Urteil des BVerfG vom 28.09.1998

BVerfG: anrechnung der untersuchungshaft, freiheit der person, echte gesetzeslücke, freiheitsentziehung, verfassungsbeschwerde, hamburger, gesamtstrafe, entschädigung, haftbefehl, analogie

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2232/94 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn P...
-
gegen den Beschluß des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg
vom 29. September 1994 - 2 Ws 364/94 -
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin
Präsidentin Limbach
und die Richter Kruis,
Winter
gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a, 93b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993
(BGBl I S. 1473) am 28. September 1998 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluß des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 29. September 1994 - 2 Ws 364/94 -
verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 3
Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Hanseatische
Oberlandesgericht Hamburg zurückverwiesen.
2. Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anrechnung sogenannter verfahrensfremder Untersuchungshaft auf eine in
anderer Sache erkannte Strafe.
2
I.
3
1. Gegen den Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landgerichts Berlin vom 21. Dezember 1992, rechtskräftig seit
dem 19. August 1993, wegen Hehlerei in zwölf Fällen (Tatzeiten: Mai 1991 bis Oktober 1991) eine
Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verhängt. Die in dieser Sache vom 5. März bis 21. Dezember 1992 erlittene
Untersuchungshaft wurde auf die am 1. März 1994 angetretene Strafhaft angerechnet. Das Strafende wurde auf den
12. Mai 1996 notiert; daraus ergab sich der 12. Mai 1995 als sogenannter Zweidrittel-Termin (§ 57 Abs. 1 StGB).
4
Später wurde der Beschwerdeführer durch die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Hamburg angeklagt, am 13.
März 1989 gemeinschaftlich mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel betrieben zu haben. Für jene
Sache befand er sich etwa neun Monate in Untersuchungshaft (13. März 1989 bis 15. Dezember 1989). Durch
Beschluß des Landgerichts Hamburg vom 2. März 1994 wurde das Verfahren im Hinblick auf die bereits verhängte
Strafe gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Der Beschwerdeführer hatte auf eine Haftkostenentschädigung
verzichtet.
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Die Staatsanwaltschaft verweigerte dem Beschwerdeführer die Anrechnung der in dem eingestellten Verfahren
erlittenen Untersuchungshaft. Im Verfahren gemäß § 458 Abs. 1 StPO gab die Strafvollstreckungskammer dem
Antrag in analoger Anwendung von § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB statt. Es müsse berücksichtigt werden, daß im Fall der
Verurteilung in der eingestellten Sache die Strafe aus der vorliegenden Sache gemäß § 55 StGB in eine Gesamtstrafe
einbezogen worden wäre.
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Diese Entscheidung wurde jedoch auf sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin vom
Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg durch den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluß vom
29. September 1994 wieder aufgehoben. Zur Begründung wird ausgeführt,
der Senat nehme auf seine bisherige Rechtsprechung (vgl. NStZ 1993, S. 204) Bezug; nach überwiegender Ansicht
der Oberlandesgerichte sei eine direkte oder entsprechende Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB in Fällen der
Verbindungsfähigkeit oder potentiellen Gesamtstrafenfähigkeit abzulehnen. Der Wortlaut des § 51 StGB sei eindeutig.
Wenn eine Anrechnung nicht möglich sei, stehe ein Entschädigungsanspruch nach dem Gesetz über die
Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen bereit. Eine Anrechnung verfahrensfremder Freiheitsentziehungen sei
auch nicht zuverlässig durchführbar. Auch habe das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, daß die fehlende
Möglichkeit der Anrechnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung auf eine in einem anderen Verfahren
erkannte Freiheitsstrafe den Gleichheitssatz nicht verletze (Bezugnahme auf den Beschluß der 2. Kammer des
Zweiten Senats vom 3. Januar 1994 - 2 BvR 1436/93 -, NJW 1994, S. 2219).
