Urteil des BGH vom 06.04.2011

Leitsatzentscheidung zu Treu Und Glauben, Vergleich, Verwirkung, Beendigung, Prozesshandlung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
VERSÄUMNISURTEIL
XII ZR 79/09 Verkündet
am:
6. April 2011
Breskic,
Justizangestellte
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in der Familiensache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
ZPO § 794 Abs. 1 Nr. 1; BGB § 779
Die Rückforderung von Leistungen, die aufgrund eines nichtigen Prozessvergleichs
erbracht worden sind, kann jedenfalls dann im Wege eines neuen Rechtsstreits er-
folgen, wenn das Ursprungsverfahren, in dem der Vergleich geschlossen worden ist,
rechtskräftig beendet ist (Abgrenzung zu BGHZ 142, 253 = NJW 1999, 2903).
BGH, Versäumnisurteil vom 6. April 2011 - XII ZR 79/09 - OLG Koblenz
AG
Koblenz
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 6. April 2011 durch die Richter Dose, Weber-Monecke, Dr. Klinkhammer,
Schilling und Dr. Nedden-Boeger
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 13. Zivilsenats
- 1. Senat für Familiensachen - des Oberlandesgerichts Koblenz
vom 25. März 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
- auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das Ober-
landesgericht zurückverwiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Rückzahlung von Trennungsunterhalt
in Anspruch.
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Die Parteien waren miteinander verheiratet. Am 24. Juli 2003 schlossen
sie vor dem Familiengericht in einem über Trennungs- und Kindesunterhalt ge-
führten Rechtsstreit (20 F 612/02) einen Vergleich. Dabei offenbarte die Beklag-
te nicht, dass sie außer Einkünften aus einer Halbtagstätigkeit bereits seit April
2003 über weiteres Einkommen in Höhe von monatlich 400 € aus einer gering-
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fügigen Beschäftigung verfügte. Nachdem der Kläger hiervon Kenntnis erlangt
hatte, erklärte er die Anfechtung des Vergleichs wegen arglistiger Täuschung
und machte den Sachverhalt im Rahmen einer bereits erhobenen Abände-
rungsklage geltend, mit der er erreichen wollte, dass ab Januar 2004 kein Tren-
nungsunterhalt mehr geschuldet werde. Während das Amtsgericht der Klage
stattgab, hob das Oberlandesgericht das erstinstanzliche Urteil auf die Berufung
der Beklagten auf und wies die Klage als unzulässig ab. Zur Begründung wurde
ausgeführt, dass die Anfechtung des Klägers auch zur Unwirksamkeit des Ver-
gleichs geführt habe, so dass dieser nicht Grundlage einer Abänderungsklage
sein könne. Die Unwirksamkeit sei im Ausgangsverfahren geltend zu machen.
In dem daraufhin fortgeführten Verfahren 20 F 612/02 wurde der Kläger
im Juli 2007 verurteilt, Trennungsunterhalt bis einschließlich März 2003 zu zah-
len; für die Zeit ab April 2003 wurde die Klage abgewiesen. Die Berufung des
Klägers hatte wegen des ausgeurteilten Unterhalts teilweise Erfolg; die Beru-
fung der Beklagten wurde zurückgewiesen.
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Im vorliegenden Rechtsstreit, der seit Ende Dezember 2005 anhängig ist,
begehrt der Kläger die Rückzahlung des für die Zeit von April 2003 bis August
2004 in Höhe von monatlich 491 € gezahlten Unterhalts zuzüglich Zinsen und
angefallener Vollstreckungskosten.
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Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Be-
klagten hat das Oberlandesgericht das angefochtene Urteil abgeändert und die
Klage als unzulässig abgewiesen. Dagegen richtet sich die zugelassene Revi-
sion des Klägers.
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Entscheidungsgründe:
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Gegen die im Verhandlungstermin nicht vertretene Beklagte ist durch
Versäumnisurteil zu entscheiden. Dieses beruht jedoch inhaltlich nicht auf der
Säumnis; es berücksichtigt den gesamten Sach- und Streitstand (vgl. BGHZ 37,
79, 81 ff.).
