerdeführerin waren erkennbar nicht geeignet, mehr als
allenfalls unerhebliche Unruhe innerhalb der Versammlung zu stiften. Der bloße Aufruf „Zivile
Bullen raus aus der Versammlung - und zwar sofort!“ mag bei lebensnaher Betrachtung
kurzfristige Irritationen von Versammlungsteilnehmern hervorrufen, war aber ersichtlich nicht zur
Störung des ordnungsgemäßen Verlaufs der Versammlung geeignet. Insbesondere wurden
Zivilpolizisten nicht kon-kret und in denunzierender Weise benannt und so etwa in die Gefahr
gewalttätiger Übergriffe aus der Versammlung gebracht. Auch eine mögliche Beeinträchtigung
der Gesundheit von Dritten durch übermäßigen Lärm erscheint durch die bloß kurzzeitige
zweimalige Benutzung des Lautsprechers ausgeschlossen. Insgesamt ist damit nicht erkennbar,
dass Gefährdungen vorlagen, die die Verurteilung der Beschwerdeführerin zu einem Bußgeld
rechtfertigten.
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2. Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts beruht auch auf dem aufgezeigten
Grundrechtsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht bei einer erneuten
Befassung unter Beachtung der grundrechtlichen Anforderungen des Art. 8 Abs. 1 GG zu einem
anderen Ergebnis kommen wird. Das angegriffene Urteil ist daher aufzuheben, die Sache ist an
das Amtsgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2
BVerfGG). Der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg über die Nichtzulassung der
Rechtsbeschwerde vom 5. August 2009 ist damit gegenstandslos.
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3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die
Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1
RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
Kirchhof
Masing
Baer