Urteil des BVerfG vom 12.12.2013

BVerfG: erlass, verfassungsbeschwerde, weisung, vergewaltigung, verhinderung, zustand, minderung, gefahr, freiheitsberaubung, copyright

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 636/12 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn W...,
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Helfried Roubicek,
Seestraße 23 c, 18211 Börgerende -
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 16. Februar
2012 - I Ws 17 u. 18/12 -,
b)
den Beschluss des Landgerichts Rostock vom 2. Dezember 2011 -
12 StVK 1129/11-2 -,
c)
den Beschluss des Landgerichts Rostock vom 21. Oktober 2011 - 12
StVK 1129/11-2 -
hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hier: Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
und Beiordnung des Rechtsanwalts Helfried Roubicek, Börgerende,
im Verfahren über die einstweilige Anordnung
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Gerhardt,
die Richterin Hermanns
und den Richter Müller
gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 Satz 1 BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 12. Dezember 2013 einstimmig
beschlossen:
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwalts Helfried
Roubicek, Börgerende, für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung wird abgelehnt, weil die Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg
bietet (vgl. §§ 114, 121 ZPO).
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Gründe:
1
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die
ihm im Rahmen der Führungsaufsicht erteilte Weisung, eine sogenannte „elektronische
Fußfessel“ zu tragen, sowie mittelbar gegen § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB. Im Wege der
einstweiligen Anordnung beantragt er, diese Weisung sofort außer Vollzug zu setzen und ihm
die „elektronische Fußfessel“ abzunehmen.
I.
2
Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Rostock vom 22. März 2004 wegen
Vergewaltigung in fünf Fällen in Tateinheit mit Freiheitsberaubung unter Einbeziehung einer
Verurteilung vom 2. August 2002 - ebenfalls wegen Vergewaltigung - zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Nach vollständiger Verbüßung der
Freiheitsstrafe wurde er am 30. September 2011 aus der Strafhaft entlassen.
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Mit Beschluss vom 28. September 2011 hatte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts
Rostock entschieden, dass die nach § 68f StGB kraft Gesetzes eintretende Führungsaufsicht
nicht entfalle, und zahlreiche Weisungen gemäß § 68b StGB erteilt. Dieser Beschluss wurde
durch den angegriffenen weiteren Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 21. Oktober
2011 teilweise neu gefasst und unter gleichzeitiger Aufhebung der vorherigen Meldeauflage um
die Weisung zum Tragen einer „elektronischen Fußfessel“ ergänzt.
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Am 27. Oktober 2011 wurde dem Beschwerdeführer eine solche GPS-gestützte „elektronische
Fußfessel“ angelegt.
5
Mit angegriffenem Beschluss vom 16. Februar 2012 hat das Oberlandesgericht Rostock die
gegen die genannten Beschlüsse erhobenen Beschwerden als unbegründet verworfen.
II.
6
Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen nicht vor.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand
durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur
Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl
dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des
angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei
denn die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich
unbegründet (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 111, 147 <152 f.>; 118, 111 <122>; stRspr). Bei
offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn
eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte,
gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung
erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE
71, 158 <161>; 96, 120 <128 f.>; 105, 365 <371>; 126, 158 <168>; 129, 284 <298>; stRspr). Für
die Beurteilung der Erforderlichkeit einer einstweiligen Anordnung ist dabei ein strenger
Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 93, 181 <186>; 106, 51 <58>; BVerfG, Beschluss der
3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Februar 2009 - 2 BvQ 7/09 -, juris, Rn. 1).
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2. Vorliegend erscheint die Verfassungsbeschwerde zwar weder von vornherein unzulässig
noch offensichtlich unbegründet. Der Beschwerdeführer verzichtet jedoch zur Begründung des
Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf eine eigenständige Folgenabwägung und
verweist lediglich auf sein Beschwerdevorbringen. Insoweit erscheint bereits zweifelhaft, ob der
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung dem Erfordernis substantiierter Darlegung von
deren Voraussetzungen genügt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom
14. Oktober 2010 - 2 BvR 1744/10 -, juris, Rn. 1 m.w.N.).
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3. Jedenfalls führt die gebotene Abwägung im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass die
begehrte einstweilige Anordnung nicht ergehen kann, weil die für deren Erlass sprechenden
Gründe nicht in der erforderlichen Weise deutlich überwiegen (vgl. BVerfG, Beschluss der
3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Februar 2011 - 2 BvR 132/11 -, juris, Rn. 2 m.w.N.).
10
Erginge die einstweilige Anordnung und erwiese sich die Verfassungsbeschwerde als
unbegründet, könnten schutzwürdige Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit in hohem Maße
beeinträchtigt werden. In den angegriffenen Beschlüssen wird festgestellt, dass von dem
Beschwerdeführer ein hohes Risiko der Begehung weiterer schwerer Sexualstraftaten ausgeht.
Zur Begründung wird auf die diesbezüglichen Ausführungen des Sachverständigen in seinem
Gutachten vom 11. Oktober 2011, die hohe Rückfallgeschwindigkeit, das Vollzugsverhalten des
Beschwerdeführers und das bisherige Nichterreichen eines Behandlungserfolges hingewiesen.
Würde dem Beschwerdeführer die „elektronische Fußfessel“ ersatzlos abgenommen, würde
demgemäß wegen der damit verbundenen Minderung des Entdeckungsrisikos die Gefahr der
Begehung erneuter schwerer Sexualstraftaten deutlich erhöht.
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Dem stehen für den Fall, dass die begehrte einstweilige Anordnung nicht erlassen und die
Verfassungsbeschwerde sich als begründet erweisen würde, keine vergleichbar
schwerwiegenden Nachteile gegenüber. Weder vermag der Beschwerdeführer derartige
Beeinträchtigungen darzulegen, noch sind diese in sonstiger Weise ersichtlich. Soweit der
Beschwerdeführer behauptet, er werde an der Arbeitsaufnahme gehindert, legt er in keiner
Weise dar, welche Beschäftigungsangebote ihm konkret vorlagen und inwieweit das Tragen der
„elektronischen Fußfessel“ deren Annahme verhindert hat. Dass er sich nicht frei bewegen
können soll, ist nicht nachvollziehbar dargelegt. Soweit der Beschwerdeführer auf
Erschwernisse der täglichen Lebensführung, die situationsabhängige Erkennbarkeit der
„elektronischen Fußfessel“ für Dritte und Einschränkungen der Möglichkeit persönlicher
Kontaktanbahnung hinweist, treten diese Belange hinter den Sicherheitsinteressen der
Allgemeinheit zurück. Jedenfalls kann aufgrund dieser Umstände das erforderliche deutliche
Überwiegen der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe nicht
festgestellt werden.
12
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Gerhardt
Hermanns
Müller