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Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen
Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht.
1. Das Oberlandesgericht, dessen Entscheidung in FamRZ 2009, 1696
veröffentlicht ist, hat die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs im
vorliegenden Verfahren für treuwidrig gehalten. Zur Begründung hat es im We-
sentlichen ausgeführt: Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
sei der Streit darüber, ob ein Prozessvergleich nichtig sei, grundsätzlich in Fort-
führung des Ursprungsverfahrens auszutragen. Darüber hinaus habe der Bun-
desgerichtshof entschieden, dass grundsätzlich auch der Anspruch auf Rücker-
stattung der aufgrund des Vergleichs erbrachten Leistungen durch Fortsetzung
des Ausgangsverfahrens geltend zu machen sei, weshalb das Rechtsschutzbe-
dürfnis für eine neue Klage zu verneinen sei. Daher habe der im Januar 2006
im vorliegenden Verfahren zugestellten Klage zunächst das Rechtsschutzbe-
dürfnis gefehlt. Dies gelte nach rechtskräftiger Beendigung des Ausgangsver-
fahrens zwar nicht mehr. Die prozessuale Situation, bei der nicht mehr auf das
fehlende Rechtsschutzbedürfnis abgestellt werden könne, habe der Kläger aber
in treuwidriger Weise erlangt. Er habe das vorliegende Verfahren im Hinblick
auf das Ausgangsverfahren nach der mündlichen Verhandlung vom 6. Juli 2006
nicht mehr betrieben und erst Ende 2007 - zunächst formal - wieder aufge-
nommen, um nach der Beendigung jenes Verfahrens die Forderung in dem vor-
liegenden Rechtsstreit weiterzuverfolgen. Auch die Geltendmachung verfah-
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rensrechtlicher Rechte unterliege den Grundsätzen von Treu und Glauben und
könne mit der Folge verwirkt werden, dass die Rechte nicht mehr ausgeübt
werden dürften. Die Verwirkung setze einen längeren Zeitraum voraus, wäh-
renddessen die Möglichkeit der Einleitung von Verfahrensschritten bestanden
habe. Diese Möglichkeit müsse dem Berechtigten bewusst gewesen sein. Da-
bei stehe der positiven Kenntnis regelmäßig gleich, wenn die fragliche Streitfra-
ge in der höchstrichterlichen Rechtsprechung seit längerem geklärt sei. Das sei
hier der Fall gewesen. Zudem sei der Ausgangspunkt der Rechtsprechung in
der Senatsentscheidung in dem Abänderungsverfahren nochmals deutlich ge-
macht worden. Wenn der Kläger gleichwohl über zumindest zwei Jahre hin
nicht die Konsequenzen hieraus gezogen habe, so bleibe die bereits ursprüng-
lich wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässige Klage auch wei-
terhin aus dem Gesichtspunkt der prozessualen Verwirkung unzulässig.
2. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung im Ergebnis
nicht stand.
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a) Zutreffend ist allerdings der rechtliche Ausgangspunkt des Berufungs-
gerichts. Der Prozessvergleich hat eine Doppelnatur: Er ist einerseits Prozess-
handlung, deren Wirksamkeit sich nach den Grundsätzen des Verfahrensrechts
bestimmt, und andererseits privates Rechtsgeschäft, für das die Regeln des
materiellen Rechts gelten (hM, vgl. etwa BGHZ 142, 253 = NJW 1999, 2903 f.
