Urteil des BPatG vom 12.05.2010

BPatG: stand der technik, aussetzung, nichtigkeitsklage, rauch, patentinhaber, auflage, neuheit, vollstreckbarkeit, urlaub, beschränkung

BPatG 253
08.05
BUNDESPATENTGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
4 Ni 21/09 (EU)
(Aktenzeichen)
URTEIL
Verkündet am
12. Mai 2010
In der Patentnichtigkeitssache
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betreffend das europäische Patent 0 824 731
hat der 4. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der
mündlichen Verhandlung vom 12. Mai 2010 durch den Vorsitzenden Richter
Rauch, den Richter Dr.-Ing. Kaminski, die Richterin Friehe und die Richter
Dipl.-Ing. Groß und Dipl.-Ing. J. Müller
für Recht erkannt:
I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt gegen Sicherheitsleistung von
120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreck-
bar.
Tatbestand
Die Beklagte ist im Register eingetragene Inhaberin des auch mit Wirkung für die
Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 0 824 731 (Streitpa-
tent), das am 22. April 1996 unter Inanspruchnahme einer US-Priorität vom
9. Mai 1995 angemeldet wurde und in Kraft ist. Das Patent betrifft ein Verfahren
und Gerät zum Bestimmen der Fahrzeugsteuer und umfasst 25 Ansprüche, von
denen die Ansprüche 9, 11, 12 und 16 angegriffen sind. Wegen des Wortlauts die-
ser Ansprüche wird auf die Streitpatentschrift EP 0 824 731 B1 verwiesen.
Die Erteilung des Streitpatents wurde am 15. November 2006 veröffentlicht. Ge-
gen das Patent wurden mehrere Einsprüche eingelegt; die Klägerin, die von der
Beklagten vor dem Landgericht Düsseldorf wegen behaupteter Verletzung der An-
sprüche 9, 11, 12 und 16 des Streitpatents verklagt wurde, ist dem Einspruchs-
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verfahren beigetreten. Das Einspruchsverfahren ist in erster Instanz vor dem
Europäischen Patentamt anhängig.
Die Klägerin macht geltend, der Gegenstand der angegriffenen Patentansprüche
sei nicht patentfähig, nämlich nicht neu gegenüber dem Gegenstand der deut-
schen Offenlegungsschrift DE 44 27 392 A1. Anmeldetag der dieser Offenle-
gungsschrift zu Grunde liegenden Patentanmeldung ist der 3. August 1994, Of-
fenlegungstag ist der 8. Februar 1996.
Die Klägerin ist der Ansicht, die Nichtigkeitsklage sei trotz des anhängigen Ein-
spruchsverfahrens zulässig, weil die vorgenannte Offenlegungsschrift, auf die sie
den Nichtigkeitsgrund der fehlenden Neuheit stützt, im europäischen Verfahren
kein relevanter Stand der Technik gem. Art. 54 Abs. 3 EPÜ sei und folglich im Ein-
spruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt nicht herangezogen werden
könne. Die Nichtigkeitsklage könne deshalb trotz des laufenden Einspruchsverfah-
rens ungeachtet der Vorschrift des § 81 Abs. 2 S. 1 PatG zulässig erhoben wer-
den. Die Klägerin beruft sich insoweit auf die Entscheidung „Schlauchbeutel“ des
Bundespatentgerichts (GRUR 2002, 1045 f.).
Hilfsweise komme die Aussetzung des Nichtigkeitsverfahrens bis zum Abschluss
des europäischen Einspruchsverfahrens in Betracht, wie dies der Bundesgerichts-
hof in seiner Entscheidung „Strahlungssteuerung“ (GRUR 2005, 967 ff.) angeregt
habe.
Die Klägerin beantragt,
das europäische Patent 0 824 731 mit Wirkung für Deutschland im
Umfang der Ansprüche 9, 11, 12 und 16 für nichtig zu erklären,
hilfsweise, das Verfahren bis zum Abschluss des europäischen
Einspruchsverfahrens auszusetzen.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, dass die Klage wegen des derzeit anhängigen Einspruchsver-
fahrens unzulässig sei, und trägt vor, es werde voraussichtlich noch mehrere
Jahre dauern, bis das Einspruchsverfahren abgeschlossen sei. Ausnahmen vom
in § 81 Abs. 2 S. 1 PatG normierten Subsidiaritätsprinzip seien nach dem Gesetz
nicht vorgesehen; darüber hinaus könne auch eine Auslegung dieser Vorschrift
nach Sinn und Zweck nicht zur Zulässigkeit der vorliegenden Nichtigkeitsklage
führen. Denn die Subsidiarität des Nichtigkeitsverfahrens gegenüber dem Ein-
spruchsverfahren solle sich widersprechende Entscheidungen vermeiden. Es sei
noch nicht bekannt, ob und mit welchem Inhalt das Streitpatent im Einspruchs-
verfahren aufrecht erhalten bleibe; die Durchführung eines Nichtigkeitsverfahrens
in einer solchen Schwebesituation solle gerade vermieden werden. Dies habe das
Bundespatentgericht auch in seiner Entscheidung „Torasemid“ (GRUR 2007,
261 ff.) bestätigt. Die von der Klägerin zitierte Entscheidung „Schlauchbeutel“ des
Bundespatentgerichts (a. a. O.) betreffe einen hier nicht gegebenen Sonderfall.
