Urteil des BSG vom 22.08.2000

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Bundessozialgericht
Urteil vom 22.08.2000
Sozialgericht Mannheim
Landessozialgericht Baden-Württemberg
Bundessozialgericht B 2 U 34/99 R
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. Februar 1999 wird
zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I
Streitig ist, ob die Wirbelsäulenerkrankung des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach Nr 2108 der Anlage 1 zur
Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) anzuerkennen und zu entschädigen ist.
Der im Jahre 1942 geborene Kläger war von Oktober 1970 bis zum 11. Mai 1992 als Müllwerker beschäftigt. Seine
Aufgabe war es, die Mülleimer in das Müllfahrzeug zu entleeren. Dabei hatte er von 1970 bis 1983 arbeitstäglich
durchschnittlich 550 Mülleimer mit einem Gewicht von je 55 kg um etwa 40 cm anzuheben. Das Gewicht der
Mülleimer verringerte sich ab 1983 auf 42 kg, außerdem waren die Eimer nur noch um etwa 10 cm anzuheben. Seit 1.
März 1991 war der Kläger wegen eines Lendenwirbelsäulensyndroms arbeitsunfähig erkrankt. Seine Tätigkeit als
Müllwerker nahm er nicht wieder auf; inzwischen bezieht er eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung.
Die Innungskrankenkasse Heidelberg bat die Beklagte im Mai 1992 um Prüfung, ob bei dem bei ihr versicherten
Kläger eine BK vorliege. Im Rahmen des daraufhin eingeleiteten Feststellungsverfahrens holte die Beklagte ua von
ihrem Technischen Aufsichtsbeamten (TAB) einen Bericht über die berufsbedingten Belastungen des Klägers ein;
dieser kam zu dem Ergebnis, der Kläger habe als Müllwerker zunächst zwei bis zweieinhalb Stunden und ab dem
Jahre 1983 eineinhalb bis zwei Stunden pro Arbeitsschicht gefährdende Tätigkeiten iS einer BK nach Nr 2108 der
Anlage 1 zur BKVO verrichtet. Der Orthopäde Prof. Dr. R. kam in seinem von der Beklagten eingeholten Gutachten zu
dem Ergebnis, die arbeitstechnischen Voraussetzungen seien im Falle des Klägers erfüllt und bei ihm liege auch eine
objektivierte Bandscheibenschädigung bei L 4/5 vor, doch sei das Vorliegen einer BK nicht wahrscheinlich, weil die
Bandscheibenproblematik erst nach der Verringerung der beruflichen Belastung aufgetreten sei, beim Kläger zudem
eine skoliotische Fehlhaltung der Lendenwirbelsäule (LWS) bestehe und die Veränderungen im Bereich der
Halswirbelsäule (HWS) stärker ausgeprägt seien. Nachdem sich auch der Landesgewerbearzt dieser Beurteilung
angeschlossen hatte, lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen wegen der Wirbelsäulenbeschwerden ab
(Bescheid vom 27. Oktober 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 1996).
Das Sozialgericht Mannheim (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen einer BK nach Nr 2108
der Anlage 1 zur BKVO Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH ab 1. März 1991
zu gewähren (Urteil vom 4. März 1998). Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat die Berufung der
Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 11. Februar 1999). Die sog arbeitstechnischen Voraussetzungen für die BK Nr
2108 seien gegeben. Nach dem vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) herausgegebenen
Merkblatt zu Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO habe der Kläger mehr als 10 Jahre lang, nämlich von 1970 bis 1983,
schwere Lasten gehoben, die eine solche BK verursachen könnten, wie das Ergebnis der Beweisaufnahme zeige. Die
bei dem Kläger bestehende Bandscheibenerkrankung sei mit Wahrscheinlichkeit auf diese berufliche Tätigkeit
zurückzuführen; insoweit folge der Senat dem Sachverständigengutachten von Prof. Dr. K. und Prof. Dr. D. sowie
dem von Dr. S. , nach denen sich neben der beruflichen Exposition keine anderen, wenigstens annähernd
gleichwertige Ursachen feststellen ließen. Gegen den ursächlichen Zusammenhang spreche nicht, daß beim Kläger
auch im Bereich der HWS und der Brustwirbelsäule (BWS) osteochondrotische Veränderungen bestünden, da es sich
dabei um altersentsprechende Veränderungen handele. Entscheidend sei, daß die berufliche Belastung bei der
Verursachung des Bandscheibenschadens gegenüber einer anderen - nicht ersichtlichen - Ursache überwiege oder
wenigstens annähernd gleichwertig sei.