und Senatsurteil vom 24. Oktober 1984 - IV b ZR 35/83 - FamRZ 1985, 166
jeweils mwN). Da die Prozesshandlung nur die "Begleitform" für einen materiell-
rechtlichen Vergleich ist, verliert sie ihre Wirksamkeit, wenn der materielle Ver-
gleich seinerseits unwirksam ist oder wird; dem Vergleich wird die verfahrens-
rechtliche Wirkung der Prozessbeendigung entzogen, wenn er aus sachlich-
rechtlichen Gründen unwirksam ist.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist der Streit
darüber, ob ein Prozessvergleich nichtig ist, deshalb in Fortführung des Ur-
sprungsverfahrens auszutragen. Maßgeblich hierfür ist vor allem die Erwägung,
dass ein nichtiger Prozessvergleich nicht zur Beendigung des Ursprungsverfah-
rens geführt hat; einer neuen Klage würde daher, jedenfalls soweit mit ihr das
ursprüngliche Prozessziel bei unverändert gebliebenem Streitgegenstand wei-
terverfolgt werden soll, der Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit entgegen-
stehen (BGHZ 142, 253 = NJW 1999, 2903 f.; BGHZ 87, 227 = NJW 1983,
2034 f. jeweils mwN).
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b) Das Berufungsgericht hat ebenfalls richtig gesehen, dass der Bundes-
gerichtshof in Fortführung dieser Rechtsprechungsgrundsätze das Rechts-
schutzbedürfnis auch für eine neue Klage verneint hat, mit der die Leistungen
zurückgefordert werden, die aufgrund eines nichtigen Vergleichs erbracht wor-
den sind. Das soll jedenfalls dann gelten, wenn die Leistungen ausschließlich
die durch den Vergleich auf eine neue Grundlage gestellte Klageforderung des
Ursprungsverfahrens betreffen (BGHZ 142, 253 = NJW 1999, 2903 f.). Zwar sei
die Rückforderung der erbrachten Leistungen gegenüber der Ursprungsforde-
rung ein anderer Streitgegenstand. Sie beruhe auf einem anderen Klagegrund,
nämlich der behaupteten Unwirksamkeit des Prozessvergleichs. Dies bedeute
jedoch, dass die Entscheidung in der Sache in gleicher Weise wie die Weiter-
verfolgung der ursprünglichen Klageforderung von der Wirksamkeit des Ver-
gleichs abhänge. Deshalb würden die gegen ein Rechtsschutzbedürfnis für eine
neue Klage sprechenden Umstände in vollem Umfang auch insoweit gelten.
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Die Entscheidung hat teilweise Zustimmung gefunden (Zöller/Stöber
ZPO 28. Aufl. § 794 Rn. 15 a; Musielak/Lackmann ZPO 7. Aufl. § 794 Rn. 21;
Erman/Terlau BGB 12. Aufl. § 779 Rn. 31; im Ergebnis zustimmend: Becker-
Eberhard ZZP 113, 366, 372), teilweise aber auch Kritik erfahren (Münzberg JZ
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2000, 422
ff.; Stein/Jonas/Münzberg ZPO 22.
Aufl. §
794 Rn.
61, 77;
Staudinger/Marburger BGB [2009] § 779 Rn. 116; Wolfsteiner in MünchKomm-
ZPO 3. Aufl. § 794 Rn. 74; Grunsky LM ZPO § 794 Abs. 1 Ziff. 11 Nr. 44;
Heinrich WuB VII A § 794 ZPO 1.00). Die Gegenansicht stellt im Wesentlichen
darauf ab, dass der Rückforderungsklage ein anderer Streitgegenstand zugrun-
de liege; der Anspruch könne deshalb auch außerhalb des Vorprozesses ein-
geklagt werden.
c) Ob der vorgenannten Entscheidung gleichwohl zu folgen ist, kann
- wie das Berufungsgericht zu Recht angenommen hat - im vorliegenden Fall
dahinstehen. Denn das - fortgeführte - Ausgangsverfahren ist durch Urteil des
Berufungsgerichts vom 10.
März 2008 rechtskräftig abgeschlossen, eine
Rechtsverfolgung in jenem Verfahren mithin nicht mehr möglich. Das Rechts-
schutzbedürfnis für eine neue Klage kann deshalb im Hinblick auf das Aus-
gangsverfahren nicht mehr verneint werden.
