Urteil des BVerfG vom 03.03.2004

BVerfG: wiedereinsetzung in den vorigen stand, zulässigkeit der auslieferung, anspruch auf rechtliches gehör, verfassungsbeschwerde, strafverfahren, persönliche freiheit, staatliches handeln

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 26/04 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des serbischen Staatsangehörigen
L... ,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte H.-Jürgen Borowsky und Koll.,
Zeil 29-31, 60313 Frankfurt am Main -
gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 9. Dezember 2003 – 2
Ausl. A 9/03 -
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter
Broß,
Di Fabio
und Gerhardt
gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93b Satz 1, 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 3. März 2004 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 9. Dezember 2003 - 2 Ausl. A 9/03 - verletzt
den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 und Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit
Artikel 25 des Grundgesetzes, soweit in ihm die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt wird.
Er wird insoweit aufgehoben. Die Sache wird insoweit zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht
zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
2. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
3. Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Verfahren der
Verfassungsbeschwerde zur Hälfte zu erstatten.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine Auslieferung nach Italien zum Zwecke der Vollstreckung eines in
Abwesenheit des Verurteilten ergangenen Strafurteils.
I.
2
1. Auf Grund eines Ersuchens der italienischen Behörden wurde gegen den Beschwerdeführer mit Beschluss des
Oberlandesgerichts vom 23. Januar 2003 vorläufige Auslieferungshaft angeordnet. Das Landgericht in Bologna habe
gegen ihn eine Freiheitsstrafe von acht Jahren verhängt, weil er sich in der Zeit von Februar bis Mai 1997 in Italien
zusammen mit anderen der Zuhälterei, Nötigung und Bedrohung schuldig gemacht habe.
3
Mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 12. Februar 2003 machte er geltend, dass seine Auslieferung
unzulässig sei. Von dem in Italien gegen ihn geführten Strafverfahren sei er nicht unterrichtet gewesen, insbesondere
sei ihm weder ein Hauptverhandlungstermin noch ein Urteil bekannt geworden. Er habe sich nämlich seit Juli 1999 in
Deutschland in Untersuchungshaft befunden. Bei dieser Sachlage sei eine Erklärung nach Art. 3 des Zweiten
Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen - 2. ZP-EuAlÜbk - erforderlich, dass dem
Beschwerdeführer das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren gewährleistet werde. Eine solche Zusicherung liege
nicht vor.
4
Auf die Beschlüsse des Oberlandesgerichts vom 21. März und 31. Juli 2003, mit denen es den italienischen
Behörden Gelegenheit gab, eine Stellungnahme bezüglich der Kenntnis des Beschwerdeführers von dem gegen ihn in
Italien durchgeführten Strafverfahren abzugeben, erklärten diese, der Beschwerdeführer sei unmittelbar nach der am
28. Februar 1997 erfolgten Festnahme der Mitbeschuldigten untergetaucht. Am 22. Juli 1997 habe sich herausgestellt,
dass der Beschwerdeführer unauffindbar sei. Der gegen ihn am 18. Juni 1997 erlassene Haftbefehl habe nicht
vollstreckt werden können, weil er aus Italien abgereist und nach Bosnien zurückgekehrt gewesen sei. Hieraus ergebe
sich die legitime Annahme, dass er geflüchtet sei, um sich den Ermittlungen zu entziehen, nachdem er Kenntnis von
den bereits vorgenommenen Festnahmen und den zu seinen Lasten erlangten Beweiselementen erhalten habe. Da er
flüchtig gewesen sei, sei er persönlich weder über die Einleitung des Verfahrens noch über den Beginn der
Strafverfolgung und ebenso wenig über die Ladungen zu den Verhandlungen sowie das Urteil jemals informiert worden.
Das Hauptverfahren sei in seiner Abwesenheit durchgeführt worden. Alle Maßnahmen seien jedoch seinem Verteidiger
mitgeteilt worden. In jeder Phase des Prozesses sei ein Pflichtverteidiger anwesend gewesen. Dieser habe Berufung
gegen die Verurteilung eingelegt, die als unzulässig zurückgewiesen worden sei. Es lägen keine Kenntnisse über
eventuelle Kontakte des Beschwerdeführers mit seinem Pflichtverteidiger vor.
