Urteil des BVerfG vom 30.07.2014

BVerfG: untersuchungshaft, fortdauer, verfassungsbeschwerde, erlass, überlastung, entlastung, belastung, ausstattung, beschleunigungsgebot, präsidium

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1457/14 -
In dem Verfahren über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn H ,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Prof. Dr. Ulrich Ziegert und Maximilian Pauls, Sophienstraße 3, 80333 München -
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 10. Juni 2014 -
2 Ws 537/14 H und 538/14 -,
b)
den Beschluss des Landgerichts München I vom 29. April 2014 - J
KLs 451 Js 173287/13 jug –
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Landau
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
König
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.
August 1993 (BGBl I S. 1473) am 30. Juli 2014 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 10. Juni 2014 - 2 Ws 537/14 H und 538/14
- und der Beschluss des Landgerichts München I vom 29. April 2014 - J KLs 451 Js 173287/13
jug - verletzen den Beschwerde- führer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des
Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das
Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 € (in Worten: Zehntausend
Euro) festgesetzt.
Gründe:
A.
1
Die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene
Verfassungsbeschwerde betrifft die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft durch eine
Beschwerdeentscheidung des Landgerichts München I und eine Haftfortdauerentscheidung des
Oberlandesgerichts München.
I.
2
Der 18-jährige, nicht vorbestrafte Beschwerdeführer befindet sich seit dem 14. August 2013
aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts München vom selben Tage ununterbrochen in
Untersuchungshaft. Nach dem Haftbefehl besteht gegen ihn der dringende Tatverdacht der
Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung; als
Haftgründe werden Flucht- und Wiederholungsgefahr angeführt. Am 11. Dezember 2013 machte
der Beschwerdeführer, der den Tatvorwurf zunächst bestritten hatte, bei einer Vernehmung
detaillierte Angaben, mit denen er das Tatgeschehen weitgehend einräumte.
3
Am 29. Januar 2014 erhob die Staatsanwaltschaft wegen im Wesentlichen unverändert
gebliebener Tatvorwürfe gegen den Beschwerdeführer Anklage vor der Jugendkammer des
Landgerichts München I. Am 25. Februar 2014 ordnete das Oberlandesgericht München im
Rahmen des nach §§ 121, 122 StPO notwendigen Haftprüfungsverfahren erstmals die
Haftfortdauer an. Mit Schriftsatz vom 25. März 2014 legte der Beschwerdeführer gegen den
Haftbefehl Beschwerde ein.
4
Am 2. April 2014 eröffnete die Jugendkammer des Landgerichts München I das Hauptverfahren
und ließ die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zu. Termine zur Durchführung der
Hauptverhandlung wurden auf den 14., 15., 20., 22. und 24. Oktober 2014 bestimmt.
5
Mit angegriffenem Beschluss vom 29. April 2014, dem umfangreiche Statistiken über die
Geschäftsentwicklung der großen Strafkammern beim Landgericht München in den Jahren 2006-
2013 beigefügt waren, verwarf die Jugendkammer die eingelegte Haftbeschwerde als
unbegründet. Durch die Eröffnung des Hauptverfahrens am 2. April 2014 könne eine Verletzung
des Beschleunigungsgebotes nicht mehr begründet werden. Angesichts der Vielzahl der von der
Kammer im Kalenderjahr 2014 zu bewältigenden Verfahren - der Beschluss listet im Einzelnen
auf, mit welchen Hauptverhandlungen die Kammer im Kalenderjahr 2014 bislang befasst war
und in den nächsten Monaten befasst sein wird - sei eine frühere Terminierung als auf Oktober
2014 nicht möglich. Der Ablauf der in diesem Jahr bisher durchgeführten Hauptverhandlungen -
wie der noch anstehenden bereits festgesetzten Termine - zeige, dass es der Jugendkammer
aufgrund der besonderen Belastung nicht möglich sei, das Verfahren gegen den
Beschwerdeführer früher durchzuführen. Die Jugendkammer habe, wie sich aus den dem
Beschluss beigefügten Statistiken über den Geschäftsanfall seit dem Jahr 2006 ergebe, in der
Vergangenheit regelmäßig innerhalb des Gerichts die meisten Sitzungstage abgehalten. Allein
dem überobligatorischen Einsatz verschiedener Richter und Richterinnen der Kammer sei dabei
die Bewältigung des bisherigen Pensums zu verdanken. In den Jahren 2006 bis 2013 sei die
Kammer mit einem Vorsitzenden, einem Vollzeitrichter und zwei Halbtagsrichterinnen besetzt
gewesen. Seit dem 1. Dezember 2013 verfüge die Kammer jedoch über zwei Vollzeitrichter als
Beisitzer. In der Vielzahl von Verfahren, bei denen die Kammer nach § 76 GVG in
Dreierbesetzung zu verhandeln habe, führe dies dazu, dass während des Sitzungsdienstes
keinerlei Büroarbeit mehr erledigt werden könne.
