Urteil des BVerfG vom 23.02.2006

BVerfG: eingriff in grundrechtspositionen, vollzug der strafe, strafzumessung, verfassungsbeschwerde, familie, eltern, einheit, bewährung, willkürverbot, emrk

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 173/06 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1. der Frau S ...,
2. des Herrn S ...,
3. des S ...,
gesetzlich vertreten durch die Beschwerdeführer zu 1. und 2.,
4. der S ...,
gesetzlich vertreten durch die Beschwerdeführer zu 1. und 2.,
gegen
a)
den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 16. November 2005 - 2 StR 457/05 -,
b)
das Urteil des Landgerichts Aachen vom 22. April 2005 - 64 KLs 801 Js 544/04 5/05
-
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richter Di Fabio
und Gerhardt
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 23. Februar 2006 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2
BVerfGG nicht vorliegt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 ff.>). Die
gegen die Verurteilung der Beschwerdeführer zu 1. und 2. sowie die sich daraus ergebenden Folgen für die
Beschwerdeführer zu 3. und 4. gerichtete Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.
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1. a) Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestands, die Auslegung des einfachen
Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und
deshalb
grundsätzlich
der
Nachprüfung
durch
das
Bundesverfassungsgericht
entzogen;
das
Bundesverfassungsgericht kann nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht eingreifen (vgl. BVerfGE
1, 418 <420>). Auch die Strafzumessung ist Sache der Tatgerichte und der Prüfung des Bundesverfassungsgerichts
grundsätzlich entzogen. Erst wenn Fehler der Tatgerichte sichtbar werden, die auf eine grundlegende Verkennung der
das Grundgesetz beherrschenden Gedanken hindeuten oder sich die Strafzumessung so sehr davon entfernt,
gerechter Schuldausgleich zu sein, und sich damit als objektiv willkürlich erweist, ist ein Eingreifen des
Bundesverfassungsgerichts geboten (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 ff.>; 54, 100 <108, 111>). Eine solche Verletzung
spezifischen Verfassungsrechts ist hier nicht erkennbar.
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b) Das Landgericht und der Bundesgerichtshof haben insbesondere Art. 6 Abs. 1 GG Rechnung getragen.
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Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Daraus hat das
Bundesverfassungsgericht eine Reihe von rechtlichen Folgerungen gezogen (BVerfGE 6, 55 <71 ff.>; 6, 386 <388>;
24, 119 <135>; 28, 104 <112>; 31, 58 <67>). Hier ist entscheidend, dass der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen
wertentscheidenden Grundsatznorm auch im Haftvollzug besondere Bedeutung zukommt. Jede Strafhaft von längerer
Dauer stellt für die Beziehungen des Betroffenen zu seiner Familie regelmäßig eine empfindliche Belastung dar. Ihr
Vollzug beeinträchtigt die Kommunikation zwischen dem Inhaftierten und seinen in Freiheit lebenden Angehörigen und
kann dazu beitragen, dass sie einander tiefgreifend entfremdet werden. Aufgabe des Staates ist es, in Erfüllung seiner
verfassungsrechtlichen Pflicht, für die Erhaltung von Ehe und Familie zu sorgen, solche nachteiligen Auswirkungen
des Freiheitsentzuges im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren, aber auch unter angemessener Beachtung der
Belange der Allgemeinheit zu begrenzen (vgl. BVerfGE 42, 95 <101>). Diese vom Bundesverfassungsgericht
entwickelten Grundsätze gelten erst recht, wenn infolge einer Verurteilung der Eltern deren Kinder betroffen sind.
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Die Strafzumessungsentscheidung des Landgerichts verstößt hinsichtlich der Beschwerdeführer zu 1. und 2. nicht
gegen deren Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG. Die Strafkammer war sich bei der Verurteilung der Beschwerdeführer zu 1.
und 2. der Elterneigenschaft bewusst. Sie hat die besondere Haftempfindlichkeit der Beschwerdeführerin zu 1.
ausdrücklich als wesentliche Strafzumessungserwägung strafmildernd berücksichtigt (vgl. BGHSt 44, 125 <126>).
Eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit dieser Frage auch hinsichtlich des Beschwerdeführers zu 2. mag aus
strafprozessrechtlicher Sicht vorzugswürdig gewesen sein. Von Verfassungs wegen ist gegen deren Unterbleiben
jedoch nichts zu erinnern, weil bereits nach den Regeln des einfachen Rechts die Urteilsgründe als Einheit zu
betrachten und die Tatgerichte lediglich gehalten sind, die bestimmenden Umstände der Strafzumessung im Sinne
des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO anzugeben. Allein daraus, dass ein, sich etwa aus der Sachverhaltsschilderung
ergebender, Umstand nicht ausdrücklich erörtert ist, kann nicht geschlossen werden, der Tatrichter habe ihn nicht
gesehen oder nicht gewertet (vgl. BGH, DAR 2000, S. 532). Da die Kammer jedenfalls die besondere
Haftempfindlichkeit der Beschwerdeführerin zu 1. und deren Grund erkannt hat, ist davon auszugehen, dass sie auch
die aus der Elterneigenschaft folgende Haftempfindlichkeit des Beschwerdeführers zu 2. in ihre Erwägungen
einbezogen hat.
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2. Auch im Übrigen ist nicht zu erkennen, dass die Gerichte die das Grundgesetz beherrschenden Gedanken
grundlegend verkannt hätten oder sich die Strafzumessung so sehr davon entfernt hätte, gerechter Schuldausgleich
zu sein, dass sie sich als objektiv willkürlich erweist. Dass die Kammer auch unter Berücksichtigung der besonderen
Haftempfindlichkeit der Beschwerdeführerin zu 1. angesichts der umfangreich ausgeführten Strafschärfungsgründe
nicht mehr zur Verhängung einer aussetzungsfähigen Freiheitsstrafe gelangte, hat das Bundesverfassungsgericht als
tatrichterliche Wertung hinzunehmen. Dabei konnte das Landgericht auch ohne Verstoß gegen das Willkürverbot
berücksichtigen, dass das Bestreben, dem Angeklagten Strafaussetzung zur Bewährung zu bewilligen, nicht dazu
führen darf, dass die schuldangemessene Strafe unterschritten wird (vgl. BGHSt 29, 319 <321 f.>). Die
rechtsstaatlich nicht hinnehmbare Konsequenz der von den Beschwerdeführern vertretenen Ansicht wäre, dass unter
teilweisem Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch Eltern mit minderjährigen Kindern auch bei Begehung
erheblicher Straftaten unter Umständen nur noch zu Bewährungsstrafen verurteilt werden dürften.
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Hinsichtlich des Beschwerdeführers zu 2. konnten die Fachgerichte ebenfalls ohne Verstoß gegen Gewährleistungen
des Grundgesetzes die Tatsache in die Bewertung einbeziehen, dass er bereits vielfach und einschlägig vorbestraft
ist.
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3. Der Vortrag der Beschwerdeführer ist erkennbar von dem Interesse geleitet, zumindest für die Beschwerdeführerin
zu 1. eine Bewährungsstrafe zu erreichen. Hierzu bedienen sich die Beschwerdeführer eigener Wertungen und
Schlussfolgerungen sowie einer Bezugnahme auf Rechtsprechung zu Art. 6 GG und Art. 8 EMRK, die nicht zur
Strafzumessung, sondern zum Sorge- und Umgangsrecht bzw. auf dem Gebiet des Ausländerrechts ergangen ist.
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4. Soweit die Beschwerdeführer vortragen, die Verurteilung der Beschwerdeführer zu 1. und 2. greife wegen des sich
anschließenden Vollzugs der Freiheitsstrafe in Rechte der Beschwerdeführer zu 3. und 4. ein, handelt es sich um eine
Folge der strafbaren Handlung der Beschwerdeführer zu 1. und 2., die bereits bei Begehung der Straftat absehbar war.
Ein dem Staat zuzurechnender, unmittelbar zielgerichteter Eingriff in Grundrechtspositionen der Beschwerdeführer zu
3. und 4. liegt hierin nicht. Allerdings wird im Vollzug der Strafe auf die Grundrechtspositionen der Beschwerdeführer
aus Art. 6 Abs. 1 GG Bedacht zu nehmen sein (vgl. BVerfGE 42, 95 ff.).
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hassemer
Di Fabio
Gerhardt