Der Leistungsgewährung stehe Art 2 Abs 2 der Zweiten Verordnung zur Änderung der BKVO vom 18. Dezember 1992
(2. ÄndVO (BGBl I 2343)) nicht entgegen, da der Versicherungsfall nach dem dort genannten Stichtag (31. März 1988)
eingetreten sei. Zwar habe die belastende Tätigkeit schon 1983 geendet, der Versicherungsfall sei jedoch erst im
März 1991 mit der operativ behandelten Protrusion L 4/5 und der darauf folgenden Aufgabe der beruflichen Tätigkeit
eingetreten. Daher seien die Voraussetzungen für die Anerkennung und Entschädigung der BK erst ab 1. März 1991
erfüllt gewesen.
Mit ihrer - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 551 Abs 1 der
Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO sowie des Art 2 Abs 2 der 2. ÄndVO,
dessen Bedeutung das LSG verkannt habe. Der Kläger habe zwar erst im März 1991 seine letzte Tätigkeit
aufgegeben, jedoch habe es sich dabei nicht um eine schädigende Tätigkeit iS der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO
gehandelt. Die schädigende Tätigkeit habe der Kläger vielmehr bereits im Jahre 1983 aufgegeben. Zu diesem
Zeitpunkt sei mithin der Versicherungsfall eingetreten, so daß nach Art 2 Abs 2 2. ÄndVO keine Leistungen zu
erbringen seien. Das LSG habe das Tatbestandsmerkmal des Zwangs zur Aufgabe jeglicher Tätigkeit, die für die
Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, zu Unrecht
zu einem Zeitpunkt als erfüllt angesehen, als die gefährdende Belastung unter die durch Rechtsprechung und
medizinische Wissenschaft ermittelten Grenzwerte gesunken gewesen sei. Da zu diesem Zeitpunkt keine
gefährdende Tätigkeit iS der BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO ausgeübt worden sei, könne auch kein Zwang
zum Unterlassen einer solchen Tätigkeit bestanden haben. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur
Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit bei den BKen nach Nrn 4301 und 4302 der Anlage 1 zur BKVO sei auf den
Fall der BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO nicht übertragbar.
Die Beklagte beantragt, die Urteile des SG Mannheim vom 4. März 1998 sowie des LSG Baden-Württemberg vom 11.
Februar 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG)) einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Der Kläger hat Anspruch auf Anerkennung seiner Wirbelsäulenerkrankung
als BK und auf Gewährung von Verletztenrente, wie die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben.
Der vom Kläger verfolgte Anspruch richtet sich noch nach den bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Vorschriften der
RVO und der BKVO, da die geltend gemachte BK vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB
VII) am 1. Januar 1997 eingetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes (UVEG), § 212 SGB VII).
Nach § 547 RVO gewährt der Träger der Unfallversicherung nach Eintritt des Arbeitsunfalls nach Maßgabe der
folgenden Vorschriften Leistungen, insbesondere bei Vorliegen einer MdE um wenigstens 20 vH Verletztenrente in der
dem Grad der Erwerbsminderung entsprechenden Höhe (§ 581 Abs 1 Nr 2 RVO). Als Arbeitsunfall gilt gemäß § 551
Abs 1 Satz 1 RVO auch eine BK. BKen sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung
mit Zustimmung des Bundesrates (BR) bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543
bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (§ 551 Abs 1 Satz 2 RVO). Eine solche Bezeichnung nimmt die BKVO
mit den sog Listenkrankheiten vor. Durch Art 1 Nr 4 der 2. ÄndVO wurde die Anlage 1 der BKVO vom 20. Juni 1968
(BGBl I 721) ua dahingehend geändert, daß dazu nunmehr nach Nr 2108 "bandscheibenbedingte Erkrankungen der
Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer
Rumpfbeugehaltung" gehören. Die Aufnahme derartiger Krankheiten in die BK-Liste ist wirksam, denn sie
überschreitet nicht den Rahmen der dem Verordnungsgeber erteilten Ermächtigung (BSG Urteil vom 23. März 1999 -
B 2 U 12/98 R - = BSGE 84, 30 = SozR 3-2200 § 551 Nr 12).
