Urteil des BSG vom 30.06.2009

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Bundessozialgericht
Urteil vom 30.06.2009
Sozialgericht Bremen S 7 KR 142/05
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 1 KR 22/08
Bundessozialgericht B 1 KR 17/08 R
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 25. Juli 2008 wird
zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger auch seine Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I
1
Die Beteiligten streiten über die Höhe der Erstattung für geleistete Zuzahlungen und hierbei über die Berechnung der
Belastungsgrenze.
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Der 1946 geborene Kläger ist bei der beklagten Ersatzkasse versichert, seine chronisch kranke Ehefrau und zwei im
gemeinsamen Haushalt lebende Kinder sind familienversichert. Der Kläger leistete 2004 Zuzahlungen in Höhe von
442,62 Euro. Er beantragte die Befreiung von Zuzahlungen, da er 2004 eigene monatliche Bruttoeinnahmen von 2.906
Euro nebst Sonderzahlungen von 1.100 Euro erziele und seine Ehefrau 400 Euro Arbeitsentgelt brutto monatlich
erhalte. Die Beklagte erstattete ihm 193,02 Euro, da die Belastungsgrenze 249,60 Euro betrage. Der Freibetrag je
Kind belaufe sich auf 3.648 Euro (Bescheid vom 22.3.2005; Widerspruchsbescheid vom 6.10.2005). Dem
Klagevorbringen, der Freibetrag sei je Kind mit 5.808 Euro anzusetzen, ist das Sozialgericht (SG) gefolgt und hat die
Beklagte unter Änderung ihrer Bescheide verurteilt, dem Kläger weitere 43,20 Euro (= 1 vH von 4.320 Euro) zu
erstatten (Urteil vom 20.11.2007).
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Das Landessozialgericht (LSG) hat die - vom SG zugelassene - Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Nach dem
eindeutigen Wortlaut des § 62 Abs 2 Satz 3 SGB V iVm § 32 Abs 6 Satz 1 Einkommensteuergesetz (EStG)
verminderten sich die jährlichen Bruttoeinnahmen für jedes Kind des Versicherten und seines Lebenspartners "um den
sich nach § 32 Abs. 6 Satz 1 und Satz 2 des Einkommensteuergesetzes ergebenden Betrag". Dieser "Betrag" werde
nach § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG aus dem für jedes Kind zu berücksichtigenden Freibetrag (1.824 Euro) sowie dem
Freibetrag von 1.080 Euro gebildet und sei hier wegen der steuerlichen Zusammenveranlagung der Ehegatten auf
5.808 Euro je Kind zu verdoppeln (Urteil vom 25.7.2008).
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Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 62 Abs 2 Satz 3 SGB V iVm § 32 Abs 6 Satz 1 und 2
EStG. Der gesetzgeberische Wille sei nach dem in den Materialien zu § 62 SGB V enthaltenen Rechenbeispiel, in
dem ein Freibetrag von "3.648 Euro" (unter Einschluss der Verdoppelung nach § 32 Abs 6 Satz 2 EStG) genannt
werde, eindeutig. Die Gesetzessystematik gebiete ebenfalls eine einschränkende Auslegung, weil die Entlastung je
Kind sonst diejenige für den ersten im gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen des Versicherten (2004: 4.347
Euro) überstiege. Schon der 10. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) habe sich hierzu kritisch geäußert (BSG
SozR 4-2500 § 62 Nr 1). Eine derart weitreichende Besserstellung von Kindern, die sich bei einer noch
hinzukommenden Nichtberücksichtigung von Kindergeld als Einkommen weiter verstärke, sei nicht gewollt. Dies
belege auch der Vergleich mit den Vorgängerregelungen des § 62 SGB V, nach denen die Minderung der
Bruttoeinnahmen für gemeinsame Kinder nur 10 vH der jährlichen Bezugsgröße betragen habe, während sie für den
Ehegatten bei 15 vH dieses Wertes gelegen habe.
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Die Beklagte beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 25. Juli 2008 und des
Sozialgerichts Bremen vom 20. November 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
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Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
8
Die zulässige Revision der beklagten Ersatzkasse ist unbegründet.
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Zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, dass sie dem Kläger für das Jahr 2004 geleistete Zuzahlungen in
Höhe von weiteren 43,20 Euro erstatten muss. Die Beklagte hat die Belastungsgrenze im Rahmen der Anwendung
des § 62 SGB V in Bezug auf die für seine Kinder geltenden Freibeträge unzutreffend zu hoch angesetzt.