5
Hierzu erklärte der Beschwerdeführer, er habe keinen Kontakt zu seinem Pflichtverteidiger gehabt und ihm auch
nicht den Auftrag für die Einlegung der Berufung gegeben. Er sei seinerzeit in Deutschland in Untersuchungshaft
gewesen. Er sei auch nicht nach der Festnahme der Mitbeschuldigten "untergetaucht", d.h. in der Absicht geflohen,
den Fortgang eines Strafverfahrens zu verhindern oder zu erschweren. Tatsachen, die eine solche Feststellung
begründen könnten, seien nicht vorgetragen worden. Zur Zeit der Festnahme der Mitbeschuldigten im Februar 1997
habe er sich in Bosnien-Herzegowina aufgehalten, wofür er mehrere Unterlagen als Beleg vorlegte. Nach Verkündung
des Auslieferungshaftbefehls habe sein Bevollmächtigter sofort Kontakt zu einer Rechtsanwältin in Italien
aufgenommen, die ihm erklärt habe, dass er im Wiedereinsetzungsantrag nachweisen müsse, dass er keine Kenntnis
von dem Verfahren gehabt habe, diese Unkenntnis nicht auf Verschulden beruhe und er sich nicht bewusst der
Kenntnis des Verfahrens entzogen habe, was eine umfangreiche Darlegung erfordere. Für ein solches Gesuch habe
sie einen Vorschuss verlangt, den er nicht habe aufbringen können. Außerdem habe er die geforderten Nachweise
nicht innerhalb der Frist von 10 Tagen beschaffen können, zumal er sich in Haft befunden habe. Sein
Bevollmächtigter habe mit einem anderen italienischen Rechtsanwalt Kontakt aufgenommen, der ebenfalls mitgeteilt
habe, dass ein Antrag, mit dem der Beschwerdeführer lediglich behaupte, er habe keine Kenntnis von dem Verfahren
gehabt, nicht den Erfordernissen der italienischen Strafprozessordnung genüge. Der Anwalt habe sich geweigert,
einen solchen Antrag einzureichen, weil er ihn für zwecklos gehalten habe.
6
Am 12. Juli 2003 beantragte eine vom Beschwerdeführer als Verteidigerin beauftragte italienische Rechtsanwältin
beim Landgericht Bologna festzustellen, dass der Eintritt der Rechtskraft des Urteils des Landgerichts vom 12. Juli
2000 nicht erfolgt und demzufolge der Haftbefehl nicht vollstreckbar sei. Hilfsweise beantragte sie Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand nach Art. 175 der italienischen Strafprozessordnung. Zur Begründung berief sie sich darauf, dass
der Beschwerdeführer als im Ausland Inhaftierter seine Verteidigungsrechte nicht habe wahrnehmen können. Ort und
Zeitraum der Inhaftierung könnten ohne weiteres den Akten des Auslieferungsverfahrens entnommen oder durch eine
Anfrage bei der ausländischen Strafvollzugsbehörde in Erfahrung gebracht werden.
7
Auf Nachfrage teilten die italienischen Justizbehörden dazu mit, die Verhandlung über die vom Verteidiger des
Beschwerdeführers eingelegte Einrede im Vollstreckungsverfahren sei noch nicht festgesetzt worden. Demzufolge sei
das in Abwesenheit verkündete Urteil nach wie vor rechtskräftig und vollstreckbar.
8
Daraufhin erklärte das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 9. Dezember 2003 die Auslieferung des
Beschwerdeführers für zulässig und ordnete die Fortdauer der Auslieferungshaft an. Der Zulässigkeit der Auslieferung
stehe nicht entgegen, dass sie zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils erfolgen solle. Dabei könne offen bleiben,
ob es sich um einen so genannten Fluchtfall handele. Der Beschwerdeführer habe nämlich im vorliegenden Fall
konkret die Möglichkeit gehabt, sich nach Erlangung der Kenntnis von der Verurteilung in Italien rechtliches Gehör zu
verschaffen und sich wirksam zu verteidigen. Wegen der Beweislastregeln und der kurzen Frist von zehn Tagen ab
Erlangung der Kenntnis von dem Urteil, innerhalb derer der Verfolgte den Antrag auf Wiedereinsetzung bei dem
italienischen Gericht stellen müsse, dürfte das zwar nur ausnahmsweise der Fall sein (vgl. BGH NStZ 2002, S. 166).