Für die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung als BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO müssen
folgende Tatbestandsmerkmale gegeben sein: Bei dem Versicherten muß eine bandscheibenbedingte Erkrankung der
LWS vorliegen, die durch langjähriges berufsbedingtes Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige
berufsbedingte Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (sog arbeitstechnische Voraussetzungen) entstanden ist.
Die Erkrankung muß den Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten herbeigeführt haben, und als
Konsequenz aus diesem Zwang muß die Aufgabe dieser Tätigkeiten tatsächlich erfolgt sein (vgl Elster,
Berufskrankheitenrecht, 2. Aufl 1994, 134/12).
Für das Vorliegen des Tatbestands der BK ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit
und der schädigenden Einwirkung einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der schädigenden
Einwirkung und der Erkrankung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die
Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art
und Ausmaß iS des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden,
und Ausmaß iS des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden,
während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst
im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende)
Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht (BSG Urteil vom 27. Juni 2000 - B 2 U 29/99 R -
mwN; Brackmann/Krasney, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, SGB VII, 12. Aufl, § 9 RdNrn 22, 23 mwN).
Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffenen und daher für den Senat bindenden (§
163 SGG) Feststellungen des LSG liegt bei dem Kläger eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS in Form
eines operierten Bandscheibenvorfalls bei L 4/5 und von Beschwerden an der LWS mit Wurzelreizsyndrom sowie
erheblichen krankheitsbedingten Funktionsbeeinträchtigungen vor. Da dieses Krankheitsbild in vollem Umfang den
Vorgaben des Verordnungsgebers der 2. ÄndVO für bandscheibenbedingte Erkrankungen iS der Nr 2108 der Anlage 1
zur BKVO (vgl Begründung der Bundesregierung in BR-Drucks 773/92 S 8) entspricht, kann der Senat die in Literatur
und Rechtsprechung aufgeworfene Frage, ob auch Erkrankungen geringeren Ausmaßes - etwa bloße röntgenologisch
feststellbare Veränderungen der LWS ohne Funktionsbeeinträchtigung - zur Erfüllung dieses Tatbestandsmerkmals
ausreichen (s dazu Becker SGb 2000, 116, 118 mwN; Brandenburg BG 1993, 791, 794), offenlassen.
Ebenfalls für den Senat bindend hat das LSG festgestellt, daß der Kläger von 1970 bis 1983 schwere Lasten gehoben
hat, die (generell) eine bandscheibenbedingte Erkrankung iS der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO verursachen können.