6
Angesichts dieser Lage sei die Kammer in der Vergangenheit auf entsprechende
Überlastungsanzeigen hin gelegentlich entlastet worden. Derzeit werde die Kammer vom 10.
Februar 2014 bis zum 10. Mai 2014 von Haftsachen sowie erstinstanzlichen Verfahren, die keine
Schwurgerichtsverfahren seien, entlastet. Dies habe bislang zur Entlastung mit gerade einem
Verfahren geführt.
7
Bei dieser Konstellation und Belastung sei es der Jugendkammer nicht länger zuzumuten, jede
Woche an mehreren Tagen eine Hauptverhandlung durchzuführen. Zusammengefasst sei aus
Sicht der Kammer eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes aus den konkreten Umständen
heraus nicht herleitbar, weshalb sich die Haftbeschwerde als unbegründet erweise.
8
Gegen diesen Beschluss der Jugendkammer legte der Beschwerdeführer unter dem 14. Mai
2014 weitere Beschwerde ein.
9
Mit Verfügung vom 4. Juni 2014 hob die Jugendkammer die zunächst für Oktober anberaumten
Hauptverhandlungstermine auf und bestimmte neue Hauptverhandlungstermine auf den 9., 10.,
19. und 22. September 2014.
10
Mit angegriffenem Beschluss vom 10. Juni 2014 ordnete das Oberlandesgericht München im
Rahmen der zweiten Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO erneut die Fortdauer der
Untersuchungshaft des Beschwerdeführers an; dadurch habe sich die weitere Beschwerde des
Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 29. April 2014
erledigt. Die Haftfortdauer stehe auch nach knapp 10-monatiger Dauer der Untersuchungshaft
nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der dem Angeklagten drohenden
Freiheitsstrafe. Insbesondere werde dem in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebot
gerade noch entsprochen. Die Jugendkammer habe die am 29. Januar 2014 erhobene Anklage
mit Eröffnungsbeschluss vom 2. April 2014 unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen. Eine
Verzögerung sei damit jedenfalls bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens nicht eingetreten. Auch
die Zeitspanne bis zum Beginn der Hauptverhandlung am 9. September 2014 stelle noch keine
der Justizverwaltung anzulastende Verletzung des Beschleunigungsgebotes dar, zumal der
ursprüngliche Hauptverhandlungsbeginn inzwischen um fünf Wochen vorverlegt worden sei.
Zwar sei die zuständige Jugendkammer merklich überlastet, was sich über einen längeren
Zeitraum aufgebaut habe; hierzu habe die Änderung der gesetzlichen Regelung des § 76 GVG,
die seit 1. Januar 2012 deutlich häufiger eine Hauptverhandlung in der Besetzung mit drei
Berufsrichtern verlange, wesentlich beigetragen, ohne dass die Justizverwaltungen den
Mehrbedarf sofort durch entsprechende zusätzliche Neueinstellungen von Richtern hätten
kompensieren können. Vor diesem Hintergrund habe das Präsidium des Landgerichts München
l im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden beschränkten Mittel im vorliegenden Fall mit
mehrfachen periodischen Verfahrensumverteilungen auf andere Strafkammern noch
ausreichend auf die sich zuspitzende Belastungssituation der Jugendkammer reagiert. Dass die
letzte dreimonatige Entlastung der Jugendkammer um sämtliche neu eingehende
Berufungsverfahren effektiv nur zur Entlastung um ein Verfahren geführt habe, sei nicht
vorhersehbar gewesen. Darüber hinaus habe das Präsidium jedoch auch auf die vermehrte
Notwendigkeit einer Hauptverhandlung in Dreierbesetzung reagiert und der Jugendkammer seit
dem 1. Dezember 2013 statt einer Vollzeitkraft und zweier Teilzeitkräfte zwei Vollzeitrichter als
Beisitzer zugewiesen, um die geforderte Verhandlungsdichte besser zu gewährleisten. Unter
Berücksichtigung dessen und der Vorverlegung des Hauptverhandlungstermins auf den 9.