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2. Mit seiner rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, die angegriffene
Entscheidung verletze ihn in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG. Er
hält es für geboten, § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB dahingehend auszulegen, daß die Vorschrift auch im Fall einer
möglichen - tatsächlich aber nicht vorgenommenen - Verfahrensverbindung Anwendung finde. Ohne Anrechnung
werde der Betroffene in verfassungswidriger Weise schlechter gestellt, als wenn das eingestellte Verfahren mit einer
Verurteilung geendet hätte. Denn dann hätte zumindest im nachhinein aus beiden Verurteilungen eine Gesamtstrafe
unter Anrechnung der Untersuchungshaft gebildet werden müssen.
8
II.
9
Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluß vom 18. November 1994 im
Wege einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG das Landgericht Hamburg angewiesen, unverzüglich unter
fiktiver Anrechnung der vom Antragsteller im Verfahren der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Hamburg
erlittenen Untersuchungshaft über die Aussetzung der Reststrafe aus dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 21.
Dezember 1992 zur Bewährung zu entscheiden. Das Landgericht Hamburg hat daraufhin am 6. Dezember 1994 die
Vollstreckung des Restes der durch Urteil des Landgerichts Berlin erkannten Gesamtfreiheitsstrafe gemäß § 57 Abs.
1 StGB zur Bewährung ausgesetzt und unter Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft die Entlassung des
Beschwerdeführers zum 14. Dezember 1994 verfügt. Die Bewährungszeit sollte bis zum 13. Dezember 1999
andauern. Inzwischen ist die Aussetzung der Vollstreckung des Restes dieser Gesamtstrafe widerrufen worden, weil
der Beschwerdeführer erneut straffällig wurde (Beschluß des Landgerichts Hamburg vom 20. Januar 1998 und des
Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 23. Februar 1998).
10
III.
11
Der Justizsenator der Freien und Hansestadt Hamburg hat die gebotene Gelegenheit zur Stellungnahme nicht
wahrgenommen.
12
Durch Berichterstatterschreiben ist die Staatsanwaltschaft I bei dem Landgericht Berlin um Mitteilung gebeten
worden, ob angesichts des Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 26. Juni 1997 (BGHSt 43, 112 ff.), der einen
ähnlichen Fall betreffe, eine dem Antrag des Beschwerdeführers entsprechende Strafzeitberechnung durchgeführt
werde. Der Oberstaatsanwalt hat darauf mit Schreiben vom 11. September 1997 ausgeführt, es habe zwar zwischen
dem hiesigen und dem Hamburger Strafverfahren zeitweilig eine "wechselseitige Sicherungsfunktion" durch
Überhaftnotierung für das Hamburger Verfahren bestanden. Mit Beschluß vom 26. Juni 1992 sei der dortige
Haftverschonungsbeschluß vom 14. Dezember 1989 aufgehoben und der Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg vom
14. März 1989 wieder in Vollzug gesetzt worden, weil die im hiesigen Verfahren abgeurteilten Taten ausschließlich in
den Zeitraum der Hamburger Haftverschonung gefallen seien. Andererseits hätten - soweit ersichtlich - weder dem
Bundesgerichtshof noch dem Bundesverfassungsgericht Fallkonstellationen zur Entscheidung vorgelegen, bei denen -
wie hier - der Verurteilte ausdrücklich auf Entschädigung für die im nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellten (Hamburger)
Strafverfahren erlittene Untersuchungshaft verzichtet habe. Ohne diese ausdrückliche Verzichtserklärung wäre der
Antrag der Staatsanwaltschaft gemäß § 154 Abs. 2 StPO nicht gestellt worden ("Deal"). Unter diesen Umständen
werde eine neue Strafzeitberechnung nicht in Aussicht gestellt.
13
IV.
14
Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil
dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Sie ist zulässig; insbesondere besteht
das Rechtsschutzbedürfnis fort, weil die Staatsanwaltschaft an der in dem angegriffenen Beschluß des
Hanseatischen
Oberlandesgerichts
Hamburg
niedergelegten Rechtsauffassung festhält und sich der
Beschwerdeführer inzwischen wiederum in Strafhaft befindet.