Es ist weiter rechtlich zutreffend davon ausgegangen, daß damit das Tatbestandsmerkmal der Langjährigkeit des
Hebens und Tragens schwerer Lasten erfüllt ist. Der hier gegebene Zeitraum liegt erheblich über dem von 10
Berufsjahren, der in dem vom BMA herausgegebenen Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zu Nr 2108 der Anlage
1 zur BKVO (BArbBl 1993, Heft 3, S 50) als untere Grenze der Dauer der belastenden Tätigkeit gefordert wird. Da der
Zeitraum des schweren Hebens und Tragens von Lasten im festgestellten Ausmaß von 1970 bis 1983 nach den
berufungsgerichtlichen Feststellungen auch zur Schädigung der LWS iS der BK Nr 2108 geeignet war, muß hier nicht
entschieden werden, ob und ggf unter welchen Voraussetzungen eine kürzere Belastungsdauer als der geforderte
Zehnjahreszeitraum als "langjährig" iS dieser Vorschrift angesehen werden kann (s dazu Becker SGb 2000, 116, 117
mwN; Brandenburg BG 1993, 791, 794). Die vom Ärztlichen Sachverständigenbeirat - Sektion Berufskrankheiten -
beim BMA erarbeiteten Merkblätter sollen dem Arzt allerdings lediglich rechtlich unverbindliche Hinweise für die
Beurteilung im Einzelfall aus arbeitsmedizinischer Sicht bieten (vgl BSG Beschluss vom 11. August 1998 - B 2 U
261/97 B - = HVBG-Info 1999, 1373). Als antizipierte Sachverständigengutachten oder als Dokumentation des
Standes der einschlägigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft können sie nicht verwendet werden, zumal
sie häufig nicht auf aktuellem Stand sind; sie stellen lediglich eine wichtige, nicht aber unbedingt ausreichende
Informationsquelle für die Praxis dar (vgl Koch in Schulin, HS-UV, § 39 RdNr 2). Dementsprechend kann etwa das im
Merkblatt zur BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO genannte Erfordernis eines Zehnjahreszeitraums nicht als
starre Tatbestandsvoraussetzung für das Vorliegen der Langjährigkeit der belastenden Berufstätigkeit angesehen
werden; vielmehr wird bei Vorliegen entsprechender gesicherter medizinischer Erkenntnisse bei intensiver Belastung
auch ein kürzerer Zeitraum als "langjährig" iS dieser Vorschrift gelten können (vgl Koch aaO, § 39 RdNr 168;
Brandenburg, aaO).
In rechtlich nicht zu beanstandender Weise hat das Berufungsgericht auch unter Zugrundelegung des
Beweismaßstabes der Wahrscheinlichkeit und Anwendung der Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung
aufgrund seiner freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) für den Senat bindend festgestellt,
daß die bei dem Kläger vorliegende bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS konkret-individuell durch die - generell
zur Herbeiführung einer solchen Wirbelsäulenerkrankung geeignete - berufsbedingte Belastung überwiegend oder
wenigstens annähernd gleichwertig gegenüber einer anderen, hier nicht ersichtlichen, Ursache herbeigeführt worden
ist. Zwar hat das LSG nicht ausdrücklich festgestellt, daß die bandscheibenbedingte Erkrankung des Klägers den
Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten herbeigeführt und daß er als Konsequenz aus diesem Zwang
diese Tätigkeiten aufgegeben hat. Aus den Ausführungen in den Entscheidungsgründen über den Eintritt des
Versicherungsfalls ist jedoch hinreichend deutlich zu entnehmen, daß das Berufungsgericht - wie bereits die von ihm
bestätigte erstinstanzliche Entscheidung - vom Vorliegen eines solchen Zwanges als Folge der bei dem Kläger
aufgetretenen Protrusion und der anschließenden Aufgabe aller gefährdenden Tätigkeiten mit Beginn der
Arbeitsunfähigkeit ausgegangen ist. Schließlich liegt nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG bei
dem Kläger aufgrund der Folgen der BK nach der aufgrund § 551 Abs 3 Satz 1 iVm § 581 Abs 1 RVO
vorzunehmenden Schätzung (vgl BSGE 31, 185, 186 = SozR Nr 7 zu § 581 RVO), bei der es sich um eine Tatfrage
handelt (BSG SozR 3-2200 § 581 Nr 6; Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl, 1998, § 162 RdNr 3a), eine MdE um 20 vH,
also im rentenberechtigenden Grade (§ 581 Abs 1 Nr 2 RVO) vor.
Das Vorliegen der genannten Tatbestandsmerkmale einer BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO wird von der
Beklagten insoweit auch nicht in Zweifel gezogen. Sie rügt im wesentlichen die rechtliche Behandlung der Aufgabe der
gefährdenden Tätigkeit im Hinblick auf den Zeitpunkt des Eintritt des Versicherungsfalles; die ihrer Ansicht nach
bereits im Jahre 1983 durch das Absinken der belastenden Tätigkeit unter das für das Vorliegen der
arbeitstechnischen Voraussetzungen erforderliche Ausmaß eingetretene Tätigkeitsaufgabe soll zum
Leistungsausschluß nach Art 2 Abs 2 Satz 1 der 2. ÄndVO führen. Diese Übergangsregelung steht der Anerkennung
der Wirbelsäulenerkrankung des Klägers als BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO indes nicht entgegen. Sie
bestimmt, daß bei einem Versicherten, der beim Inkrafttreten der 2. ÄndVO (1. Januar 1993, Art 2 Abs 1 der 2.