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d) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hat der Kläger die
prozessuale Situation, in der nicht mehr auf das fehlende Rechtsschutzbedürf-
nis abgestellt werden kann, nicht in treuwidriger Weise erlangt. Er hat insbe-
sondere nicht das Recht, den Rückzahlungsanspruch einzuklagen, verwirkt.
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aa) Das Berufungsgericht hat seine gegenteilige Ansicht damit begrün-
det, die Notwendigkeit der Fortsetzung des Ursprungsverfahrens sei in der
höchstrichterlichen Rechtsprechung seit längerem geklärt. Zudem sei der Aus-
gangspunkt dieser Rechtsprechung in dem Urteil vom 10. März 2008 nochmals
deutlich gemacht worden. Wenn der Kläger hieraus gleichwohl über zwei Jahre
keine Konsequenzen gezogen habe, so bleibe die ursprünglich wegen fehlen-
den Rechtsschutzbedürfnisses unzulässige Klage wegen Verwirkung unzuläs-
sig.
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bb) Diese Erwägungen vermögen die Annahme der Verwirkung indessen
nicht zu rechtfertigen. Ein Recht ist verwirkt, wenn der Berechtigte es längere
Zeit nicht geltend gemacht hat, obwohl er dazu in der Lage gewesen wäre (so-
genanntes Zeitmoment) und der Verpflichtete sich darauf eingerichtet hat und
sich nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten auch darauf einrichten
durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (sogenanntes
Umstandsmoment; st.Rspr., vgl. etwa Senatsurteil vom 12.
März 2008
- XII ZR 147/05 - NJW 2008, 2254 Rn. 22 mwN).
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Die vom Berufungsgericht gegebene Begründung betrifft allein das so-
genannte Zeitmoment. Dass die Beklagte aus dem zeitweisen Nichtbetreiben
des vorliegenden Rechtsstreits berechtigterweise den Schluss ziehen konnte,
der Beklagte werde den Rechtsstreit nicht mehr aufnehmen und sein Recht
nicht mehr geltend machen, ist deshalb nicht festgestellt. Dafür ist auch sonst
nichts ersichtlich. Wie die Revision zu Recht geltend gemacht hat, hat der Klä-
ger das Verfahren, dessen Ruhen in der mündlichen Verhandlung vor dem Fa-
miliengericht vom 6. Juli 2006 angeordnet worden war, mit Schriftsatz vom
31. Dezember 2007 wieder aufgenommen und um Anberaumung eines Termins
gebeten. Mit Verfügung vom 8. Januar 2008 wurde ihm daraufhin vom Famili-
engericht der Hinweis erteilt, dass der Ausgang des Rechtstreits bei dem Ober-
landesgericht abgewartet werden sollte.
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Der Kläger hat zu dem Hinweis mit Schriftsatz vom 15. Januar 2008 Stel-
lung genommen und mitgeteilt, es würden keine Einwendungen erhoben, wenn
das Gericht im April terminiere, und für den Fall, dass eine Entscheidung des
Oberlandesgerichts in der anderen Sache noch nicht vorliege, dieser Termin
wieder aufgehoben und neuer Termin bestimmt werde.
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Bei dieser Sachlage durfte die Beklagte sich aber nicht darauf einrichten,
der Kläger werde den Klageanspruch nicht weiterverfolgen. Vielmehr musste ihr
aufgrund des auch ihr zugegangenen gerichtlichen Hinweises und der Stellung-
nahme des Klägers hierzu bewusst sein, dass dieser lediglich den Ausgang des
Ursprungsverfahrens abwarten würde.
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3. Danach kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben. Der Se-
nat ist nicht in der Lage, in der Sache abschließend zu entscheiden. Die Sache
ist deshalb an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, das nunmehr über die
Begründetheit der Klage zu befinden haben wird.
Dose Weber-Monecke
Klinkhammer
Schilling Nedden-Boeger
Vorinstanzen:
AG Koblenz, Entscheidung vom 18.09.2008 - 20 F 1/06 -
OLG Koblenz, Entscheidung vom 25.03.2009 - 13 UF 623/08 -