Urteil des BPatG vom 04.10.2001

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BUNDESPATENTGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
2 Ni 31/00
(Aktenzeichen)
URTEIL
Verkündet am
4. Oktober 2001
In der Patentnichtigkeitssache
BPatG 253
9.72
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betreffend das deutsche Patent 36 06 770
hat der 2. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf Grund der
mündlichen Verhandlung vom 4. Oktober 2001 durch den Vorsitzenden Richter
Meinhardt sowie die Richter Dipl.-Phys. Kalkoff, Dipl.-Phys. Dr. Mayer, Gutermuth
und Dipl.-Phys. Dr. Hartung
für Recht erkannt:
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III. Das Urteil ist für die Beklagte im Kostenpunkt gegen Sicher-
heitsleistung in Höhe von 28.000,-- DM vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des deutschen Patents 36 06 770 (Streit-
patent), das am 1. März 1986 angemeldet worden ist und eine gasisolierte gekap-
selte Mittelspannungs-Schaltanlage betrifft. Das Streitpatent umfaßt
8 Patentansprüche, von denen Patentanspruch 1 (entsprechend der Entscheidung
des 19.
Senats des Bundespatentgerichts vom 18.
September
1996 – Az
19 W (pat) 95/94 - ) folgenden Wortlaut hat:
"Gasisolierte gekapselte Mittelspannungs-Ortsnetzschaltanlage be-
stehend aus mehreren Schaltfeldern in einer gemeinsamen Gas-
füllung im wesentlichen mit Lasttrennschaltern, Antriebselementen,
Sammelschienen und angeschlossenen Leitungen, denen Er-
dadurch gekennzeichnet,
zumindest alle diejenigen Erdungsschalter (5), die den einspeisen-
den Leitungen (6, 7, 8) zugeordnet sind, vorgespannte Kraftspei-
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cherantriebe (10) mit einer gemeinsamen mit mindestens einem
nachgiebigen Abschnitt (12) der Kapselung verbundenen Auslöse-
einrichtung (11, 13, 14, 15) besitzen".
Wegen der Patentansprüche 2 bis 8 wird auf die Patentschrift 36 06 770 C3 Bezug
genommen (mit der Abänderung von "den" statt "dem" (Wirkungsbereich) in Spalte
3/Zeile 16 gem. vorgenanntem Beschluß des 19. Senats).
Mit ihrer Nichtigkeitsklage macht die Klägerin geltend, der Gegenstand des Streit-
patents sei nicht patentfähig, da er sich für den Fachmann in naheliegender Weise
aus dem Stand der Technik ergebe. Sie beruft sich hierzu auf folgende vorveröf-
fentlichte Druckschriften:
(1)
"Mittelspannungs-Schaltanlagen
Typ MINEX-C SF 6-isoliert"
(Fa Fritz Driescher)- Anl.K3
(2) GM 75 20 784 – Anl.K5
(3) DE-OS 31 31 417 – Anl.K7
(4) GM 79 29 553 – Anl.K8
Die Klägerin beantragt,
das deutsche Patent 36 06 770 für nichtig zu erklären.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie tritt den Ausführungen des Klägers in allen Punkten entgegen und hält das
Streitpatent für patentfähig.
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Entscheidungsgründe:
Die Klage, mit der der in § 22 Abs.2 iVm § 21 Abs.1 Nr.1 PatG vorgesehene Nich-
tigkeitsgrund der mangelnden Patentfähigkeit geltend gemacht wird, ist zulässig,
aber nicht begründet.
Entgegen der Auffassung der Klägerin ergibt sich die Lehre des angegriffenen
Patentanspruchs 1 für den Fachmann, einen Elektroingenieur mit Fachhochschul-
ausbildung und langjährigen Erfahrungen bei der Entwicklung von Mittelspan-
nungs-Ortsnetzschaltanlagen und eingehenden Kenntnissen in der elektrischen
Energietechnik, nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik unter
Einsatz seiner fachlichen Fähigkeiten. Mit Patentanspruch 1 haben auch die mit
angegriffenen Unteransprüche ohne weiteres Bestand (BPatGE 34, 215).
I.
Das Streitpatent betrifft eine gasisolierte gekapselte Mittelspannungs-Ortsnetz-
schaltanlage, die gemäß dem Oberbegriff des Patentanspruchs 1 aus mehreren
Schaltfeldern in einer gemeinsamen Gasfüllung im wesentlichen mit Lasttrenn-
schaltern, Antriebselementen, Sammelschienen und angeschlossenen Leitungen,
denen Erdungsschalter zugeordnet sind, besteht.