ÄndVO) an einer Krankheit leidet, die - wie die BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO - erst aufgrund dieser
Verordnung als BK iS des § 551 Abs 1 RVO anerkannt werden kann, die Krankheit (nur dann) auf Antrag als BK
anzuerkennen ist, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. März 1988 eingetreten ist.
Entgegen der Ansicht des Klägers ist diese Rechtsnorm zwar nicht wegen Verfassungswidrigkeit unwirksam. Der
Senat hat bereits in seinem Urteil vom 19. Januar 1995 - 2 RU 14/94 - (= HVBG-Info 1995, 1331 = AuA 1995, 358)
entschieden, daß die in Art 2 Abs 2 Satz 1 2. ÄndVO enthaltene begrenzte Einbeziehung früherer Versicherungsfälle
in den Versicherungsschutz nicht nur von der Ermächtigung des § 551 Abs 1 RVO gedeckt, sondern auch
verfassungsrechtlich im Hinblick auf das Gleichbehandlungsgebot (Art 3 Abs 1 GG) nicht zu beanstanden ist (vgl
auch die Senatsurteile vom 25. August 1994 - 2 RU 42/93 - = BSGE 75, 51, 56 = SozR 3-2200 § 551 Nr 6 und vom
11. Mai 1995 - 2 RU 22/94 - = HVBG-Info 1995, 2149). Der Versicherungsfall ist hier jedoch erst nach dem 31. März
1988 eingetreten, so daß eine Anerkennung und Entschädigung der Wirbelsäulenerkrankung als BK durch die
Übergangsregelung nicht ausgeschlossen ist.
Der Versicherungsfall einer BK ist eingetreten, wenn alle Tatbestandsmerkmale des § 551 Abs 1 RVO iVm der
betreffenden Nummer der Anlage 1 zur BKVO erfüllt sind (BSG SozR 2200 § 551 Nr 35; Koch in Schulin, HS-UV, § 35
RdNrn 19 ff; Brackmann/Krasney, Handbuch der Sozialversicherung, SGB VII, 12. Aufl, § 7 RdNr 9). Zwar war hier
das Tatbestandsmerkmal des Vorliegens der arbeitstechnischen Voraussetzungen bereits vor diesem Zeitpunkt,
nämlich spätestens im Jahre 1983 erfüllt, weil der Kläger damals bereits eine langjährige, generell zur Verursachung
bandscheibenbedingter Erkrankungen der LWS geeignete berufliche Tätigkeit zurückgelegt hatte. Zu diesem Zeitpunkt
war bei dem Kläger nach den bindenden berufungsgerichtlichen Feststellungen aber noch keine bandscheibenbedingte
Erkrankung der LWS eingetreten; dieses Tatbestandsmerkmal der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO lag danach
vielmehr erst mit dem Auftreten der im März 1991 operativ behandelten Protrusion bei L 4/5 vor. Dies verkennt die
Revision, wenn sie für den Eintritt des Versicherungsfalls allein auf die ihrer Ansicht nach bereits im Jahre 1983
erfolgte Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit abstellt, die dafür nicht ausreicht. Allerdings ist auch dieses
Tatbestandsmerkmal entgegen der Ansicht der Beklagten erst nach dem maßgebenden Stichtag erfüllt.