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1. Die Höhe der vom Kläger im Jahr 2004 nach § 61 SGB V zu leistenden Zuzahlungen beurteilt sich nach § 62 SGB
V in seiner hier anzuwendenden, ab 1.1.2004 gültig gewesenen Neufassung des Art 1 Nr 40 des Gesetzes zur
Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) vom 14.11.2003, BGBl I
2190, geändert mit Wirkung vom 6.8.2004 durch Art 4 Nr 1 des Kommunalen Optionsgesetzes vom 30.7.2004, BGBl I
2014). Nach § 62 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte während jedes Kalenderjahres nur Zuzahlungen bis zur
Belastungsgrenze zu leisten; wird die Belastungsgrenze bereits innerhalb eines Kalenderjahres erreicht, hat die
Krankenkasse eine Bescheinigung darüber zu erteilen, dass für den Rest des Kalenderjahres keine Zuzahlungen mehr
zu leisten sind. Die Belastungsgrenze beträgt 2 vH der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt für chronisch
Kranke, die - wie die Ehefrau des Klägers - wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung sind,
beträgt sie 1 vH der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt (vgl § 62 Abs 1 Satz 2 SGB V).
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Das Gesetz geht davon aus, dass der Versicherte eine Zuzahlung über die Belastungsgrenze hinaus durch eine
zeitgerecht erteilte Bescheinigung vermeiden und dass er diese Bescheinigung gegebenenfalls gerichtlich erwirken
kann. Hat er Zuzahlungen bereits über die maßgebliche Belastungsgrenze hinaus geleistet, weil die Krankenkasse die
Grenze nicht rechtzeitig oder in einer zu großen Höhe bescheinigt hat, sind Zuzahlungen über die Belastungsgrenze
hinaus aufgrund des allgemeinen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs zu erstatten. Bei Berechnung der
Belastungsgrenze für Zuzahlungen sind nach der Rechtsprechung des BSG die Bruttoeinnahmen zum
Lebensunterhalt des laufenden Kalenderjahres zugrunde zu legen. Der hierauf gerichtete Anspruch ist - wie hier erfolgt
- im Wege einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage durchzusetzen (stRspr, vgl zum Ganzen zuletzt BSG
SozR 4-2500 § 62 Nr 6 RdNr 11 mwN).
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2. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, dass der Kläger einen solchen Erstattungsanspruch in Höhe von
weiteren 43,20 Euro hat, weil die Beklagte die Belastungsgrenze des Klägers für das Jahr 2004 um 4.320 Euro zu
hoch ansetzte.
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a) Nach § 62 Abs 2 Satz 1 SGB V werden bei der Ermittlung der Belastungsgrenze nach Abs 1 die Zuzahlungen und
die Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt der mit dem Versicherten im gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen
des Versicherten und des Lebenspartners jeweils zusammengerechnet. Hierbei sind nach Satz 2 der Regelung die
jährlichen Bruttoeinnahmen für den ersten in dem gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen um 15 vH und für
jeden weiteren in dem gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen des Versicherten und des Lebenspartners um 10
vH der jährlichen Bezugsgröße zu vermindern. Nach § 62 Abs 2 Satz 3 SGB V sind "für jedes Kind des Versicherten
und des Lebenspartners die jährlichen Bruttoeinnahmen um den sich nach § 32 Abs. 6 Satz 1 und 2 des
Einkommensteuergesetzes ergebenden Betrag zu vermindern", wobei die nach Satz 2 bei der Ermittlung der
Belastungsgrenze vorgesehene Berücksichtigung entfällt.
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Zu dem sich nach § 32 Abs 6 Satz 1 und 2 EStG (hier anzuwenden in der ab 1.1.2004 geltenden Fassung des
Gesetzes vom 23.12.2003, BGBl I 2848; gleichlautend auch noch in der aktuellen, ab 1.1.2009 geltenden Fassung
des EStG idF des Gesetzes vom 22.12.2008, BGBl I 2955) ergebenden "Betrag" wiederum heißt es dort:
"Bei der Veranlagung zur Einkommensteuer wird für jedes zu berücksichtigende Kind des Steuerpflichtigen ein
Freibetrag von 1.824 Euro für das sächliche Existenzminimum des Kindes (Kinderfreibetrag) sowie ein Freibetrag von
1.080 Euro für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes vom Einkommen abgezogen. Bei
Ehegatten, die nach den §§ 26, 26b zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, verdoppeln sich die Beträge
nach Satz 1, wenn das Kind zu beiden Ehegatten in einem Kindschaftsverhältnis steht".
