Urteil des BGH vom 23.11.2016

Leitsatzentscheidung zu Anhörung, Unterbringung, Fristende, Verwertung

ECLI:DE:BGH:2016:231116BXIIZB458.16.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 458/16
vom
23. November 2016
in der Unterbringungssache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
FamFG §§ 68 Abs. 3 Satz 2, 329 Abs. 2 Satz 2
a) Hat das Beschwerdegericht ein neues Sachverständigengutachten eingeholt, auf
das es seine Entscheidung zu stützen beabsichtigt, ist der Betroffene vor der Ent-
scheidung erneut persönlich anzuhören (im Anschluss an Senatsbeschluss vom
2. Dezember 2015 - XII ZB 227/12 - FamRZ 2016, 300).
b) Im Hinblick auf dessen Verfahrensfähigkeit (§ 316 FamFG) ist das in einem Unter-
bringungsverfahren eingeholte vollständige Gutachten grundsätzlich auch dem Be-
troffenen persönlich zur Verfügung zu stellen (Fortführung von Senatsbeschluss
vom 16. September 2015 - XII ZB 250/15 - FamRZ 2015, 2156).
c) Die Verpflichtung des Gerichts gemäß § 329 Abs. 2 Satz 2 FamFG, einen exter-
nen Gutachter zu bestellen, setzt nicht voraus, dass die Unterbringung bereits im
Zeitpunkt der Entscheidung in der letzten Tatsacheninstanz vier Jahre vollzogen
ist. Ausreichend ist vielmehr, dass der mit der angefochtenen Entscheidung ver-
längerte Unterbringungszeitraum über das Fristende hinausreicht.
BGH, Beschluss vom 23. November 2016 - XII ZB 458/16 - LG Itzehoe
AG Pinneberg
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 23. November 2016 durch
den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Dr. Klinkhammer, Schilling,
Dr. Botur und Guhling
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der
4. Zivilkammer des Landgerichts Itzehoe vom 11. August 2016
aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Land-
gericht zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Die Betroffene wendet sich gegen die Verlängerung ihrer geschlossenen
Unterbringung.
Sie leidet seit den achtziger Jahren an einer schizoaffektiven Psychose
und an einer langjährig bestehenden Alkoholabhängigkeit. Der Vater und der
Bruder der Betroffenen sind zu ihren Betreuern bestellt worden. Sie lebt seit
dem 14. November 2013 im geschützten Bereich des Seniorenzentrums H.,
wobei die geschlossene Unterbringung der Betroffenen durch das Amtsgericht
zuletzt bis zum 30. April 2016 genehmigt war.
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Das Amtsgericht hat die weitere Unterbringung der Betroffenen auf An-
trag der Betreuer nach Einholung eines Gutachtens der Sachverständigen P.
und nach Anhörung der Betroffenen bis zum 20. März 2018 genehmigt. Das
Landgericht, das ein ergänzendes Sachverständigengutachten der Gutachte-
rin F. zur Frage des freien Willens eingeholt hatte, hat die Beschwerde ohne
erneute Anhörung der Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die
Betroffene mit ihrer Rechtsbeschwerde.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der ange-
fochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landge-
richt.
1. Das vom Landgericht durchgeführte Verfahren hält den Rügen der
Rechtsbeschwerde nicht stand.
a) Das Landgericht hätte die Betroffene selbst anhören müssen, weil es
in der Beschwerdeinstanz ein neues Sachverständigengutachten zur Frage des
freien Willens eingeholt und seine Entscheidung hierauf gestützt hat.
aa) Zwar kann das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG
von der persönlichen Anhörung absehen, wenn diese bereits im ersten Rechts-
zug vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung keine neuen
Erkenntnisse zu erwarten sind. Nach Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung
vorgetragene Tatsachen oder eine Änderung der Sachlage erfordern aber nur
dann keine erneute Anhörung, wenn diese Tatsachen oder die Änderung offen-
sichtlich für die Entscheidung unerheblich sind. Zieht das Beschwerdegericht für
seine Entscheidung mit einem neuen Sachverständigengutachten eine neue
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Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Anhörung datiert, so
ist eine erneute Anhörung des Betroffenen dagegen geboten (Senatsbeschluss
vom 2. Dezember 2015 - XII ZB 227/12 - FamRZ 2016, 300 Rn. 9 mwN).