In der Beschreibungseinleitung erläutert das Streitpatent, daß sich bei Untersu-
chungen über das Verhalten von SF
6
-Anlagen im Störlichtbogenfall herausgestellt
habe, daß in den Fällen, in denen durch den Druck des Lichtbogens Druckentlas-
tungseinrichtungen ansprechen, mit dem Austreten von Lichtbogenzersetzungs-
produkten zu rechnen sei. Vor diesem Hintergrund liegt dem Streitpatent das
technische Problem zugrunde, eine Schaltanlage der angegebenen Art so auszu-
bilden, daß eventuell entstehende Zersetzungsprodukte möglichst nicht aus der
Schaltanlage austreten und daß die Menge der entstehenden Zersetzungspro-
dukte möglichst gering bleibt (Sp 1 Z 13 bis 18).
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Zur Lösung dieses Problems schlägt das Streitpatent gemäß Patentanspruch 1
vor, daß zumindest alle diejenigen Erdungsschalter, die den einspeisenden Lei-
tungen zugeordnet sind, vorgespannte Kraftspeicherantriebe mit einer gemeinsa-
men mit mindestens einem nachgiebigen Abschnitt der Kapselung verbundenen
Auslöseeinrichtung besitzen.
II.
1. Die offensichtlich gewerblich anwendbare gasisolierte gekapselte Mittelspan-
nungs-Ortsnetzschaltanlage des Patentanspruchs 1 ist unbestritten neu, weil aus
keiner der im Nichtigkeitsverfahren entgegengehaltenen Druckschriften eine Mit-
telspannungs-Ortsnetzschaltanlage mit allen in diesem Anspruch angegebenen
Merkmalen bekannt ist.
a) Aus der Firmendruckschrift "Mittelspannungs-Schaltanlagen, Typ Minex
®
-C
SF
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- isoliert" aus dem Jahr 1984 der Fa. D… in W…, ist eine gas
isolierte gekapselte Mittelspannungs-Schaltanlage bekannt, wie sie in Ortsnetzen
verwendet wird. Sie besteht aus drei Schaltfeldern mit Lasttrennschaltern, An-
triebselementen, Sammelschienen und angeschlossenen Leitungen, denen - mit
vorspannbaren Kraftspeicherantrieben versehene - Erdungsschalter zugeordnet
sind (Abb 1 und 5 re Bild i.V. m. dem Text 1.S re Sp le Abs bis 2.S Abs 3). Bei der
Ausführungsform mit integriertem Sicherungsfeld (2.S li Sp le Abs) ist in weiterer
Übereinstimmung mit den Merkmalen im Oberbegriff von Patentanspruch 1 vorge-
sehen, daß ein gemeinsames Gehäuse mit der Gasfüllung der Anlage in Verbin-
dung steht, so daß eine allen Schaltfeldern gemeinsame Gasfüllung vorhanden ist.
Von diesem Stand der Technik unterscheidet sich die Schaltanlage des Patentan-
spruchs 1 durch dessen kennzeichnende Merkmale; denn Auslöseeinrichtungen
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für die Erdungsschalter sind in der Firmendruckschrift weder erwähnt noch in den
Abbildungen dargestellt. Auch finden sich keine Hinweise auf eine Störlichtbo-
genfestigkeit dieser Schaltanlage oder auf Maßnahmen, die die Entstehung oder
den Austritt von Zersetzungsprodukten durch Störlichtbögen begrenzen bzw. ver-
hindern könnten.
b) Aus dem deutschen Gebrauchsmuster 75 20 784 ist eine gekapselte elektrische
Schaltzelle mit einem einzigen Schaltfeld für Schaltanlagen bekannt. Das Schalt-
feld weist ein Schaltgerät 2 mit (nicht beziffertem) Antriebselement, Sammelschie-
nen (Fig 1,2 oben) sowie einer angeschlossenen Leitung (unten re) auf, der ein
Erdungsschalter mit Schwenkkontakt 5, Gegenkontakt 6 und Kraftspeicherantrieb
4 zugeordnet ist (Fig 1 und 2). Zur Auslösung des Erdungsschalters ist eine an
sich feststehende, unter Druck nachgiebige Kapselungswand 1" (Fig 4, S 5 Abs 2)
über eine Stange 8 und ein Kurbelgelenk 7 mit dem vorgespannten Kraftspeicher-
antrieb 4 verbunden; hierdurch wird die Energiezufuhr zu einem in dieser Schalt-
zelle auftretenden Störlichtbogen - aufgrund des Druckanstiegs in dieser Schalt-
zelle - unterbrochen und ein Gasaustritt nach außen verhindert.