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b) Aus dem in § 62 SGB V in Bezug genommenen Gesetzeswortlaut des § 32 Abs 6 Satz 1 und 2 EStG ergibt sich,
dass dort nicht lediglich ein einziger zahlenmäßig ausgeworfener "Betrag" von 1.824 Euro benannt wird, sondern dass
sich der "Betrag" aus dem für jedes Kind zu berücksichtigenden Freibetrag von 1.824 Euro sowie zusätzlich einem -
allerdings von bestimmten Voraussetzungen (= Betreuung, Erziehung, Ausbildung des Kindes) abhängigen - weiteren
Freibetrag von 1.080 Euro gebildet wird; dieser Betrag ist sodann kraft der Anordnung in § 32 Abs 6 Satz 2 EStG bei
steuerlich zusammen veranlagten Ehegatten wie dem Kläger und seiner Ehefrau je gemeinsamem Kind auf 5.808
Euro zu verdoppeln ((1.824 Euro + 1.080 Euro) x 2). Die demgegenüber von der Beklagten befürwortete Beschränkung
des "Betrages" auf den "Freibetrag für Kinder" und einen Höchstbetrag von 3.648 Euro je Kind (also unter
Außerachtlassung des - zu verdoppelnden - Freibetrages in Höhe von 1.080 Euro) lässt sich aus dem
Gesetzeswortlaut und der aufgezeigten, vom Gesetzgeber gewählten Regelungssystematik dagegen nicht herleiten.
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c) Dass diese nach dem Wortlaut und nach der Gesetzessystematik allein in Betracht kommende Auslegung im
Widerspruch zu der Begründung zum Entwurf des § 62 SGB V steht (Gesetzentwurf der Fraktionen SPD, CDU/CSU
und Bündnis 90/Die Grünen zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung,
BT-Drucks 15/1525 S 95 zu Nr 40 (§ 62 des Entwurfs)), spricht jedenfalls nicht für die Richtigkeit und Maßgeblichkeit
der von der Beklagten und anderen Krankenkassen vertretenen Rechtsauffassung zur Höhe der für Kinder in Betracht
kommenden Freibeträge (ebenso: Gerlach in: Hauck/Noftz, SGB V, Stand: Februar 2009, K § 62 RdNr 55; Sichert in:
Becker/Kingreen, SGB V, 2008, § 62 RdNr 23; aA: Gemeinsames Rundschreiben der Spitzenverbände der
Krankenversicherung vom 26.11.2003, Die Leistungen, 2004, 340, 351 unter 2.2.; Baier in: Krauskopf, Soziale
Krankenversicherung/ Pflegeversicherung, Stand Juni 2008, § 62 SGB V RdNr 44; Albers in: jurisPK-SGB V, 1. Aufl
2007, § 62 RdNr 47; Schomburg in: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung Bd 1/1, Gesetzliche
Krankenversicherung - Soziale Pflegeversicherung, Stand Februar 2009, Kap 2-278 Fußnote 474).
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In der Gesetzesbegründung zu § 62 SGB V heißt es: "Es bleibt bei der bisherigen Orientierung der
Überforderungsklausel am Familieneinkommen; für Kinder wird ein gesonderter Freibetrag (2003 = 3.648 Euro)
eingeführt, der an die Stelle der bisherigen prozentualen Berücksichtigung nach Absatz 2 Satz 1 tritt."
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Diese Gesetzesbegründung ist mit der Gesetz gewordenen Fassung schlechterdings nicht in Einklang zu bringen.
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In den Fällen, in denen lediglich die Verweisung auf § 32 Abs 6 Satz 1 EStG greift, weil die tatbestandlichen
Voraussetzungen des § 32 Abs 6 Satz 2 EStG nicht erfüllt sind, ist der in der Begründung aufgeführte Freibetrag zu
hoch (3.648 Euro statt richtig 2.904 Euro). In den Fällen der Einbeziehung des § 32 Abs 6 Satz 2 EStG ist der in der
Klammer aufgeführte Freibetrag dagegen zu niedrig (3.648 Euro statt richtig 5.808 Euro). Eine dem Wortlaut des § 62
SGB V widersprechende Berücksichtigung von stets 3.648 Euro je Kind würde auch dem System und Ziel dieser
Regelung nicht mehr gerecht, das auch für die Ermittlung der Belastungsgrenze im Krankenversicherungsrecht
bedeutsame Existenzminimum des Kindes einschließlich der Bedarfe für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung
zumindest entsprechend dem Rahmen der steuerlichen Freistellung des Einkommens zu berücksichtigen.
