Urteil des BVerfG vom 11.07.2007

BVerfG: körperliche unversehrtheit, einstellung des verfahrens, recht auf leben, gefahr, verfassungsbeschwerde, zwangsvollstreckung, grundrecht, erlass, zuschlagserteilung, wohnung

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 501/07 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau D...,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Brand, Decker, Mische,
Humboldtstraße 4, 34117 Kassel -
gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 31. Januar 2007 - 81 T 1003/06 -
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter
Bryde,
Eichberger,
Schluckebier
am 11. Juli 2007 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 31. Januar 2007 - 81 T 1003/06 - verletzt die Beschwerdeführerin
in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an das Landgericht Berlin zurückverwiesen.
3. Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
4. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde und der damit verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffen
die Frage der Berücksichtigung einer im Zuge des Zwangsversteigerungsverfahrens in der Person der
Beschwerdeführerin als Vollstreckungsschuldnerin aufgetretenen Suizidgefahr, die nach der Erteilung des Zuschlages
erstmals mit der dagegen gerichteten sofortigen Beschwerde geltend gemacht wurde.
I.
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1. Die Beschwerdeführerin bewohnt ein - bis zur Zuschlagserteilung im Zwangsversteigerungsverfahren in ihrem
Eigentum stehendes - Haus in Berlin, in das wegen offener Forderungen gegen sie die Zwangsvollstreckung betrieben
wurde. Sie stellte zunächst einen Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO, den sie mit der
Gefahr einer Zwangsversteigerung weit unter dem tatsächlichen Wert des Anwesens begründete. Das Amtsgericht
wies den Antrag zurück und erließ zugleich den Zuschlagsbeschluss. Hiergegen erhob die Beschwerdeführerin
sofortige Beschwerde. Zur Begründung trug sie nun unter Vorlage der Bescheinigung eines Facharztes für Neurologie
und Psychiatrie, an den sie ausweislich des vorgelegten Attestes „notfallmäßig“ überwiesen worden war, erstmals vor,
die weitere Durchführung des Zwangsversteigerungsverfahrens sei mit einer ernsthaften Gefahr für ihr Leben
verbunden. Im Falle der Aufrechterhaltung der Zuschlagserteilung bestehe akute Suizidgefahr.
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Das Amtsgericht half der sofortigen Beschwerde ab, hob den Zuschlagsbeschluss auf und stellte das
Zwangsversteigerungsverfahren für die Dauer von sechs Monaten ein. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde
der Vollstreckungsgläubigerin und desjenigen, dem der Zuschlag erteilt worden war, hatte Erfolg: Das Landgericht hob
die Abhilfeentscheidung des Amtsgerichts auf und stellte den vorhergehenden Zustand wieder her.
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Zur Begründung führte das Landgericht aus, der Abhilfebeschluss des Amtsgerichts sei aufzuheben, ohne dass es
auf das neue Vorbringen der Beschwerdeführerin ankomme. Der Abhilfeentscheidung des Amtsgerichts stehe bereits
§ 100 Abs. 1 ZVG entgegen, da kein Zuschlagsversagungsgrund vorgelegen habe und keine der in § 83 ZVG
genannten Vorschriften verletzt worden sei. Mit dem Vorbringen zu ihrer Suizidgefährdung habe die
Beschwerdeführerin einen neuen Vollstreckungsschutzantrag nach § 765a ZPO gestellt und nicht einen bereits zuvor
gestellten Antrag nachträglich mit weiteren Gründen versehen. Ein neuer Antrag könne aber mit der
Zuschlagsbeschwerde nicht angebracht werden.
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2. Mit ihrer gegen diesen Beschluss des Landgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt die
Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 GG. Das
Landgericht habe sich - aufgrund seiner unzutreffenden Beurteilung der Rechtslage - mit ihrem Vorbringen in der
Sache nicht auseinander gesetzt und deswegen die durch die Zwangsvollstreckung hervorgerufene Gefahr für ihr
Leben nicht in Betracht gezogen. Der aus dem Zuschlag Begünstigte (Ersteher) hält die Verfassungsbeschwerde für
unbegründet.