Die Ausbildung einer Schaltanlage mit mehreren Schaltfeldern ist dort nicht ange-
sprochen.
Somit unterscheidet sich die Mittelspannungs-Ortsnetzschaltanlage des Patentan-
spruchs 1 von dieser bekannten Schaltanlage dadurch, daß mehrere Schaltfelder
in einer gemeinsamen Gasfüllung mit je einem Erdungsschalter vorhanden sind
und zumindest diejenigen Erdungsschalter, die den einspeisenden Leitungen zu-
geordnet sind, eine gemeinsame Auslöseeinrichtung besitzen.
c) Aus der deutschen Offenlegungsschrift 31 31 417 sind Betätigungsvorrichtun-
gen für Erdungsschalter oder Kurzschließer in drucklos gekapselten Schaltanla-
genteilen (Zusammenfassung) von Hochspannungs- oder Mittelspannungsschalt-
und -verteileranlagen mit geschotteten Räumen (S17, Abs 2) bekannt. Im Stör-
lichtbogenfall trifft die damit einhergehende Druckwelle auf einen Drucksensor 65,
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der einen vorgespannten Kraftspeicherantrieb 73 eines (nicht dargestellten) Er-
dungsschalters (Fig. 8 und 9) ansteuert und diesen mittels eines Kraftübertra-
gungsgliedes (71 in Fig 8) unmittelbar auslöst (vgl Anspr 1 sowie S 20 Abs 2 bis S
22 Abs 1). Dieser Drucksensor kann insbesondere aus einem Faltenbalg 45 (Fig
4) bestehen, der im Bereich der Durchtrittsöffnung der Kolbenstange 48 aus einem
nachgiebigen Abschnitt der Kapselung gebildet ist und mit den die Auslöseein-
richtung bildenden Kraftübertragungsgliedern verbunden ist. Bedarfsweise können
auch zwei oder mehr Drucksensoren auf ein gemeinsames Betätigungsglied wir-
ken (Anspr 9 sowie S 10, Abs 2).
Über die Verwendung und Funktion derartiger Sensoren in einer Schaltanlage mit
mehreren Schaltfeldern in einer gemeinsamen Gasfüllung sind keine Angaben
gemacht.
d) In dem von der Patentinhaberin eingeführten Zeitschriftenartikel „Begrenzung
der Auswirkungen von inneren Lichtbogenstörungen“ von H…, N… und
St…, in: etz Bd. 104 (1983) Heft 18, Seiten 975 bis 978, der das Fachwissen
des zuständigen Fachmanns repräsentiert, wird ausgeführt, daß durch geeignete
Maßnahmen das Auftreten innerer Lichtbögen in Schaltanlagen in der statisti-
schen Häufigkeit erheblich verringert, aber nicht ganz ausgeschlossen werden
kann (S 975 li Sp Abs 1). Hierzu werden Lichtbogenwächter in Schaltanlagen vor-
geschlagen. Der innere Lichtbogen in einer Schaltanlage erlischt bei Unterbre-
chung seiner Energiezufuhr durch Abschalten des bzw der Leistungsschalter, über
die in den gestörten Bereich eingespeist wird, oder in besonderen Fällen auch
durch Zuschaltung eines Erdungskurzschließers, der die spannungsführenden
Teile des gestörten Bereichs erdet. Es wird vorgeschlagen, Lichtbogenwächter mit
lichterfassenden Detektoren einzusetzen, da sie die selektive Erfassung gestörter
Bereiche ermöglichen. Dadurch kann nur der gestörte Bereich abgeschaltet wer-
den, während der nicht gestörte Bereich das Schaltanlage in Betrieb bleibt. Da-
durch wird die Verfügbarkeit der Schaltanlage weiter erhöht (S 977 re Sp).
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e) Das im Nichtigkeitsverfahren noch genannte deutsche Gebrauchsmuster
79 29 553 liegt vom Gegenstand des Patentanspruchs 1 weit entfernt, so daß
diese Druckschrift in der mündlichen Verhandlung weder von den Beteiligten noch
vom Senat aufgegriffen wurde. Sie bringt auch keine neuen Gesichtspunkte, so
daß auf sie nicht weiter eingegangen zu werden braucht.