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Die Kammer ist gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zur Entscheidung zuständig. Die maßgeblichen
verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
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1. Die Verfassungsbeschwerde ist auch offensichtlich begründet. Der angegriffene Beschluß verletzt den
Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG, weil die vom Gericht
angestellten Erwägungen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügen.
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a) Die Entscheidung über die Anrechnung erlittener Untersuchungs- oder Auslieferungshaft auf die zeitige
Freiheitsstrafe (§ 51 Abs. 1 Satz 1 StGB) betrifft die Vollstreckung der Freiheitsstrafe, durch welche die durch Art. 2
Abs. 2 GG verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit der Person stets berührt wird (vgl. BVerfGE 86, 288 <311>).
Dieses Freiheitsrecht beeinflußt als objektive, für alle Bereiche des Rechts geltende Wertentscheidung (vgl. BVerfGE
10, 302 <322>) auch die Auslegung und Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB.
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Erfaßt der Tatbestand einer für eine bestimmte Rechts- und Interessenlage getroffenen Norm eine Fallgestaltung
nicht unmittelbar und fehlt es auch sonst an einer besonderen Regelung, so ist durch Auslegung des Gesetzes zu
ermitteln, ob eine echte Gesetzeslücke vorliegt, die durch die entsprechende Anwendung einer für vergleichbare
Rechts- und Interessenlagen getroffenen Norm zu schließen ist, oder ob es - aufgrund eines Umkehrschlusses - bei
der Anwendung der Grundregel sein Bewenden hat. Diese Exegese ist grundsätzlich Sache der Fachgerichte, die für
die Auslegung und Anwendung des unter der Verfassung stehenden Gesetzesrechts zuständig sind. Das
Bundesverfassungsgericht greift jedoch ein, wenn diese Gerichte von einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von
der Bedeutung eines Grundrechts ausgehen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; stRspr). Das kann auch der Fall sein, wenn
das Gericht Erwägungen anstellt, die der grundsätzlichen Bedeutung des Grundrechts insgesamt nicht genügen.
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Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG steht, wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, der analogen Heranziehung einer
Vorschrift als materiell-gesetzliche Grundlage für eine Freiheitsentziehung entgegen (vgl. BVerfGE 29, 183 <195>).
Andererseits läßt sich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht entnehmen, daß eine für bestimmte
Fälle gesetzlich geregelte Verschonung vor Freiheitsentziehung ohne weiteres auf davon nicht umfaßte Fälle
vergleichbarer Interessenlagen anzuwenden wäre. Auch aus Art. 3 Abs. 1 GG, dem der gesetzgeberische
Gleichheitssatz zu entnehmen ist, läßt sich, wie das Oberlandesgericht zutreffend bemerkt, eine solche Verpflichtung,
abgesehen von den Fällen einer willkürlichen Differenzierung, nicht entnehmen. Der Gleichheitssatz fordert, daß
vergleichbare Sachverhalte auch eine vergleichbare rechtliche Regelung erfahren. Eine Analogie hat zwar die
Vergleichbarkeit der Rechts- und Interessenlage zur Voraussetzung. Die einfachrechtliche Streitfrage, ob im einzelnen
Fall eine Analogie geboten ist, wird dadurch jedoch nicht zu einer durch das Bundesverfassungsgericht voll
nachprüfbaren Verfassungsfrage. Denn die Entscheidung hängt von jenen einfachrechtlichen Wertungsmaßstäben ab,
die der für eine Analogie in Betracht gezogenen Gesetzesvorschrift zugrunde liegen. Sie zu finden, ist Aufgabe der
Fachgerichte.
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Der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts zugänglich ist jedoch, ob die Gerichte bei der Ermittlung und
Anwendung der einfachrechtlichen Wertungsmaßstäbe die Wertordnung der Grundrechte genügend erwogen haben.
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b) Hieran gemessen hält der Beschluß des Oberlandesgerichts der verfassungsgerichtlichen Überprüfung nicht
stand.
