Urteil des BVerfG vom 20.06.2014

BVerfG: schutz der menschenwürde, versammlungsfreiheit, friedhof, zusammenkunft, verfassungsbeschwerde, stadt, auflösung, kommunikation, grundrecht, zusammenleben

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 980/13 -
Bundesadler
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn P…
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwältin Kristin Pietrzyk
in Sozietät Rechtsanwälte Elster & Pietrzyk,
Markt 23, 07743 Jena -
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 25. Februar
2013 - Ss 72/13 (Z) -,
b)
das Urteil des Amtsgerichts Dresden vom 9. November 2012 - 219
OWi 205 Js 43628/12 -
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
und Beiordnung eines Rechtsanwalts
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof,
den Richter Masing
und die Richterin Baer
am 20. Juni 2014 einstimmig beschlossen:
1. Das Urteil des Amtsgerichts Dresden vom 9. November 2012 - 219 OWi 205 Js 43628/12 -
verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 8 Absatz 1 des
Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Dresden
zurückverwiesen. Damit wird der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom
25. Februar 2013 - Ss 72/13 (Z) - gegenstandslos.
2. Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu
erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe.
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit für das
Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend
Euro) festgesetzt.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine Verurteilung des Beschwerdeführers in
einem Bußgeldverfahren wegen Verstoßes gegen die Friedhofsordnung der Stadt Dresden
sowie einer Zuwiderhandlung gegen § 118 Abs. 1 OWiG durch Entrollen eines Transparents
zum Protest gegen eine Gedenkveranstaltung.
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1. Am 13. Februar 2012 veranstaltete die Stadt Dresden eine Gedenkveranstaltung auf dem
Gelände des Dresdner Heidefriedhofs. Bei diesem handelt es sich um einen kommunalen
Friedhof der Stadt, dessen Verwaltung dem Städtischen Friedhofs- und Bestattungswesen
obliegt und zum damaligen Zeitpunkt durch Satzung der Landeshauptstadt Dresden für die
Friedhöfe des Eigenbetriebes Städtisches Friedhofs- und Bestattungswesen Dresden vom 29.
Juni 2006 (Friedhofssatzung) geregelt war. Der von der „Arbeitsgruppe 13. Februar“ organisierte
Gedenkgang diente der Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkrieges sowie der Opfer des
Alliierten Bombenangriffs auf Dresden am 13. Februar 1945, die zu einem Großteil in
Massengräbern auf dem Heidefriedhof beerdigt sind. Geplant war nach dem öffentlichen Aufruf
hierbei, dass sich der Gedenkzug über die zentrale Opferschale des Rondells zu einer
Gedenkmauer für die Bombenangriffe bewegen sollte, um - symbolisiert durch die Niederlegung
von weißen Rosen - „ein Zeichen für die Überwindung von Krieg, Rassismus und Gewalt zu
setzen“. Die Beteiligung an dem Gedenkzug stand der gesamten Bevölkerung offen. Es waren
Ansprachen und eine musikalische Umrahmung vorgesehen.
3
2. Der Beschwerdeführer erhob - mit drei weiteren Personen etwa fünfzig Meter vor der
Gedenkmauer postiert - entlang des Hauptweges des Gedenkzuges ein Transparent mit dem
Schriftzug:
„Es gibt nichts zu trauern - nur zu verhindern. Nie wieder Volksgemeinschaft - destroy the spirit of
Dresden. Den Deutschen Gedenkzirkus beenden. Antifaschistische Aktion“.
4
Mit dem Transparent wollte der Beschwerdeführer bekunden, dass er mit der Zielrichtung des
Gedenkganges nicht einverstanden sei und gegen diesen ein Zeichen setzen. Das Transparent
war für den vorbeiziehenden Trauerzug wenige Minuten sichtbar, bevor anwesende
Polizeibeamte den Beschwerdeführer dazu bewegten, das Transparent wieder einzurollen. Die
Gedenkveranstaltung auf dem Heidefriedhof konnte anschließend wie geplant durchgeführt
werden.
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3. Mit Bußgeldbescheid vom 5. April 2012 setzte die Stadt Dresden eine Geldbuße in Höhe von
150 € gegen den Beschwerdeführer fest. Ihm wurde zur Last gelegt, durch das Zeigen des
Transparents gegen § 5 Abs. 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 1 Friedhofssatzung
verstoßen zu haben, wonach sich auf Friedhöfen jeder der Würde des Ortes entsprechend zu
verhalten habe. Ferner habe der Beschwerdeführer eine grob ungehörige Handlung im Sinne
des § 118 Abs. 1 OWiG vorgenommen, die geeignet sei, die Allgemeinheit zu belästigen und die
öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. Gegen diesen Bußgeldbescheid legte der
Beschwerdeführer fristgemäß Einspruch ein.