Die in Nrn 2108 bis 2110 der Anlage 1 zur BKVO genannten BKen setzen - ebenso wie eine Reihe weiterer
Krankheiten der BK-Liste - neben den arbeitstechnischen und medizinischen Merkmalen übereinstimmend voraus,
daß die dort bezeichneten Wirbelsäulenerkrankungen "zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die
Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können". Dieses
besondere versicherungsrechtliche Tatbestandsmerkmal des Zwangs zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten
setzt in der Regel voraus, daß die Tätigkeit, die zu der Erkrankung geführt hat, aus arbeitsmedizinischen Gründen
nicht mehr ausgeübt werden soll und der Versicherte die schädigende Tätigkeit und solche Tätigkeiten, die für die
Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich sein können, tatsächlich objektiv
aufgegeben hat, wobei es auf das Motiv des Versicherten nicht ankommt (st Rspr, s zB BSG Urteil vom 20. Oktober
1983 - 2 RU 70/82 - = HVBG-RdSchr 16/84; BSG Urteil vom 27. November 1985 - 2 RU 12/84 - = Breith 1986, 486;
Keller SozVers 1995, 264, 266; Brackmann/Krasney, aaO, § 9 RdNr 34; Koch in Schulin, HS-UV, § 35 RdNr 44).
Tatsächlich aufgegeben hat der Kläger diese Tätigkeiten nach den berufungsgerichtlichen Feststellungen erst mit der
endgültigen Einstellung seiner Berufstätigkeit als Müllwerker mit Beginn der Arbeitsunfähigkeit. Erfolgt - wie hier - die
Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit in einem Zeitraum, während dessen der Erkrankte arbeitsunfähig ist, so tritt die
Tätigkeitsaufgabe am ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit ein (BSG SozR Nr 4 zu § 551 RVO; BSGE 50, 187, 189 =
SozR 2200 § 589 Nr 4; Pöhl BG 2000, 475, 477), hier demnach am 1. März 1991.
Zwar mag die vom Kläger in dem Zeitraum von 1983 bis Februar 1993 verrichtete Arbeit wegen der - bei im
wesentlichen Beibehaltung der Art der Arbeitsvorgänge - verringerten Belastung nicht mehr den Anforderungen für das
Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen entsprochen haben. Eine Tätigkeitsaufgabe ist indes nicht bereits
dann gegeben, wenn diejenige Tätigkeit nicht mehr ausgeübt wird, welche die BK herbeigeführt oder verschlimmert
hat. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 27. November 1985 (- 2 RU 12/84 - SozR 5670 Anlage 1 Nr 4302 Nr 2)
klargestellt, daß das Merkmal der Aufgabe der beruflichen Beschäftigung den Zweck hat, ein Verbleiben des
Versicherten auf dem ihn gefährdenden Arbeitsplatz zu verhindern und dadurch eine Verschlimmerung der Krankheit
mit der Folge einer erhöhten Entschädigungsleistung zu verhüten. Dies hat der Verordnungsgeber dadurch zum
Ausdruck gebracht, daß er auch das Unterlassen solcher Tätigkeiten verlangt, die für die Entstehung,
Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich sein können. Um diesem Präventionszweck zu
genügen, muß nicht nur eine wahrscheinlich zu erwartende Schädigung, sondern jede mögliche Gefährdung vermieden
werden. Diese Rechtsprechung des Senats zu den Atemwegs-BKen der Nrn 4301 und 4302 der Anlage 1 zur BKVO
ist für die Wirbelsäulen-BKen der Nrn 2108 bis 2110 entsprechend anzuwenden; hierfür sprechen der hinsichtlich
dieses tätigkeitsbezogenen einschränkenden Tatbestandsmerkmals gleiche Wortlaut der Vorschrift sowie die
gleichartige Gefährdungssituation (vgl Senatsbeschluß vom 19. Dezember 1996 - 2 BU 253/96 -; sa LSG Berlin, Urteil
vom 25. August 1999 - L 3 U 3/97 - = Breith 2000, 286, 293). Dementsprechend ist für die Erfüllung dieses
Tatbestandsmerkmals der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO zu fordern, daß die darin genannten belastenden
Tätigkeiten, nämlich das Heben und Tragen schwerer Lasten bzw Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung in
vollem Umfang aufgegeben sein müssen (vgl LSG Berlin, aaO), auch wenn eine Schädigung hierdurch nicht
wahrscheinlich ist. Dies ist im vorliegenden Fall indes nach den bindenden Feststellungen des LSG erst mit Beginn
der Arbeitsunfähigkeit im März 1991 geschehen.
Nach alledem war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.