2. Die gasisolierte gekapselte Mittelspannungs-Ortsnetzschaltanlage des Patent-
anspruchs 1 beruht auch auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Ausgehend von der aus der Firmendruckschrift "Mittelspannungs-Schaltanlagen“
aaO bekannten gasisolierten gekapselten Mittelspannungs-Ortsnetzschaltanlage
mit den Merkmalen des Oberbegriffs von Patentanspruch 1 stellt sich dem Fach-
mann das dem Streitpatent zugrundeliegende technische Problem bei der Weiter-
entwicklung des Standes der Technik bereits aus wirtschaftlichen Gründen in der
Praxis von selbst. Denn in dem hier angesprochenen Bereich der Energietechnik
ist eine hohe Verfügbarkeit der Ortsnetzschaltanlagen aufgrund des herrschenden
Wettbewerbsdrucks und des Verbraucherinteresses an einer möglichst ununter-
brochenen Versorgung mit Strom ein zwingend anzustrebendes Ziel, wie es auch
in dem Zeitschriftenartikel „Begrenzung der Auswirkung von inneren Lichtbogen-
störungen“ aaO angesprochen ist.
Weder die betrachteten Druckschriften noch seine Fachkenntnisse vermögen dem
Fachmann jedoch eine Anregung zu geben, bei der aus der Firmendruckschrift
"Mittelspannungs-Schaltanlagen“ aaO bekannten Ortsnetzschaltanlage zur Pro-
blemlösung zumindest allen denjenigen Erdungsschaltern, die den einspeisenden
Leitungen zugeordnet sind, vorgespannte Kraftspeicherantriebe mit einer gemein-
samen Auslöseeinrichtung, die mit mindestens einem nachgiebigen Abschnitt der
Kapselung verbunden ist, zuzuordnen.
Denn hierdurch wird die patentgemäße Ortsnetzschaltanlage im Fehlerfall voll-
ständig abgeschaltet und nicht selektiv, wie dies in dem Zeitschriftenartikel „Be-
grenzung der Auswirkung von inneren Lichtbogenstörungen“ aaO dem Fachmann
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empfohlen wird. Die aus dem deutschen Gebrauchsmuster 75 20 784 und der
deutschen Offenlegungsschrift 31 31 417 bekannten Schaltanlagen weisen –wie
bereits dargelegt- jeweils nur ein einziges Schaltfeld auf und können deshalb dem
Fachmann keine Anregung zum patentgemäßen Vorgehen bei mehreren Schalt-
feldern geben.
Es ist demnach nicht ersichtlich, warum der Fachmann diesen bekannten Stand
der Technik kombinieren und auf Grund seines Fachwissens die noch fehlenden
Merkmale hinzufügen sollte. Das anspruchsgemäße Vorgehen ist demnach durch
den bekanntgewordenen Stand der Technik nicht nahegelegt und übersteigt übli-
ches fachmännisches Handeln; es erfordert erfinderische Überlegungen, um von
der bekannten Ortsnetzschaltanlage zu der Anlage des Patentanspruchs 1 zu ge-
langen. Eine gegenteilige Beurteilung, wie sie von der Klägerin vertreten wird,
wenn sie meint, daß der Fachmann ausgehend von der bekannten Ortsnetz-
schaltanlage nach der Firmendruckschrift "Mittelspannungs-Schaltanlagen“ aaO in
Kenntnis der deutschen Offenlegungsschrift 31 31 417 und dem deutschen
Gebrauchsmuster 75 20 784 durch einfache Überlegungen und Untersuchungen
zum Patentgegenstand gelangt, würde auf einer unzulässigen rückschauenden
Betrachtung in Kenntnis der Erfindung beruhen (vgl Busse, PatG, 5. Auflage,
Rdnr 26 zu § 4 mit Rechtsprechungsnachweisen).
Bei dieser Sachlage kann es dahingestellt bleiben, ob der Beschluß des
19. Senats vom 18. September 1996 Widersprüche aufweist, wie die Klägerin
meint.
Die ebenfalls angegriffenen und auf den rechtsbeständigen Patentanspruch 1 di-
rekt oder indirekt rückbezogenen Unteransprüche 2 bis 8 haben in Verbindung mit
Patentanspruch 1, ohne daß es hierzu weiterer Feststellungen bedurfte (BPatGE
34, 215), ebenfalls Bestand.
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III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs 2 PatG iVm § 91 Abs 1 Satz 1 ZPO,
der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs 1 PatG iVm § 709
ZPO.
Meinhardt Kalkoff
Dr.
Mayer Gutermuth Dr.
Hartung
Pr