Entscheidungsgründe
Die Klage war abzuweisen, weil sie wegen des anhängigen europäischen Ein-
spruchsverfahrens gemäß § 81 Abs. 2 S. 1 PatG derzeit unzulässig ist.
1.
Nach § 81 Abs. 2 S. 1 PatG kann Nichtigkeitsklage nicht erhoben werden, so-
lange ein Einspruchsverfahren anhängig ist. Das Streitpatent ist Gegenstand eines
derzeit vor dem Europäischen Patentamt anhängigen Einspruchsverfahrens.
Die Vorschrift des § 81 Abs. 2 S. 1 PatG ist grundsätzlich auf das europäische
Einspruchsverfahren anzuwenden, vgl. BGH GRUR 2005, 967 f. - Strahlungssteu-
erung. Abgesehen davon, dass § 81 Abs. 2 S. 1 PatG nicht zwischen Einspruchs-
verfahren vor dem Deutschen Patent- und Markenamt und dem Europäischen
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Patentamt differenziert, ist auch die Interessenlage dieselbe: es sollen einander
widersprechende Entscheidungen vermieden werden. Vor Abschluss des Ein-
spruchsverfahrens - gleich ob dieses vor dem Deutschen Patent- und Markenamt
oder vor dem Europäischen Patentamt geführt wird - steht nicht fest, mit welchem
Inhalt das Patent letztlich Bestand haben wird. Es ist insbesondere nicht auszu-
schließen, dass ein Patent im Einspruchsverfahren einen Inhalt erhält, dem der in
einem parallelen Nichtigkeitsverfahren geltend gemachte Stand der Technik nicht
entgegensteht, obwohl er in einem vor Abschluss des Einspruchsverfahrens
durchgeführten Nichtigkeitsverfahren zur Nichtigerklärung des Patents in seiner
ursprünglich erteilten Fassung führen könnte (BGH a. a. O. - Strahlungssteuerung
m. w. N.). Dies gilt auch im vorliegenden Verfahren: erst nach Abschluss des eu-
ropäischen Einspruchsverfahrens wird feststehen, welchen Inhalt die angegriffe-
nen Ansprüche des Streitpatents haben werden und ob ihnen dann die
DE 44 27 392 A1 neuheitsschädlich entgegen steht.
Es kann dahinstehen, ob in Ausnahmefällen ein Abweichen von § 81 Abs. 2 S. 1
PatG zugelassen werden kann (vgl. hierzu Benkard/Rogge, Patentgesetz,
10. Auflage, Rdnr. 21 zu § 81 PatG, m. w. N.; Keukenschrijver, Patentnichtigkeits-
verfahren 3. Auflage, Rdnr. 64). Abweichend von § 81 Abs. 2 S. 1 PatG hat das
Bundespatentgericht in der von der Klägerin zitierten Entscheidung „Schlauch-
beutel“ (GRUR 2002, 1045 f.) die Nichtigkeitsklage trotz vor dem Europäischen
Patentamt anhängigen Einspruchsverfahrens in einem Fall für zulässig erachtet, in
dem die Nichtigkeit - wie vorliegend - mit einer neuheitsschädlichen nachveröffent-
lichten nationalen Anmeldung begründet wurde, die im europäischen Einspruchs-
verfahren nicht als Stand der Technik geltend gemacht werden kann. Anders als
im vorliegenden Fall waren jedoch zudem die jüngere europäische und die ältere
nationale Anmeldung identisch (BPatG Schlauchbeutel, a. a. O.), so dass die dem
angegriffenen europäischen Patent zugrunde liegende Anmeldung keinen im Ver-
gleich zur älteren nationalen Anmeldung zusätzlichen Offenbarungsgehalt auf-
wies, mit dem ein angegriffener Anspruch hätte beschränkt werden können, ohne
dass dieser Inhalt auch in der älteren nationalen Schrift neuheitsschädlich offen-
bart gewesen wäre. Mit anderen Worten: bei identischen Anmeldungen hat der
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Patentinhaber keine Möglichkeit, durch eine Beschränkung seines Patents mit zu-
sätzlichen in der Patentschrift offenbarten Merkmalen die fehlende Neuheit ge-
genüber der identischen - und damit die identischen Merkmale offenbarenden -
älteren Anmeldung zu „reparieren“.