6
4. Mit angegriffenem Urteil vom 9. November 2012 verurteilte das Amtsgericht den
Beschwerdeführer wegen vorsätzlicher Störung der Ruhe und Ordnung auf einem Friedhof in
Tateinheit mit vorsätzlicher Belästigung der Allgemeinheit zu einer Geldbuße von 150 €.
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Der Beschwerdeführer habe durch sein Verhalten die Friedhofsordnung im Sinne des § 5 Abs. 1
Friedhofssatzung gestört, da Trauergäste sich zumindest mit Blickkontakt dem Transparent
zugewandt und von dessen Inhalt Kenntnis genommen hätten. Eine über die Bestattung oder
Totenfeier hinausgehende Auseinandersetzung mit anstehenden Problemen habe zu
unterbleiben. Die Hinterbliebenen und Gedenkenden hätten ein Recht darauf, dass sie ohne
Einwirkung von Dritten auf dem Friedhof trauern und gedenken können. Auseinandersetzungen,
egal in welcher Form, gehörten nicht auf einen Friedhof.
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Auch habe der Beschwerdeführer durch das Entrollen des Transparents eine grob ungehörige
Handlung gemäß § 118 Abs. 1 OWiG begangen, da er objektiv jenes Minimum an Regeln grob
verletzt habe, welches unabdingbar notwendig sei, um innerhalb einer offenen Gesellschaft ein
Zusammenleben vieler Menschen zu ermöglichen. Ein Friedhof stelle einen Rückzugsort für all
diejenigen dar, die um Verstorbene trauern wollten. Damit sei es nicht vereinbar, wenn ein
Friedhof zum Gegenstand von Auseinandersetzungen gemacht werde. Ohne ein Recht auf
Bestattung und Erinnerung sei ein friedvolles Zusammenleben auch innerhalb einer
demokratischen Gesellschaftsordnung nicht möglich. Wer diesen Verhaltenskodex in Frage
stelle, greife dadurch nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Gesamtgemeinschaft an. Mit
dem Entrollen des Transparents werde schließlich die Menschenwürde, welche über den Tod
hinausreiche, angegriffen.
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Das Handeln des Beschwerdeführers sei weder durch das Versammlungsgesetz noch durch das
Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt. Bei dem Gedenkgang habe es sich um eine nach
§ 5 Abs. 4 Friedhofssatzung genehmigte Veranstaltung gehandelt. Auf eine solche
Genehmigung für eine nicht mit einer Bestattung zusammenhängende Veranstaltung könne sich
der Beschwerdeführer nicht berufen. Im Rahmen der anzustellenden Güterabwägung habe das
Recht auf freie Meinungsäußerung gegenüber dem Recht auf freie Religionsausübung und dem
Schutz der Menschenwürde, die das Recht jedes Einzelnen auf ungehinderte Bestattung seiner
Verstorbenen und Erinnerung an diese Verstorbenen umfasse, zurückzustehen.
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5. Mit angegriffenem Beschluss vom 25. Februar 2013 verwarf das Oberlandesgericht die
Rechtsbeschwerde des Beschwerdeführers als unbegründet.
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6. Mit seiner Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, in seinen
Grundrechten aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 8 Abs. 1 GG verletzt worden zu sein. Mit
nachfolgendem Schreiben beantragte der Beschwerdeführer die Gewährung von
Prozesskostenhilfe.
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7. Das Sächsische Staatsministerium der Justiz und für Europa hat von einer Stellungnahme
abgesehen. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat mitgeteilt, dass die Strafsenate des
Bundesgerichtshofs bisher nicht mit den sich in diesem Verfahren stellenden Rechtsfragen
befasst gewesen seien, weswegen von einer Stellungnahme abgesehen werde. Die Akte des
Ausgangsverfahrens lag dem Bundesverfassungsgericht vor.
II.
13
Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen. Die Voraussetzungen für
eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG). Das
Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde
maßgeblichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 69, 315 <342 ff.>; 73, 206 <230 ff.>; 87,
399 <406 ff.>; 104, 92 <103 ff.>). Nach diesen Maßstäben ist die Verfassungsbeschwerde gegen
die Entscheidung des Amtsgerichts zulässig und offensichtlich begründet.
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1. Die Zusammenkunft auf dem Heidefriedhof und das Entrollen des Transparents fallen unter
den Schutz der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG.
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a) Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur
gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten
Erörterung oder Kundgebung und umfasst auch provokative Äußerungen (vgl. BVerfGE 69, 315
<342 f.>; 104, 92 <104>; BVerfGK 11, 102 <108>). Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen
beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen
gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen (vgl. BVerfGE 73, 206
<248>; 87, 399 <406>; 104, 92 <103 f.>). Bei einer Versammlung geht es darum, dass die
Teilnehmer nach außen - schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des
Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes - im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung
nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (vgl. BVerfGE 69, 315 <345>).