Ein solcher Ausnahmefall liege hier aber vor. Mit Bekanntmachung des Beschlusses vom 23. Januar 2003 über die
vorläufige Auslieferungshaft habe der Beschwerdeführer Kenntnis von der Verfolgung in Italien gehabt. Bereits mit
Schriftsatz vom 12. Februar 2003 habe sein Bevollmächtigter auf die Problematik des Abwesenheitsurteils
hingewiesen. Auch wenn er nach seinem Vorbringen den von einer Rechtsanwältin geforderten Vorschuss für ein
Wiedereinsetzungsgesuch in Italien nicht habe aufbringen können, sei es ihm unbenommen geblieben, selbst oder
durch seinen Verteidiger in Deutschland das Gesuch zumindest fristwahrend in Italien anzubringen. Das habe er nicht
getan. Er habe im vorliegenden Fall auch ohne größere Schwierigkeiten seine Nichtkenntnis von dem Urteil, das
Nichtverschulden seiner Unkenntnis und die Nichtentziehung von der Kenntnisnahme der Verfahrenshandlungen in
Italien nachweisen können, weil er seit Juli 1999 in Deutschland inhaftiert gewesen sei.
9
2. Der Beschwerdeführer rügt ausdrücklich die Verletzung von Art. 1, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 (gesetzlicher Richter)
und Art. 103 Abs. 1 GG sowie die Verletzung der völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandards und der
unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung und der Sache nach der Art. 2
Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 GG. Die vom Bundesverfassungsgericht formulierten Mindeststandards für das
Strafverfahren seien bei dem hier zu vollstreckenden Abwesenheitsurteil nicht eingehalten worden. Darüber hinaus
hätte das Oberlandesgericht nicht selbst entscheiden dürfen, sondern hätte die Sache gemäß § 42 IRG dem
Bundesgerichtshof vorlegen müssen, weil es von dessen Entscheidung vom 16. Oktober 2001 (NStZ 2002, S. 166 =
BGHSt 47, 120) abgewichen sei.
10
3. Dem Hessischen Ministerium der Justiz und dem Bundesministerium der Justiz wurde Gelegenheit zur
Stellungnahme gegeben.
II.
11
In dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an,
weil dies zur Durchsetzung eines der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist
(§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 BVerfGG liegen insoweit
vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht
bereits entschieden (vgl. BVerfGE 63, 332). Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts ist, soweit er die
Feststellung der Zulässigkeit der Auslieferung betrifft, unvereinbar mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik
Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen
Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung und verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1
und Abs. 2 Satz 2 GG.
12
1. Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie sich gegen die Zulässigkeitserklärung der Auslieferung richtet,
zulässig. Ihrer Zulässigkeit steht insbesondere nicht der sich aus § 90 Abs. 2 BVerfGG ergebende Grundsatz der
Subsidiarität entgegen, auch wenn der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG rügt. Zwar ist ein
Beschwerdeführer vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gehalten, mit Hilfe eines Antrags nach § 77 IRG in
Verbindung mit § 33a StPO die nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs zu den von ihm als übergangen
angesehenen
Gesichtspunkten
zu
erwirken
(vgl.
Beschluss
des
Vorprüfungsausschusses
des
Bundesverfassungsgerichts vom 23. November 1983 - 2 BvR 1575/83 -, NJW 1984, S. 559). Der Beschwerdeführer
hat hier aber nicht geltend gemacht, das Oberlandesgericht habe bestimmte Gesichtspunkte übergangen und dadurch
seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Er sieht dieses allein in der Mitwirkung an der Vollstreckung des
gegen ihn erlassenen Abwesenheitsurteils verletzt. In einem solchen Fall ist für ein Verfahren nach § 33a StPO kein
Raum.