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aa) Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluß vom 26. Juni 1997 (BGHSt 43, 112 ff.) darauf hingewiesen, daß bereits
die Rechtsprechung des Reichsgerichts zu § 60 des Reichsstrafgesetzbuches der Anrechnung von
Untersuchungshaft einen weiten Raum eröffnet habe. Danach sei es für die Anrechnung gleichgültig gewesen, wegen
Untersuchungshaft einen weiten Raum eröffnet habe. Danach sei es für die Anrechnung gleichgültig gewesen, wegen
welcher von mehreren Taten Untersuchungshaft angeordnet worden sei; der erforderliche Zusammenhang zwischen
der erlittenen Untersuchungshaft und der abgeurteilten Tat sei schon dann gewahrt gewesen, wenn die mehreren
Taten Gegenstand derselben Untersuchung, desselben Verfahrens gewesen seien oder die Untersuchungen
hinsichtlich der mehreren Taten in Beziehung zueinander gestanden hätten. Lediglich dann sei die Anrechnung
unzulässig gewesen, wenn die Untersuchungshaft beendet gewesen sei, bevor die später abgeurteilte Tat begangen
worden sei. Auch habe die Bildung einer Gesamtstrafe mit einer in einem anderen Verfahren verhängten Strafe als für
die Anrechnungsvoraussetzungen erforderliche Verfahrensverbindung nicht ausgereicht. Von diesen Einschränkungen
abgesehen sei die Anrechnung der Untersuchungshaft zur Regel geworden. Diese Rechtsprechung habe der
Bundesgerichtshof zu § 60 des Strafgesetzbuches a.F. übernommen und fortgeführt (vgl. BGH, a.a.O., S. 117). Das
Erste Strafrechtsreformgesetz habe bestimmt, daß Untersuchungshaft aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des
Verfahrens ist oder gewesen ist, grundsätzlich anzurechnen sei und - in Abkehr vom Erfordernis der Tatidentität - den
Grundsatz der Verfahrenseinheit gesetzlich festgeschrieben. Die Gesetzesmaterialien böten aber keinen Anhalt dafür,
unter welchen konkreten Voraussetzungen nach dem Willen des Gesetzgebers von einer Verfahrenseinheit im Sinne
des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB ausgegangen werden könne. Dieser Grundsatz, der von der Rechtsprechung als
Sekundärbegriff entwickelt worden sei mit dem Ziel, das Gesetz zugunsten des Verurteilten weit auszulegen, sei aber
nicht zwingend mit einer formalen, gegebenenfalls durch förmliche Verbindung hergestellten Verfahrenseinheit
gleichzusetzen. Entsprechend der in den Regelungen des § 60 StGB a.F., § 51 StGB n.F. zum Ausdruck
gek ommenen Wertungstendenz des Gesetzgebers, Untersuchungshaft, soweit sie überhaupt in einem
Zusammenhang mit einer verhängten Strafe stehe, möglichst umfassend anzurechnen, habe die Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs die Vorschrift des § 51 StGB stets weit ausgelegt (dies wird ausgeführt; vgl. BGH, a.a.O., S.
118 f.). Nach der gesetzlichen Anrechnungsregel des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB sei es allerdings erforderlich, daß
zwischen den Strafverfolgungen hinsichtlich der die Untersuchungshaft auslösenden Tat und der Tat, die der
Verteilung zugrunde liege, ein Zusammenhang bestanden haben müsse oder zwischen ihnen ein irgendwie gearteter
sachlicher Bezug vorhanden gewesen sei. Es erscheine - auch auf dem Hintergrund der dieser Vorschrift
zugrundeliegenden Entwicklung der Rechtsprechung - geboten, die Anrechnungsvoraussetzungen auch dann
anzunehmen, wenn das die vorläufige Freiheitsentziehung betreffende Verfahren formal von dem anderen zur
Verurteilung führenden Verfahren getrennt geführt worden sei, die vorläufige Freiheitsentziehung in dem einen
Verfahren sich aber auf den Gang oder den Abschluß des anderen Verfahrens konkret ausgewirkt habe. Es liege
nahe, die Voraussetzungen einer solchen (funktionalen) Verfahrenseinheit vor allem in den Fällen anzunehmen, in
denen das Verfahren, für das Untersuchungshaft verbüßt worden sei, nach § 154 Abs. 2 StPO im Hinblick auf das mit
einer Verurteilung endende Verfahren eingestellt worden sei oder in denen sich eine formal verfahrensfremde
vorläufige Freiheitsentziehung auf ein anderes Verfahren in sonstiger Weise verfahrensnützlich ausgewirkt habe. Eine
Verfahrenseinheit in dem dargelegten Sinn liege jedenfalls dann vor, wenn in dem Verfahren, das später zu einer
Verurteilung geführt habe, zwar ein Haftbefehl erlassen, dieser aber nicht - dauerhaft - vollzogen, sondern hierfür -
zeitweilig - Überhaft notiert worden sei, weil in einem anderen Verfahren gegen denselben Beschuldigten bereits ein
Haftbefehl existiert und auch vollstreckt worden sei.