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Die Versammlungsfreiheit verschafft damit allerdings kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten (vgl.
BVerfGE 128, 226 <251>). Insbesondere gewährt sie keinen Zutritt zu Orten, die der
Öffentlichkeit nicht allgemein zugänglich sind oder zu denen schon den äußeren Umständen
nach nur zu bestimmten Zwecken Zugang gewährt wird (vgl. BVerfGE 128, 226 <251>). Die
Versammlungsfreiheit verbürgt die Durchführungen von Versammlungen jedoch dort, wo ein
kommunikativer Verkehr eröffnet ist; ausschlaggebend ist die tatsächliche Bereitstellung des
Ortes und ob nach diesen Umständen ein allgemeines öffentliches Forum eröffnet ist (vgl.
BVerfGE 128, 226 <251 ff.>).
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Der Schutz des Art. 8 GG besteht unabhängig davon, ob eine Versammlung anmeldepflichtig
und dementsprechend angemeldet ist (vgl. BVerfGE 69, 315 <351>; BVerfGK 4, 154 <158>; 11,
102 <108>). Er endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung (vgl. BVerfGE 73, 206
<250>).
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b) Nach diesen Kriterien handelte es sich bei der Zusammenkunft, an welcher der
Beschwerdeführer teilgenommen hat, um eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG. Die
Zusammenkunft hatte den Zweck, gegen das Gedenken Stellung zu nehmen und mit einem
Transparent gemeinsam Position gegen die Gedenkveranstaltung zu beziehen; hierbei handelte
es sich um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung.
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Allerdings handelt es sich bei einem Friedhof jedenfalls in der Regel um einen Ort, der sowohl
nach seiner Widmung als auch den äußeren Umständen nach nur für begrenzte Zwecke
zugänglich ist und nicht als Stätte des allgemeinen öffentlichen Verkehrs und Ort allgemeiner
Kommunikation anzusehen ist. Der Widmungszweck des Friedhofes allein kann den
Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG jedoch nicht begrenzen; insofern kommt es vielmehr darauf
an, inwieweit tatsächlich allgemeine Kommunikation eröffnet ist oder nicht (vgl. BVerfGE 128,
226 <252>). Danach war in der vorliegenden Situation auf dem Friedhof ein kommunikativer
Verkehr eröffnet. Durch den Gedenkzug, zu welchem öffentlich aufgerufen und der im
Einverständnis mit den verantwortlichen Stellen durchgeführt worden war, wurde der
Heidefriedhof jedenfalls am 13. Februar 2012 zu einem Ort allgemeiner öffentlicher
Kommunikation. Der Gedenkzug diente nach der Ankündigung - über ein privates Gedenken
hinaus - auch dazu „ein Zeichen für die Überwindung von Krieg, Rassismus und Gewalt zu
setzen“ und nutzte so den Heidefriedhof an diesem Tage zu einer Auseinandersetzung mit
gesellschaftlich bedeutsamen Themen. Daher kann sich der Beschwerdeführer jedenfalls an
diesem Tage für seine Zusammenkunft auf den Schutz der Versammlungsfreiheit berufen, zumal
sein Protest konkret auf das Anliegen des Gedenkzuges bezogen ist.
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2. Die Verurteilung des Beschwerdeführers greift in die Versammlungsfreiheit ein. Dieser Eingriff
ist nicht gerechtfertigt.
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a) Verfassungsrechtlich nicht tragfähig ist die Verurteilung nach § 118 Abs. 1 OWiG. Die
angegriffene Entscheidung des Amtsgerichts verkennt den Schutzbereich der
Versammlungsfreiheit; weiter fehlt es an einer verfassungsrechtlich notwendigen Abwägung in
der Sache.
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aa) Das Amtsgericht hat den Versammlungscharakter der Zusammenkunft mit
verfassungsrechtlich nicht tragfähigen Gründen verneint. Das Amtsgericht geht davon aus, dass
es deswegen an einer Versammlung fehle, weil diese nicht nach § 5 Abs. 4 der
Friedhofssatzung angemeldet worden war. Diese Auffassung ist mit den verfassungsrechtlichen
Vorgaben des Art. 8 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren und verkennt den Schutzbereich dieses
Grundrechts grundlegend. Eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG hängt nicht von
einer Genehmigung oder Anmeldung ab; auch die Einschlägigkeit des Versammlungsgesetzes
hat keine Auswirkung darauf, ob der sachliche Schutzbereich des Versammlungsgrundrechts
eröffnet ist. Verfassungsrechtlich tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass die Zusammenkunft des
Schutzes des Art. 8 Abs. 1 GG wieder verlustig gegangen ist, sind der Entscheidung des
Amtsgerichts nicht zu entnehmen. Auch der Umstand, dass mit der rechtmäßigen Auflösung
einer Versammlung das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG unanwendbar wird, führt hier nicht
dazu, dass der Beschwerdeführer sich nicht auf den Schutz dieses Grundrechts berufen kann.