13
2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet, soweit mit dem angegriffenen Beschluss die Auslieferung des
Beschwerdeführers für zulässig erklärt worden ist.
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a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben die deutschen Gerichte bei der Prüfung
der Zulässigkeit einer Auslieferung grundsätzlich die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens eines ausländischen
Strafurteils, zu dessen Vollstreckung der Verfolgte ausgeliefert werden soll, nicht nachzuprüfen. Sie sind indessen
nicht an der Prüfung gehindert - und unter Umständen von Verfassungs wegen dazu verpflichtet -, ob die Auslieferung
und ihr zu Grunde liegende Akte mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen
völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen
Ordnung vereinbar sind. Hierzu kann zumal Anlass bestehen, wenn ein ausländisches Strafurteil, zu dessen
Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 ff.>;
63, 332 <337> m.w.N.).
15
Nach deutschem Verfassungsrecht gehört es zu den elementaren Anforderungen des Rechtsstaats, die
insbesondere im Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht (Art. 103 Abs. 1 GG) Ausprägung gefunden
haben, dass niemand zum bloßen Gegenstand eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden darf;
auch die Menschenwürde des Einzelnen (Art. 1 Abs. 1 GG) wäre durch ein solches staatliches Handeln verletzt (vgl.
BVerfGE 7, 53 <57 f.>; 7, 275 <279>; 9, 89 <95>; 39, 156 <168>; 46, 202 <210>; 55, 1 <5 f.>; 63, 332 <337>).
Daraus ergibt sich insbesondere für das Strafverfahren, das zu den schwersten in allen Rechtsordnungen überhaupt
vorgesehenen Eingriffen in die persönliche Freiheit des Einzelnen führen kann, das zwingende Gebot, dass der
Beschuldigte im Rahmen der von der Verfahrensordnung aufgestellten, angemessenen Regeln die Möglichkeit haben
und auch tatsächlich ausüben können muss, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn
erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen, deren umfassende und erschöpfende
Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen (vgl. BVerfGE 41, 246 <249>; 46, 202 <210>;
54, 100 <116>; 63, 332 <337 f.>).
16
Der wesentliche Kern dieser Gewährleistungen gehört von Verfassungs wegen zum unverzichtbaren Bestand der
deutschen öffentlichen Ordnung, wie auch zum völkerrechtlichen Mindeststandard, der über Art. 25 GG einen
Bestandteil des in der Bundesrepublik Deutschland innerstaatlich geltenden Rechts bildet (vgl. BVerfGE 63, 332
<338>).
17
Der einschlägigen völkerrechtlichen Praxis ist indessen nicht zu entnehmen, dass die Durchführung strafrechtlicher
Abwesenheitsverfahren auch in Fällen gegen den völkerrechtlichen Mindeststandard verstieße, in denen der
Betroffene von dem gegen ihn anhängigen Verfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, sich ihm durch Flucht entzogen
hat und im Verfahren von einem ordnungsgemäß bestellten Pflichtverteidiger unter Beachtung rechtsstaatlicher
Mindestanforderungen verteidigt werden konnte (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 24. Januar 1991 - 2 BvR 1704/90 -, NJW 1991, S. 1411 m.w.N.).
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Eine Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen, in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils ist
bei Anlegung dieser Maßstäbe von Verfassungs wegen unzulässig, sofern der Verfolgte weder über die Tatsache der
Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Verfahrens in irgendeiner Weise unterrichtet war noch ihm eine
tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu
verschaffen und sich wirksam zu verteidigen (vgl. BVerfGE 63, 332 <338>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Januar 1991, a.a.O.).
19
b) Den vorgenannten verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine zulässige Auslieferung hat das
Oberlandesgericht nicht hinreichend Rechnung getragen. Das Oberlandesgericht hat nicht festgestellt, dass der
Beschwerdeführer Kenntnis von dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren gehabt hat. Es kann aber auch nicht
festgestellt werden, dass ihm nachträglich die tatsächlich wirksame Möglichkeit eingeräumt wurde, sich zu den
Vorwürfen unter Beachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen zu verteidigen.