September 2014 sei die - ohne Zweifel lange - Zeitspanne bis zum Beginn der
Hauptverhandlung aufgrund der detailliert dargestellten Ausbuchung der Kammer mit
Hauptverhandlungen, die durch weitere Entlastungsmaßnahmen nicht zu ändern sei, als eine
noch nicht der Justiz zuzurechnende unvertretbare Verzögerung anzusehen, die eine Fortdauer
der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers verböte.
II.
11
Mit seiner am 27. Juni 2014 gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 29. April
2014 und den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 10. Juni 2014 erhobenen
Verfassungsbeschwerde, die er mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
verbunden hat, rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Freiheitsrechts gemäß Art. 2
Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.
12
Dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen sei in der Regel nur Rechnung getragen, wenn
innerhalb von drei Monaten nach Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Hauptverhandlung
begonnen werde. Angesichts der jetzt terminierten Hauptverhandlung werde sich der
Beschwerdeführer bei deren Beginn ein Jahr und drei Wochen ununterbrochen in
Untersuchungshaft befunden haben. Zwischen der Eröffnungsreife, die der Beschwerdeführer für
den 19. Februar 2014 annimmt, bis zur Hauptverhandlung liege ein Zeitraum von beinahe
sieben Monaten. Selbst zwischen der Eröffnung des Hauptverfahrens am 2. April 2014 und dem
Beginn der Hauptverhandlung betrage der Verfahrensstillstand mehr als fünf Monate. Dieser
lasse sich auch durch die außerordentliche Belastung der Jugendkammer nicht rechtfertigen.
Dies gelte umso mehr bei Anlegung objektiver Kriterien, zumal sich der Beschwerdeführer
bereits im Ermittlungsverfahren weitgehend geständig eingelassen und auch sonst keine
Einwendungen vorgebracht oder Beweiserhebungen beantragt habe.
III.
13
Das Bayerische Staatsministerium für Justiz hat von einer Stellungnahme abgesehen.
14
Der Generalbundesanwalt vertritt in seiner Stellungnahme die Auffassung, der
Verfassungsbeschwerde könne der Erfolg nicht versagt werden. Es fehle an einer tragfähigen
Begründung für die Fortdauer der Untersuchungshaft.
15
Dem Bundesverfassungsgericht haben die nach Anklageerhebung fortgeführten Akten des
Ausgangsverfahrens vorgelegen.
B.
16
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c
Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.
17
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Grundrechte des
Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwer- de maßgeblichen verfassungsrechtlichen
Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
I.
18
Der Beschluss des Landgerichts München I vom 29. April 2014 und der Beschluss des
Oberlandesgerichts München vom 10. Juni 2014 verletzen den Beschwerdeführer in seinem
Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.
19
Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist stets das
Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des
Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen
Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit
entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der
Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch
in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist (vgl. BVerfGE 19, 342 <347>; 74, 358
<370 f.>), nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung
aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der
Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv
gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche
Bedeutung zukommt (vgl. grundlegend BVerfGE 19, 342 <347> sowie BVerfGE 20, 45 <49 f.>;
36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>; BVerfGK 15, 474 <479>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des
Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 - 2 BvR 2248/13 u.a. -, juris, Rn. 32).
20
Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des
Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung
(vgl. BVerfGE 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>). Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen
an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum
anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu
(vgl. BVerfGK 7, 140 <161>; 15, 474 <480>; 19, 428 <433>).
21
Die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte müssen daher alle möglichen und zumutbaren
Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit
abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten
vorgeworfenen Taten herbeizuführen. So ist im Falle der Entscheidungsreife über die Zulassung
der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des
Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2781/10 -, juris, Rn. 15) und anschließend im Regelfall
innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen (vgl. BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. November 2012 - 2 BvR 1164/12 -, juris,
Rn. 43).
22
Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der
Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt
werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache
nicht in dem konkreten Strafverfahren haben und daher von dem Beschuldigten nicht zu
vertreten, sondern vermeidbar und sachlich nicht gerechtfertigt sind (vgl. BVerfGK 15, 474
<480>; m.w.N.). Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere
Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere
der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen aber bei erheblichen,
vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur
Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen (BVerfGK
7, 140 <156>).
