Urteil des BGH vom 06.07.2011

Leitsatzentscheidung zu Berufungsschrift, Berufungsfrist, Hindernis, Sorgfalt, Fristversäumnis

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 88/11
vom
6. Juli 2011
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO §§ 234 B, 238 Abs. 2, § 522 Abs. 1 Satz 4
a) Die Wiedereinsetzungsfrist beginnt spätestens mit dem Zeitpunkt, in dem der ver-
antwortliche Anwalt bei Anwendung der unter den gegebenen Umständen von ihm
zu erwartenden Sorgfalt die eingetretene Säumnis hätte erkennen können und
müssen (Senatsbeschluss vom 7. Februar 1996 - XII ZB 107/94 - FamRZ 1996,
934).
b) Wird dem Anwalt die Handakte zur Fertigung der Berufungsbegründung vorgelegt,
muss er anhand der Handakte auch prüfen, ob die Berufungsfrist eingehalten
worden ist.
BGH, Beschluss vom 6. Juli 2011 - XII ZB 88/11 - LG Lübeck
AG Oldenburg i. Holstein
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. Juli 2011 durch die Vorsit-
zende Richterin Dr. Hahne und die Richter Weber-Monecke, Dose, Schilling
und Dr. Günter
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer
des Landgerichts Lübeck vom 24. Januar 2011 wird auf Kosten
des Klägers verworfen.
Beschwerdewert: bis 19.000
Gründe:
I.
Der Kläger wendet sich mit der Rechtsbeschwerde gegen die Zurückwei-
sung seines Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die damit
einhergehende Verwerfung seiner Berufung.
Das Amtsgericht hat die Klage auf Rückzahlung restlicher Mietkaution
abgewiesen und der auf Zahlung bzw. Feststellung gerichteten Widerklage
stattgegeben. Das Urteil ist dem Kläger am 30. Oktober 2009 zugestellt worden.
Die Berufungsschrift des Klägers ist beim Berufungsgericht am 2. Dezember
2009 eingegangen, worauf das Gericht die Parteien mit Schreiben gleichen Da-
tums hingewiesen hatte. Bereits am 30. November 2009 war die Berufungs-
schrift in Form eines Telefaxes an das Amtsgericht gesandt worden. Dieses
hatte sie an das Berufungsgericht weitergeleitet, wo das Telefax am
3. Dezember 2009 schließlich eingegangen war. Nachdem das Berufungsge-
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richt den Kläger am 12. Januar 2011 darauf hingewiesen hatte, dass die Beru-
fungsfrist nicht eingehalten sei, hat er am 14. Januar 2011 Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand beantragt.
Diesen Antrag hat das Berufungsgericht mit dem angefochtenen Be-
schluss zurückgewiesen und zugleich die Berufung des Klägers als unzulässig
verworfen. Dem Antrag des Beklagten (richtig: Klägers) sei nicht zu entspre-
chen, da er nicht innerhalb der Ausschlussfrist des § 234 Abs. 3 ZPO gestellt
worden sei. Die Kammer sei nicht gehalten gewesen, vor Ablauf dieser Jahres-
frist über die Zulässigkeit der Berufung zu entscheiden. Besondere Umstände,
bei deren Vorliegen die Ausschlussfrist nicht eingreife, lägen nicht vor. Zudem
hätte auch der Beklagtenvertreter (richtig: Klägervertreter) Kenntnis von den
Tatsachen, aus denen sich die Unzulässigkeit der Berufung ergäbe. Hiergegen
wendet sich der Kläger mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist unzulässig. Sie ist zwar gemäß § 574 Abs. 1
Nr. 1 i.V.m. §§ 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 ZPO statthaft und frist- sowie
formgerecht eingelegt worden. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwer-
de fehlt es jedoch an den Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO. Namentlich
ist eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung nicht erforderlich.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Begründung der angefochtenen
Entscheidung zur Anwendung der Ausschlussfrist des § 234 Abs. 3 ZPO den
entsprechenden Angriffen der Rechtsbeschwerde standhielte.
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Die angefochtene Entscheidung beruht jedenfalls nicht auf einer mög-
licherweise fehlerhaften Anwendung der Ausschlussfrist des § 234 Abs. 3 ZPO.
Nach den getroffenen Feststellungen war der Antrag auf Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand bereits gemäß § 234 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO unzulässig.
a) Nach § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO muss die Wiedereinsetzung innerhalb
einer zweiwöchigen Frist beantragt werden. Nach § 234 Abs. 2 ZPO beginnt die
Frist mit dem Tag, an dem das Hindernis - hier also die Unkenntnis von dem
verspäteten Eingang der Berufungsschrift beim Berufungsgericht - behoben ist.
Dabei ist ein Hindernis nicht erst bei Kenntnis des wahren Sachverhalts entfal-
len; es ist im Sinne von § 234 Abs. 2 ZPO auch behoben, sobald die Unkennt-
nis und damit die Verhinderung nicht mehr unverschuldet ist (BGH Beschlüsse
vom 16. September 2003 - X ZR 37/03 - NJW-RR 2004, 282, 283; vom 13. Juli
2004 - XI ZB 33/03 - NJW-RR 2005, 76, 77 und Senatsbeschluss vom
7. Februar 1996 - XII ZB 107/94 - FamRZ 1996, 934). Die Wiedereinsetzungs-
frist beginnt deshalb spätestens mit dem Zeitpunkt, in dem der verantwortliche
Anwalt bei Anwendung der unter den gegebenen Umständen von ihm zu erwar-
tenden Sorgfalt die eingetretene Säumnis hätte erkennen können und müssen
(Senatsbeschluss vom 7. Februar 1996 - XII ZB 107/94 - FamRZ 1996, 935;
vgl. auch BGH Beschluss vom 28. Oktober 2009 - IV ZB 10/09 - NJW-RR 2010,
1000 Rn. 9).
b) Gemessen hieran war die zweiwöchige Frist des § 234 Abs. 1 Satz 1
ZPO im Zeitpunkt der Antragstellung bereits abgelaufen.
Spätestens bei Vorlage der Handakte zur Fertigung der Berufungsbe-
gründung, deren Frist am 30. Dezember 2009 ablief, hatte der Prozessbevoll-
mächtigte des Klägers Anlass gehabt, auch die Einhaltung der Berufungsfrist zu
überprüfen. Hierbei hätte er namentlich anhand der gerichtlichen Eingangsbe-
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stätigung vom 2. Dezember 2009 bemerken müssen, dass die Berufung beim
Gericht erst am gleichen Tag eingegangen war. Im Übrigen hatte der Beklag-
tenvertreter (unzutreffend die Bezeichnung durch das Berufungsgericht als Klä-
gervertreter) mit Schriftsatz vom 22. Februar 2010, also rund 11 Monate vor
Eingang des Wiedereinsetzungsantrages, auf eine mögliche Fristversäumnis
hingewiesen.
Hahne
Weber-Monecke
Dose
Schilling
Günter
Vorinstanzen:
AG Oldenburg i. Holstein, Entscheidung vom 12.10.2009 - 23 C 330/06 -
LG Lübeck, Entscheidung vom 24.01.2011 - 1 S 127/09 -