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Die schon im Gesetzentwurf enthaltene und später Gesetz gewordene Textfassung des § 62 Abs 2 Satz 3 SGB V
erschöpft sich - wie dargestellt - nicht allein in dem zu verdoppelnden "Freibetrag für Kinder" (= 1.824 Euro x 2), an
den die Begründung anknüpft, sondern nimmt die Regelung des § 32 Abs 6 Satz 1 und 2 EStG ausdrücklich in ihrer
Gesamtheit in Bezug, indem sie das Tatbestandsmerkmal "Betrag" verwendet. Die SGB V-Regelung beschränkt sich
damit nicht nur auf das eine der beiden in § 32 Abs 6 EStG genannten Elemente, den "Freibetrag für das sächliche
Existenzminimum des Kindes (Kinderfreibetrag)". Wenn allein dieser Freibetrag hätte einschlägig sein sollen, wäre bei
der gewählten Regelungstechnik offenkundig - ähnlich wie in anderen Regelungsbereichen geschehen - nur eine
Teilverweisung auf die einkommensteuerrechtliche Bestimmung erfolgt. § 62 Abs 2 Satz 3 SGB V verweist aber
zweifelsfrei zusätzlich auch auf den Freibetrag von 1.080 Euro für den Betreuungs- und Erziehungs- oder
Ausbildungsbedarf des Kindes. Es kann keinem vernünftigen Zweifel unterliegen, dass bei einer derartigen offenen
Diskrepanz zwischen dem in einem förmlichen Verfahren zustande gekommenen und im Bundesgesetzblatt
veröffentlichten Gesetzestext einerseits und den in den Gesetzesmaterialien angeführten Vorstellungen andererseits
dem Gesetzeswortlaut der Vorrang zukommen muss. Anhaltspunkte für ein sich im Gesetzestext niederschlagendes
Redaktionsversehen im Sinne einer offensichtlichen Unrichtigkeit (vgl § 38 SGB X, § 138 Satz 1 SGG), die im
Rahmen der Rechtsanwendung durch "Auslegung" behoben werden könnte, fehlen.
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Eine Gesetzesbegründung, die mit dem Gesetzeswortlaut, dem Regelungssystem und dem Regelungsziel nicht in
Einklang steht, kann nicht zur Grundlage einer vermeintlichen authentischen Gesetzesinterpretation gemacht werden.
Deshalb hat auch der 10. Senat des BSG, der sich zwar kritisch zu der Diskrepanz zwischen Kinder- und
Angehörigenentlastung geäußert hat, keinen Zweifel an der Maßgeblichkeit des Freibetrags von 5.808 Euro für ein
Kind geäußert, sondern ihn zugrunde gelegt (vgl BSG SozR 4-2500 § 62 Nr 1 RdNr 14). Der 1. Senat hat hieran in
seiner Rechtsprechung angeknüpft und insgesamt auf die Entscheidung des 10. Senats verwiesen, ohne von einer
Abweichung auszugehen (vgl BSG SozR 4-2500 § 62 Nr 5 RdNr 10). Aus der im Urteil des 1. Senats vorgenommenen
Rechnung lässt sich im Übrigen entgegen der Ansicht der Beklagten nicht herleiten, dass generell von einem
Freibetrag pro Kind in Höhe von nur 3.648 Euro auszugehen sei; im dortigen Rechtsstreit hatten die Vorinstanzen das
Vorliegen der Voraussetzungen für den weiteren Freibetrag von 1.080 Euro (= Betreuung, Erziehung, Ausbildung der
Kinder) nicht festgestellt, ohne dass dies mit Revisionsrügen angegriffen wurde.
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d) Angesichts des klaren Gesetzeswortlauts und der klaren Verweisung scheidet auch eine von der Beklagten
befürwortete teleologische Reduktion von § 62 Abs 2 Satz 3 SGB V iVm § 32 Abs 6 Satz 1 und 2 EStG aus.