Selbst wenn man in der Aufforderung durch die Polizisten, das Transparent einzurollen, eine
Versammlungsauflösung sehen möchte, knüpft die Verurteilung des Beschwerdeführers doch an
sein vorheriges Verhalten an. Der Schutz durch die Versammlungsfreiheit entfällt nur ab dem
Zeitpunkt der Auflösung, wirkt aber nicht zurück (vgl. BVerfGE 104, 92 <106>).
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bb) Es fehlt auch an einer hinreichenden Abwägung, ob die Verurteilung des Beschwerdeführers
mit Blick auf die Versammlungsfreiheit gerechtfertigt ist.
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(1) Die Normen des Straf- wie auch des Ordnungswidrigkeitenrechts sind unter Beachtung der
Wertentscheidungen der Grundrechte auszulegen und anzuwenden (vgl. BVerfGE 87, 399
<407 ff.>; 104, 92 <103>). Die staatlichen Organe haben die grundrechtsbeschränkenden
Gesetze im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen und sich bei
Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutz gleichwertiger anderer Rechtsgüter
notwendig ist (vgl. BVerfGE 69, 315 <349>; 87, 399 <407>). Demnach ist bei der Entscheidung
über eine Ordnungswidrigkeit bei Rechtsverstößen der Versammlungsteilnehmer deren
grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit zu beachten und in die Abwägung einzustellen
(vgl. BVerfGE 87, 399 <407 ff.>).
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(2) Diesen Vorgaben wird die Entscheidung des Amtsgerichts nicht gerecht. Für den in § 118
Abs. 1 OWiG verwendeten Begriff der öffentlichen Ordnung ist kennzeichnend, dass er auf
ungeschriebene Regeln verweist, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem
Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als
unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines
bestimmten Gebietes angesehen wird (vgl. BVerfGE 69, 315 <352>; 111, 147 <155 f.>). Daher
hätte das Amtsgericht bei der Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffes der öffentlichen
Ordnung jedenfalls die Versammlungsfreiheit des Beschwerdeführers in seine
Entscheidungsfindung miteinbeziehen müssen und konkret die vorgenommene Auslegung unter
Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 GG überprüfen müssen. Es hätte einer Auseinandersetzung
damit bedurft, warum die Ausübung des Versammlungsgrundrechts der öffentlichen Ordnung
widerspricht, während auf dem Heidefriedhof zur gleichen Zeit eine große Gedenkveranstaltung,
zu der öffentlich aufgerufen wurde und die über das Gedenken hinaus ein „Zeichen“ setzen
wollte, stattfindet und sich der Beschwerdeführer gezielt im Wege stillen Protests gegen diese
wendet.
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Auf die Frage, ob § 118 OWiG von Verfassung wegen überhaupt ein Verhalten sanktionieren
kann, welches dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit unterfällt oder ob die Vorschrift
sonst verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt, kommt es damit nicht an.
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b) Soweit die Verurteilung auf einen Verstoß gegen die Friedhofssatzung gestützt wird, gilt
Entsprechendes. Für eine Verurteilung genügt es nicht, dass die Entscheidung begründet,
warum das Verhalten des Beschwerdeführers unter den Tatbestand zu subsumieren ist. Auch
hier hätte das Amtsgericht von einem Schutz durch die Versammlungsfreiheit ausgehen müssen
und bei der Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Würde des Friedhofes dieses
Grundrecht in die Abwägung einstellen müssen.
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3. Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts beruht auf diesen verfassungsrechtlichen Fehlern.
Es ist nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der sich
aus Art. 8 Abs. 1 GG ergebenden Vorgaben bei erneuter Befassung zu einer anderen
Entscheidung in der Sache kommen wird. Ob die Entscheidung auch mit dem ebenfalls gerügten
Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG in Einklang steht, kann deswegen dahinstehen.
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4. Der den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Rechtsbeschwerde verwerfende
Beschluss des Oberlandesgerichts vom 25. Februar 2013 wird damit gegenstandslos.
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5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt
aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz
2 Halbsatz 1 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG. Da der Freistaat Sachsen dem
Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten hat, erledigt sich der Antrag auf
Gewährung von Prozesskostenhilfe.
Kirchhof
Masing
Baer