20
Die vom Oberlandesgericht eingeholten Auskünfte haben ergeben, dass die italienischen Justizbehörden den
Beschwerdeführer persönlich weder über die Einleitung des Verfahrens noch über den Beginn der Strafverfolgung und
ebenso wenig über die Ladungen zu den Verhandlungen sowie das Urteil jemals informiert haben. Alle Maßnahmen
sind allein seinem während des Prozesses anwesenden Pflichtverteidiger mitgeteilt worden. Dass der
Beschwerdeführer zu diesem jemals Kontakt hatte, ist nicht bekannt. Das Oberlandesgericht geht in seinem
angegriffenen Beschluss dementsprechend auch davon aus, dass die Auslieferung zur Vollstreckung eines
Abwesenheitsurteils erfolgen soll. Es hat dabei ausdrücklich offen gelassen, ob es sich um einen sogenannten
Fluchtfall handelt. Es hat die Zulässigkeit der Auslieferung vielmehr allein damit begründet, dass der
Beschwerdeführer im vorliegenden Fall konkret die Möglichkeit gehabt habe, sich nach Erlangung der Kenntnis von
der Verurteilung während des Auslieferungsverfahrens in Italien rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu
verteidigen. Wegen der Beweislastregeln und der kurzen Frist von zehn Tagen ab Erlangung der Kenntnis von dem
Urteil, innerhalb derer der Verfolgte den Antrag auf Wiedereinsetzung bei dem italienischen Gericht stellen müsse,
dürfte das zwar nur ausnahmsweise der Fall sein (unter Hinweis auf BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2001, BGHSt
47, 120 = NStZ 2002, S. 166). Ein solcher Ausnahmefall liege hier aber vor. Für diese Annahme hat das
Oberlandesgericht indes keine nachvollziehbare Begründung gegeben; hierfür ist auch nichts ersichtlich.
21
Der Bundesgerichtshof hat in dem vom Oberlandesgericht zitierten Beschluss vom 16. Oktober 2001 auf die Frage
des seinerzeit vorlegenden Oberlandesgerichts, ob im Falle eines in Italien ergangenen Abwesenheitsurteils allein der
Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Art. 175 der italienischen Strafprozessordnung genüge
oder ob es zusätzlich einer Erklärung gemäß Art. 3 des 2. ZP-EuAlÜbk bedürfe, wie folgt entschieden: Hatte der
Verfolgte von einem gegen ihn in Italien geführten Strafverfahren, vom Hauptverhandlungstermin und vom Urteil keine
Kenntnis, so ist die Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils regelmäßig nur dann zulässig, wenn die
italienischen Strafverfolgungsbehörden eine Erklärung gemäß Art. 3 des 2. ZP-EuAlÜbk abgeben. Diese Entscheidung
stützt sich unter Berücksichtigung der italienischen Rechtspraxis auf die Erwägung, dass, sofern Art. 175 der
italienischen Strafprozessordnung eng ausgelegt werde, es einem in Auslieferungshaft befindlichen Verfolgten nur in
Ausnahmefällen möglich sein werde, innerhalb von zehn Tagen seit seiner Kenntnis vom Vorliegen eines
vollstreckbaren italienischen Abwesenheitsurteils einen Wiedereinsetzungsantrag bei dem zuständigen Gericht in
Italien zu stellen und seine Nichtkenntnis vom Urteil, das Nichtverschulden seiner Unkenntnis und seine
"Nichtentziehung" von der Kenntnisnahme der Verfahrenshandlungen zu beweisen. Zur Durchsetzung einer
"verfolgtenfreundlichen" - und Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) entsprechenden - Auslegung des Art. 175
der italienischen Strafprozessordnung sei regelmäßig eine Zusicherung nach Art. 3 des 2. ZP-EuAlÜbk zu fordern.