II.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte
der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b). Die Voraussetzungen für eine stattgebende
Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG): Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind geklärt (vgl.
BVerfGE 52, 214), und die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.
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Die angegriffene Entscheidung wird dem Grundrecht der Beschwerdeführerin auf Leben und körperliche
Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht gerecht.
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1. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet auch die Vollstreckungsgerichte, bei der Auslegung und
Anwendung der vollstreckungsrechtlichen Verfahrensvorschriften der Wertentscheidung des Grundgesetzes Rechnung
zu tragen und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. In
besonders gelagerten Einzelfällen kann dies dazu führen, dass die Vollstreckung aus einem vollstreckbaren Titel für
einen gewissen, auch längeren Zeitraum einzustellen ist. Das gilt jedenfalls dann, wenn ein schwerwiegender Eingriff
in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG konkret zu besorgen ist und eine an dem Prinzip der
Verhältnismäßigkeit orientierte Abwägung zwischen den widerstreitenden, grundrechtlich geschützten Interessen der
an der Vollstreckung Beteiligten zu einem Vorrang der Belange des Schuldners führt (vgl. BVerfGE 52, 214 <220>).
Die Vollstreckungsgerichte haben in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit
Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen tunlichst ausgeschlossen werden und dadurch der
sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge
getan wird (vgl. BVerfGE 52, 214 <220 f.>).
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Ob dies geschehen ist, hat das Bundesverfassungsgericht zu überprüfen, auch wenn die Auslegung und Anwendung
der einfachgesetzlichen Vorschriften in erster Linie der Entscheidung der Fachgerichte anheim gegeben ist (vgl.
BVerfGE 52, 214 <219>).
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2. Daran gemessen trägt die angegriffene Entscheidung mit der gegebenen Begründung dem Grundrecht der
Beschwerdeführerin auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht hinreichend
Rechnung.
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Das Landgericht zieht die von der Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren erstmals vorgetragene Suizidgefahr
ausdrücklich nicht in Erwägung und erachtet sie als rechtlich unerheblich. Dabei übersieht es, dass bereits nach der
neueren, in Abgrenzung zu einer früheren Entscheidung (BGHZ 44, 138) ergangenen Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs die ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Schuldners wegen der Zwangsversteigerung seiner
Immobilie zur Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses und zur einstweiligen Einstellung des Verfahrens auch dann
führen kann, wenn sich die Gefahr erst nach dem Zuschlagsbeschluss während des Beschwerdeverfahrens auf Grund
zu Tage tretender neuer Umstände ergibt (so BGH NJW 2006, S. 505 mit Besprechung von Beyer ZfIR 2006, S. 535;
K. Schmidt JuS 2006, S. 564). In diesem Zusammenhang spielt es keine Rolle, ob - wie hier - die auf den
Zuschlagsbeschluss zurückzuführende Gefahr der Selbsttötung sich erstmals nach seinem Erlass gezeigt hat oder ob
sie - wie in dem der zitierten Entscheidung zugrunde liegenden Fall - latent bereits vor dessen Erlass vorhanden war
und sich durch den Zuschlag im Rahmen eines dynamischen Geschehens weiter vertieft hat.
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Daher ist die vom Landgericht angeführte Erwägung, bei dem Vorbringen der Beschwerdeführerin handele es sich
um einen neuen Antrag nach § 765a ZPO und nicht um die zusätzliche Begründung eines bereits zuvor gestellten
Antrags, nicht nur einfachrechtlich unzutreffend. Die fehlende inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der
Beschwerdeführerin zu einer möglichen Suizidgefahr wird zudem der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht der
Vollstreckungsorgane aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unter den hier gegebenen besonderen Umständen nicht gerecht.