23
Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die
Anordnung der Haftfortdauer sein (vgl. BVerfGE 36, 264 <273 ff.>). Vielmehr kann die nicht nur
kurzfristige Überlastung eines Gerichts selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht
rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller
gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen
bewältigen lässt (BVerfGE 36, 264 <273 ff.>). Die Überlastung eines Gerichts fällt - anders als
unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse - in den Verantwortungsbereich der
staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zu- gemutet werden, eine
längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf
zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der
Gerichte zu genügen (BVerfGE 36, 264 <275>).
24
Im Rahmen der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung zwischen dem
Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die
Angemessenheit der Haftfortdauer anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu
prüfen; insofern sind in erster Linie die Komplexität der einzelnen Rechtssache, die Vielzahl der
beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung (vgl. BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 - 2 BvR 2248/13 u.a. -, juris,
Rn. 37). Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der
Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils wird dabei auch unter Berücksichtigung der
genannten Aspekte nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein (vgl. BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07 -, juris, Rn.
45 und der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2008 - 2 BvR 806/08 -, juris, Rn. 36).
25
Da der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist (vgl. hierzu
BVerfGE 53, 30 <65>; 63, 131 <143>), unterliegen Haftfortdauerentscheidungen insofern einer
erhöhten Begründungstiefe (vgl. BVerfGE 103, 21 <35 f.>; BVerfGK 7, 140 <161>; 10, 294
<301>; 15, 474 <481>; 19, 428 <433>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats
vom 22. Januar 2014 - 2 BvR 2248/13 u.a. -, juris, Rn. 38). In der Regel sind in jedem Beschluss
über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem
weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht
des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der
Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des
Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können (vgl. BVerfGK 7, 140 <161>; 10, 294
<301>; 15, 474 <481>; 19, 428 <433>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats
vom 22. Januar 2014 - 2 BvR 2248/13 u.a. -, juris, Rn. 38). Die zugehörigen Ausführungen
müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung
treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und
nachvollziehbar sein (vgl. BVerfGK 7, 421 <429 f.>; 8, 1 <5>; 15, 474 <481 f.>; BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 - 2 BvR 2248/13 u.a. - , juris,
Rn. 39).
II.
26
Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht. Sie enthalten keine
verfassungsrechtlich tragfähige Begründung für die Anordnung der Fortdauer der
Untersuchungshaft.
27
1. Bereits die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts verkennt Inhalt und Tragweite der
verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Rechtfertigung einer Fortdauer von Untersuchungshaft,
indem sie ausschließlich auf die Auslastung der Kammer abstellt. Die Begründung einer
Haftfortdauerentscheidung allein durch die Dokumentation des Geschäftsanfalls der großen
Strafkammern bei dem Landgericht München I seit dem Jahr 2006 ist in jeder Hinsicht
sachfremd. Die geschilderte Personalsituation am Landgericht München I steht in keinem
Zusammenhang zu den Erwägungen, die für eine zu treffende Haftfortdauerentscheidung
maßgeblich sein dürfen. Die als unzureichend empfundene personelle Ausstattung eines
Gerichts vermag eine längere als die verfahrensangemessene Untersuchungshaft eines
Beschuldigten in keinem Fall zu rechtfertigen. Kann dem verfassungsrechtlichen
Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht Rechnung getragen werden, weil der Staat seiner
Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte nicht nachkommt, haben die mit der
Haftprüfung betrauten Fachgerichte die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zu
ziehen, indem sie die Haftentscheidung aufheben; ansonsten verfehlen sie die ihnen obliegende
Aufgabe, den Grundrechtsschutz der Betroffenen zu verwirklichen (vgl. BVerfGK 6, 384 <397>).
28
2. Auch der im Rahmen der zweiten Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO ergangene Beschluss
des Oberlandesgerichts führt keine verfassungsrechtlich tragfähigen Gründe für die Anordnung
der Fortdauer der Untersuchungshaft an.
29
Das Verfahren ist, unabhängig davon, ob wegen bereits davor eingetretener Eröffnungsreife
sogar auf einen früheren Zeitpunkt als auf den 2. April 2014 - dem Datum des
Eröffnungsbeschlusses - abzustellen wäre, nicht in der durch das Gewicht des Freiheitseingriffs
gebotenen Zügigkeit mit einem Beginn der Hauptverhandlung binnen drei Monaten nach
Eröffnung des Hauptverfahrens gefördert worden. Darüber hinaus wird sich der
Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des geplanten Beginns der Hauptverhandlung im September
2014 schon deutlich länger als ein Jahr in Untersuchungshaft befunden haben. Vor diesem
Hintergrund ist eine Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nur ausnahmsweise möglich; ihre
Fortdauer hätte daher besonders sorgfältig begründet werden müssen.