22
Vor diesem Hintergrund vermag das Oberlandesgericht einen Ausnahmefall nicht plausibel darzulegen. Zweifelhaft
ist bereits sein Hinweis, der Beschwerdeführer selbst oder sein Verteidiger in Deutschland hätten das
Wiedereinsetzungsgesuch zumindest fristwahrend in Italien anbringen können. Für diese Annahme, die - auch im
Hinblick auf die genannten Ausführungen des Bundesgerichtshofs - nicht ohne weiteres auf der Hand liegt, benennt
das Oberlandesgericht keine sie stützenden Tatsachen. Unabhängig davon ist jedenfalls die von ihm gegebene
Begründung, der Beschwerdeführer habe ohne weiteres seine "Nichtentziehung" von der Kenntnisnahme der
Verfahrenshandlungen in Italien nachweisen können, weil er seit Juli 1999 in Deutschland inhaftiert gewesen sei, nicht
nachvollziehbar. Mit der Inhaftierung seit Juli 1999 könnte der Beschwerdeführer allenfalls seine Unkenntnis vom
Hauptverhandlungstermin im Jahre 2000 und vom Urteil des Gerichts in Bologna belegen. Für die Frage der
"Nichtentziehung", also der Unkenntnis des Beschwerdeführers von einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren ist
diese Inhaftierung jedoch ohne Beweiskraft, weil die Festnahme der Mitbeschuldigten bereits lange zuvor, nämlich im
Februar 1997 erfolgt ist. Die Möglichkeit eines entsprechenden Nachweises erscheint im Gegenteil hier gerade eher
fernliegend, weil die italienischen Justizbehörden in ihren vom Oberlandesgericht eingeholten Auskünften die
Auffassung vertreten haben, der Beschwerdeführer sei geflüchtet, nachdem er von den bereits vorgenommenen
Festnahmen erfahren habe. Es kann somit nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer auf Grund der
Besonderheiten des vorliegenden Falles ausnahmsweise eine tatsächlich wirksame Möglichkeit hatte, sich
nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen.
23
Die vom Beschwerdeführer darüber hinaus aufgeworfene Frage, ob die Annahme des Oberlandesgerichts einer
ausreichenden nachträglichen Verteidigungsmöglichkeit bereits deswegen unhaltbar sei, weil die Berufung gegen das
zu vollstreckende Abwesenheitsurteil als unzulässig zurückgewiesen worden sei, kann danach offen bleiben.
24
c) Ebenfalls bedarf keiner Entscheidung, ob der angegriffene Beschluss mangels Vorlage an den Bundesgerichtshof
gemäß § 42 IRG wegen Divergenz auch gegen die Gewährleistung des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1
Satz 2 GG verstößt, da die Verfassungsbeschwerde bereits aus den vorgenannten Gründen begründet ist.
25
d) Es ist schließlich auch nicht hinreichend deutlich abzusehen, dass der Beschwerdeführer selbst im Falle einer
Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und einer Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht im
Ergebnis keinen Erfolg haben wird (vgl. BVerfGE 90, 22 <26>). Zwar gibt es Anhaltspunkte dafür, dass er von dem
gegen ihn in Italien laufenden Strafverfahren Kenntnis erlangt und sich dem durch Flucht aus Italien entzogen haben
könnte, etwa weil es sich bei dem einen im Februar 1997 festgenommenen Mitbeschuldigten um seinen Bruder
handeln dürfte; zwingend ist diese Annahme indessen nicht, zumal der Beschwerdeführer unter Vorlage verschiedener
Unterlagen vorgetragen hat, im Februar 1997 nicht in Italien, sondern in Bosnien gewesen zu sein. Das
Oberlandesgericht hat diesen Vortrag des Beschwerdeführers auf seine Glaubhaftigkeit hin bislang jedenfalls nicht
überprüft, sondern ausdrücklich das Vorliegen eines Fluchtfalles offen gelassen.
26
3. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde auch gegen die in dem angegriffenen Beschluss angeordnete Fortdauer
der Auslieferungshaft wendet, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen. Insoweit fehlt jede Darlegung, weshalb
diese Anordnung verfassungswidrig sein soll, sodass den Begründungsanforderungen von § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92
BVerfGG nicht genügt ist.
27
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Das
Rechtsschutzbegehren des Beschwerdeführers war nur zum Teil erfolgreich.
28
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Broß
Di Fabio
Gerhardt