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So mag zwar die Folge der Regelung bisweilen als rechtspolitisch unbefriedigend empfunden werden, weil die
Entlastung für den ersten im gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen des Versicherten (2004: 4.347 Euro)
niedriger ausfällt als diejenige für ein Kind (2004: 5.808 Euro), wobei hinzukommt, dass nach der Rechtsprechung des
BSG (SozR 4-2500 § 62 Nr 5) das Kindergeld bei der Einkommensberechnung unberücksichtigt bleibt. Aus den
Gesetzesmaterialien zu § 62 SGB V ergibt sich ebenfalls nicht, was den Gesetzgeber bewogen hat, die Entlastung für
Kinder deutlich höher ausfallen zu lassen als in den Vorgängerregelungen zu § 62 SGB V, nach denen die Minderung
der Bruttoeinnahmen für gemeinsame Kinder nur 10 vH der jährlichen Bezugsgröße betrug, während sie sich für einen
Ehegatten auf 15 vH dieses Wertes belief. Diese Umstände rechtfertigen angesichts des dem Gesetzgeber
zustehenden weiten Entscheidungsspielraums aber keine abweichende Beurteilung der Rechtslage in Bezug auf die
Bemessung der Entlastungsbeträge für Kinder.
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Eine zu niedrig oder gleichheitswidrig ausgefallene Entlastung für Ehegatten bzw für den ersten im gemeinsamen
Haushalt lebenden Angehörigen kann nicht bewirken, dass der Rechtsprechung daraus auf der
Rechtsanwendungsebene die Befugnis zuwüchse, für die Rechtsverhältnisse in einer anderen - begünstigten -
Vergleichsgruppe (hier: der Kinder) eine restriktive Auslegung gegen den klaren Gesetzeswortlaut, das Regelungsziel
und die Regelungssystematik vorzunehmen. Eine aus Rechtsgründen unzureichende Entlastung für Ehegatten und
gleichgestellte Personen müsste im Rahmen von Streitigkeiten über entsprechende Sachverhalte zur ggf
verfassungsrechtlichen Überprüfung gestellt werden. Hinzu kommt hier indessen, dass die finanzielle Begünstigung,
die der Kläger durch die hier vorgenommene Auslegung erlangt hat, mit 43,20 Euro im Kalenderjahr 2004 von relativ
geringem Gewicht ist. Außerdem erscheint es nicht von vornherein sach- und gleichheitswidrig, wenn der Gesetzgeber
angesichts der oft - gerade auch im Rahmen von Zuzahlungsstreitigkeiten (vgl zB BSGE 92, 46 = SozR 4-2500 § 61
Nr 1) - in der Rechtsprechung streitig gewesenen Frage nach der Wahrung des bei der Erziehung von Kindern
maßgeblichen Existenzminimums hier eine zumindest am Steuerrecht orientierte Begünstigung vornahm: Schließlich
wurde zum 1.1.2004 die Möglichkeit einer vollständigen Befreiung von Zuzahlungen (§ 61 SGB V aF) abgeschafft und
sollte nach den Vorstellungen des Gesetzgebers - entsprechend den allgemeinen Vorgaben des § 6 SGB I - in den
Befreiungs- und Überforderungsregelungen ua bei den Freibeträgen für Kinder "auf Familien ... besonders Rücksicht
genommen" werden, "um die soziale Balance sicherzustellen" (vgl Gesetzentwurf zum GMG, aaO, BT-Drucks
15/1525 S 77 linke Spalte unten/rechts oben, allerdings auch nicht berufstätige Ehegatten hervorhebend).
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e) Nach alledem ergibt sich nach den von den Beteiligten im Übrigen nicht beanstandeten Rechnungsgrößen
ausgehend von den jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt von 36.603 Euro der im gemeinsamen Haushalt
mit dem Kläger lebenden Personen folgende Berechnung für den offenen Erstattungsbetrag: jährliche
Bruttoeinnahmen 36.603,00 Euro./. von der Beklagten bereits berücksichtigter Minderungsbetrag für Angehörige
11.643,00 Euro./. zusätzlich zu berücksichtigende Freibeträge für Kinder (s. o.) 4.320,00 Euro anrechenbare
Einnahmen 20.640,00 Euro davon Belastungsgrenze 1 vH 206,40 Euro
Summe der geleisteten Zuzahlungen 442,62 Euro./. Belastungsgrenze 206,40 Euro Erstattungsbetrag 236,22 Euro./.
bereits von der Beklagten gezahlt 193,02 Euro Rest 43,20 Euro
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.