Unabhängig davon, ob man dieser Entscheidung folgt (sie wurde durchaus kon-
trovers diskutiert, vgl. Benkard/Rogge, a. a. O.), ist der ihr zugrunde liegende
Sonderfall, dass die nachveröffentlichte, aber prioritätsältere nationale Anmeldung
identisch mit der des Streitpatents ist, im vorliegenden Nichtigkeitsverfahren nicht
gegeben, denn ganz offensichtlich sind die Streitpatentschrift (bzw. die zugehörige
Anmeldung) und die DE 44 27 392 A1 nicht identisch, und auch der Offenba-
rungsgehalt des Streitpatents einerseits ist mit dem der DE 44 27 392 A1 anderer-
seits nicht identisch. Mithin hat es die Beklagte in der Hand, ggf. das Patent im
Einspruchsverfahren beschränkt zu verteidigen und sich hierbei - falls erforderlich
- von der DE 44 27 392 A1 abzugrenzen. Es steht somit heute noch nicht fest,
welchen Inhalt das Streitpatent am Ende des Einspruchsverfahrens haben wird.
Dementsprechend ist auch nicht auszuschließen, dass die angegriffenen Patent-
ansprüche im Einspruchsverfahren einen Inhalt erhalten, dem der nunmehr gel-
tend gemachte Stand der Technik nicht entgegensteht, selbst wenn - was offen ist
und worauf es vorliegend auch nicht ankommt - der Vortrag der Klägerin zutreffen
sollte und die DE 44 27 392 A1 die angegriffenen Ansprüche in ihrer erteilten Fas-
sung vorweg nimmt. § 81 Abs. 2 S. 1 PatG soll gerade ausschließen, dass in einer
solchen Situation der Patentinhaber sein Patent oder Teile davon verliert.
Folge ist, dass die Nichtigkeitsklage als (derzeit) unzulässig abzuweisen war, weil
die Zulässigkeitsvoraussetzung der Nichtanhängigkeit eines Einspruchsverfahrens
bei Schluss der mündlichen Verhandlung nicht vorgelegen hat.
2.
Das Verfahren war auch nicht auszusetzen.
Ob eine Aussetzung des Verfahrens gem. § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 148 ZPO im
Anwendungsbereich des § 81 Abs. 2 S. 1 PatG überhaupt möglich ist, kann zwei-
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felhaft sein. Denn man kann durchaus § 81 Abs. 2 PatG als lex specialis gegen-
über § 148 ZPO ansehen. So führt der Bundesgerichtshof in der Entscheidung
„Strahlungssteuerung“ (a. a. O., S. 967, 968) aus, dass § 81 Abs. 2 PatG das
Nichtigkeitsverfahren gegenüber dem Einspruchsverfahren subsidiär ausgestaltet
und eine Aussetzung des Nichtigkeitsverfahrens bis zum Abschluss des Ein-
spruchsverfahrens kraft Gesetzes bewirkt, gleichzeitig parallele Verfahren über
den Rechtsbestand eines Patents vermeidet und das Bundespatentgericht von
Nichtigkeitsverfahren entlastet. Dagegen schließt Keukenschrijver (a. a. O.) eine
Aussetzung nach § 148 ZPO bei unmittelbar bevorstehendem Abschluss des Ein-
spruchsverfahrens nicht grundsätzlich aus, sondern weist darauf hin, dass nicht
geklärt sei, ob ein Zuwarten oder u. U. eine Aussetzung in einem solchen Fall
möglich ist.
Vorliegend konnte letztendlich dahinstehen, ob eine Aussetzung nach § 148 ZPO
in einem Patentnichtigkeitsverfahren bei noch anhängigem Einspruchsverfahren
im Einzelfall - insbesondere unter den von Keukenschrijver angegebenen Voraus-
setzungen - möglich ist. Denn der Senat hält unter den Voraussetzungen des vor-
liegenden Falles eine Aussetzung jedenfalls nicht für geboten.
Die Anordnung einer Aussetzung nach § 148 ZPO ist eine Ermessensentschei-
dung. Der Senat hat bei seiner Entscheidung, von einer Aussetzung abzusehen,
insbesondere die Wertung des Gesetzgebers berücksichtigt, nach der die gesetz-
lich vorgesehene Folge der Erhebung einer Nichtigkeitsklage während des noch
laufenden Einspruchsverfahrens die Unzulässigkeit dieser Klage ist; ferner, dass
im Streitfall nicht in absehbarer Zeit und erst recht nicht unmittelbar bevorstehend
mit der Beendigung des Einspruchsverfahrens (einschließlich eines möglichen
Beschwerdeverfahrens) zu rechnen ist.
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3.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 99 Abs. 1 PatG, § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO
analog, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs. 1 PatG ,
§ 709 S. 1 und 2 ZPO analog.
Rauch
Dr. Kaminski
Friehe
Richter Groß
ist in Urlaub
und kann
deshalb nicht
unterschreiben.
Rauch
Müller
Pr