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bb) Gegenüber diesen, auch auf den vorliegenden Fall zutreffenden Erwägungen, die der Intention des Gesetzgebers
entsprechen, durch eine weite Anwendung des § 51 StGB die Dauer des Freiheitsentzuges für mehrere irgendwie
zusammenhängende Taten zu begrenzen, und dadurch dem Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG zu einer
verstärkten Wirkung verhelfen, erscheint die Begründung des Oberlandesgerichts, mit der die Anrechnung versagt
wird, ungenügend. Das Oberlandesgericht beruft sich im wesentlichen nur auf den Wortlaut der Vorschrift und die
überwiegende Ansicht der Oberlandesgerichte. Es versäumt hingegen, die der Rechtsvorschrift zugrundeliegende
Wertung aus der gesetzgeberischen Vorgeschichte und der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des
Bundesgerichtshofs zu erforschen. Es übergeht damit gerade Gesichtspunkte, die, wie der Beschluß des
Bundesgerichtshofs zeigt, dem Freiheitsgrundrecht zu besonderer Wirkung verhelfen.
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Demgegenüber führen die vom Oberlandesgericht gegen die analoge Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB
angeführten zusätzlichen Erwägungen nicht weiter. Es ist nicht einsehbar, inwiefern eine Anrechnung
verfahrensfremder Untersuchungshaft an Praktikabilitätsgründen scheitern sollte, wenn der Verurteilte selbst auf eine
verfahrensfremde Freiheitsentziehung hinweist, die er in einem nach § 154 StPO eingestellten Verfahren erlitten hat,
und um deren Anrechnung bittet, sei es vor Erlaß des Urteils, sei es nachträglich im Verfahren der
Strafzeitberechnung. Auch die Regelung des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen bietet
keinen stichhaltigen Grund gegen die Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB. Sie geht ins Leere, wenn das Gesetz
die Anrechnung der verfahrensfremden Freiheitsentziehung zuläßt; sie greift, wenn eine Anrechnung nicht in Betracht
kommt. Darauf, daß ein Beschuldigter vor der Verfahrenseinstellung auf die Entschädigung für die erlittene
Untersuchungshaft verzichtet hat, kann es nicht ankommen. Schließlich kann sich das Oberlandesgericht auch nicht
auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über die Anrechnung von Zeiten des Maßregelvollzugs
berufen. Der Zweite Senat hat in seinem Beschluß vom 16. März 1994 (BVerfGE 91, 1 ff.) festgestellt, daß die
Freiheitsstrafe und die Maßregel verschiedene Zwecke verfolgen (BVerfGE, a.a.O., S. 31) und daß sich der
Gesetzgeber in §§ 67 bis 67g StGB für ein System grundsätzlich teilweiser Anrechnung der Zeit des
Maßregelvollzugs auf die Freiheitsstrafe entschieden hat, wogegen nichts zu erinnern sei (BVerfGE, a.a.O., S. 32).
Von diesem System unterscheidet sich aber die Regelung des § 51 StGB.
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c) Dieser Befund führt zu der Feststellung, daß die Gründe des angegriffenen Beschlusses verfassungsrechtlichen
Anforderungen nicht genügen. Der Beschluß ist aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht
zurückzuverweisen.
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2. Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Limbach
Kruis
Winter