30
Indes zeigt der Beschluss keine besonderen - objektiven - Umstände auf, welche die Anordnung
der Fortdauer der Untersuchungshaft ausnahmsweise verfassungsrechtlich hinnehmbar
erscheinen lassen könnten. Er wird damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die
Begründung von Haftfortdauerentscheidungen nicht gerecht.
31
(a) Die Ausführungen des Oberlandesgerichts, die auf Änderungen des
Gerichtsverfassungsgesetzes abstellen, die zudem bereits im Jahre 2012 in Kraft getreten sind,
lassen von vornherein keinen spezifischen Zusammenhang zu der zu treffenden
Haftfortdauerentscheidung erkennen. Eine Änderung der allgemeinen Vorschriften über die
Besetzung der großen Strafkammern in § 76 GVG stellt keine Besonderheit eines konkreten
Strafverfahrens dar, erst recht keine, die dem Beschwerdeführer zuzurechnen wäre.
32
(b) Soweit das Oberlandesgericht ausführt, die Fortdauer der Untersuchungshaft sei trotz ihrer
langen Dauer deswegen nicht zu beanstanden, weil das Präsidium des Landgerichts München I
im Rahmen seiner Möglichkeiten auf die sich zuspitzende Belastungssituation der
Jugendkammer reagiert habe, stellt dies ebenfalls keinen verfassungsrechtlich tragfähigen
Grund für die Haftfortdauer dar. Allenfalls kurzfristige, unvermeidbare und unvorhersehbare
Belastungssituationen eines Gerichts wären im Einzelfall geeignet, eine Verzögerung in der
Verfahrensförderung zu rechtfertigen. Diese Voraussetzungen lassen sich dem Beschluss des
Oberlandesgerichts jedoch nicht entnehmen. Seine Ausführungen sprechen vielmehr dafür, dass
sich die Überlastungssituation schon über längere Zeit aufgebaut hat. Eine solche Überlastung
des Gerichts fällt in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft; sie ist
dem Beschwerdeführer in keinem Fall zuzurechnen.
33
(c) Auch auf die Schwere der Tat kann hier für die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht
abgestellt werden. Es hätte einer eingehenden Begründung bedurft, inwieweit allein die
Schwere des Tatvorwurfes im vorliegenden Fall eine deutlich längere Verfahrens- und damit
auch Untersuchungshaftdauer erfordert, die das Oberlandesgericht indes vermissen lässt. Dies
gilt umso mehr, als es sich ersichtlich um einen insgesamt einfach gelagerten Fall handelt.
Infolge des weitgehenden Geständnisses des Beschwerdeführers ist der Sachverhalt,
abgesehen von Randfragen und der Feststellung seiner Schuldfähigkeit durch ein in der
Hauptverhandlung zu erstattendes Sachverständigengutachten, im Wesentlichen bereits geklärt.
Es ist nicht erkennbar, dass umfangreiche Beweiserhebungen zu erwarten sind; entsprechende
Anträge hat der Beschwerdeführer jedenfalls bislang nicht gestellt.
III.
34
Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch die
angegriffenen Beschlüsse festzustellen.
35
Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 10. Juni 2014 ist unter Zurückverweisung
der Sache an das Oberlandesgericht aufzuheben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).
Dieses wird unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen erneut über die Haftfortdauer zu
entscheiden haben.
IV.
36
Mit der Entscheidung in der Hauptsache erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung.
V.
37
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
VI.
38
Der nach § 37 Abs. 2 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit im
Verfassungsbeschwerdeverfahren beträgt mindestens 5.000 € (in Worten: Fünftausend Euro)
und, wenn - wie hier - die Verfassungsbeschwerde aufgrund einer Entscheidung der Kammer
Erfolg hat, in der Regel 10.000 € (in Worten: Zehntausend Euro). Weder die objektive Bedeutung
der Sache noch Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weisen Besonderheiten
auf, die zu einer Abweichung Anlass geben.
Landau
Kessal-Wulf
König