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In der Regel wird zwar die bloße Geltendmachung einer suizidalen Gefährdung, auch wenn sie ärztlich attestiert ist,
nicht zu einer Aussetzung des Zuschlagsverfahrens zwingen. Eine solche, erhebliche Suizidgefahr, die schon auf die
Zuschlagserteilung selbst und nicht erst auf eine sich daran anschließende etwaige Räumungsvollstreckung
zurückzuführen ist, erscheint grundsätzlich eher unwahrscheinlich. Denn von dem Verlust der Rechtsposition des
Eigentümers geht naturgemäß zumeist kein so gewichtiger Einschnitt für die Lebensführung des
Vollstreckungsschuldners aus, wie das bei dem bevorstehenden Verlust der Wohnung der Fall ist. Dennoch war das
Landgericht hier gehalten, dem Vortrag der Beschwerdeführerin nachzugehen. Zum Beleg ihrer Behauptung hatte sie
eine aktuell erstellte, im Laufe des Beschwerdeverfahrens durch eine weitere Bescheinigung bestätigte Einschätzung
ihres Gesundheitszustandes durch einen Facharzt für Neurologie und Psychiatrie vorgelegt. Diesen hatte die
Beschwerdeführerin nicht aus eigener Initiative aufgesucht. Vielmehr war sie dem klinisch tätigen Psychiater durch
den Leiter der internistischen Abteilung einer anderen großen Klinik - ausweislich der fachärztlichen Bescheinigung -
„notfallmäßig“ zugewiesen worden. Bei dieser Sachlage durfte das Landgericht über die dargelegte und belegte
Suizidgefahr nicht hinweggehen. Es hätte sie vielmehr in seine Prüfung einbeziehen müssen (vgl. § 83 Nr. 6, § 100
Abs. 3 ZVG; BGH NJW 2006, S. 505 <507>).
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3. Die angegriffene Entscheidung ist daher - auch unter Berücksichtigung des Vortrags des Erstehers (§ 95 Abs. 2
BVerfGG; vgl. BVerfGE 89, 381 <393 ff.>) - aufzuheben. Bei der nunmehr vorzunehmenden Würdigung des
Vorbringens der Beschwerdeführerin wird das Landgericht zunächst zu klären haben, ob - wie unter Vorlage der
fachärztlichen Bescheinigung behauptet - eine konkrete Suizidgefahr der Beschwerdeführerin besteht (vgl.
insbesondere BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juni 2005 - 1 BvR 224/05 -, JURIS).
Zudem wird zu klären sein, ob gerade der Eigentumsverlust durch den Zuschlag sich als maßgeblicher Grund für die
behauptete Suizidgefahr erweist, oder ob diese vornehmlich auf eine bevorstehende Räumung des Anwesens und den
Verlust der Wohnung zurückzuführen ist (vgl. BGH NJW 2006, S. 505). Dabei wird das Landgericht neben dem
Umstand, dass es sich bei einer auf den Zuschlagsbeschluss zurückzuführenden Suizidgefahr um eine Ausnahme
handelt, auch in Betracht zu ziehen haben, dass die weiteren im Verlauf des zwischenzeitlich betriebenen
Räumungsvollstreckungsverfahrens von der Beschwerdeführerin vorgelegten fachärztlichen Bescheinigungen
maßgeblich auf die Räumung und nicht auf den Zuschlagsbeschluss als Ursache für die Gefährdung der
Beschwerdeführerin abstellen. Nur für den Fall, dass beide Fragen zugunsten der Beschwerdeführerin bejaht werden
können, hat sich im Hinblick auf die Zuschlagserteilung eine umfassende, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
orientierte Würdigung der Gesamtumstände anzuschließen, die sowohl den dem Schuldner in der
Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechten als auch den gewichtigen, ebenfalls grundrechtlich geschützten
Interessen der anderen Beteiligten des Zwangsversteigerungsverfahrens Rechnung trägt (vgl. BVerfGE 52, 214
<219 f.>; BGHZ 163, 66; BGH NJW 2006, S. 508). Im Rahmen dieser gegebenenfalls vorzunehmenden Abwägung
wäre zugleich zu prüfen, ob der Gefahr nicht auf andere Weise als durch die Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses
und eine vorübergehende Einstellung der Zwangsvollstreckung begegnet werden kann (vgl. BGHZ 163, 66 zu einer
durch Zwangsräumung hervorgerufenen Suizidgefahr).
Bryde
Eichberger
Schluckebier