bb) Vorliegend hat das Landgericht zu der Frage, ob die Betroffene noch
in der Lage ist, einen freien Willen zu bilden, ein neues Sachverständigengut-
achten eingeholt. Der Beweisbeschluss des Amtsgerichts verhält sich hierzu
demgegenüber nicht, weshalb die Sachverständige P. auch nicht vertieft auf
diese Frage eingegangen ist. Das Landgericht hat seine Entscheidung zur Fra-
ge des freien Willens demgemäß maßgeblich auf das Gutachten der Sachver-
ständigen F. gestützt. Bei dieser Sachlage hätte es die Betroffene indes selbst
anhören müssen, da es mit dem Sachverständigengutachten eine neue Tatsa-
chengrundlage herangezogen hat.
b) Außerdem hätte das Gutachten der Sachverständigen P. nicht verwer-
tet werden dürfen.
aa) Dies folgt bereits daraus, dass das Gutachten
– wie die Rechtsbe-
schwerde zu Recht rügt
– der Betroffenen nach Aktenlage nicht übergeben
worden ist.
(1) Die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage ei-
ner Entscheidung in der Hauptsache setzt gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraus,
dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt
hat. Im Hinblick auf dessen Verfahrensfähigkeit (§ 316 FamFG) ist das vollstän-
dige Gutachten grundsätzlich auch dem Betroffenen persönlich zur Verfügung
zu stellen (vgl. Senatsbeschluss vom 16. September 2015 - XII ZB 250/15 -
FamRZ 2015, 2156 Rn. 15 mwN zur Betreuung).
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(2) Diesen Anforderungen wird das vorliegende Verfahren nicht gerecht.
Ausweislich des Protokolls des Amtsgerichts vom 22. April 2016 wurde das
Gutachten lediglich "auszugsweise" erörtert. Es lässt sich daher nicht feststel-
len, ob sich die Betroffene hierzu abschließend einlassen konnte.
bb) Einer Verwertung des Sachverständigengutachtens steht ferner die
Regelung des § 329 Abs. 2 Satz 2 FamFG entgegen.
(1) Danach soll das Gericht bei Unterbringungen mit einer Gesamtdauer
von mehr als vier Jahren keinen Sachverständigen bestellen, der den Betroffe-
nen bisher behandelt oder begutachtet hat oder in der Einrichtung tätig ist, in
der der Betroffene untergebracht ist. Dabei muss die Unterbringung nicht be-
reits im Zeitpunkt der Entscheidung in der letzten Tatsacheninstanz vier Jahre
vollzogen sein. Ausreichend ist vielmehr, dass der mit der angefochtenen Ent-
scheidung verlängerte Unterbringungszeitraum über das Fristende hinausreicht.
Denn die gesetzliche Vorschrift will gerade vermeiden, dass eine Unterbringung
über einen Zeitraum von vier Jahren hinaus aufrechterhalten wird, ohne dass
ihr das Gutachten eines außenstehenden Sachverständigen zugrunde liegt
(Keidel/Budde FamFG 18. Aufl. § 329 Rn. 15 mwN).
(2) Nach den getroffenen Feststellungen ist die Betroffene seit November
2013 geschlossen untergebracht. Rechnet man den mit dem angefochtenen
Beschluss genehmigten Zeitraum bis zum 20. März 2018 hinzu, dauert die Un-
terbringung mehr als vier Jahre. Deshalb hätte die Sachverständige P., die
– wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt – ersichtlich auch die behandelnde
Ärztin der Betroffenen ist bzw. war
und deren Gutachten sich u.a. auf "den per-
sönlichen Kontakt (…) zur Betroffenen seit November 2013 im Rahmen der
psychiatrischen Betreuung des Seniorenzentrums H." stützt, nicht zur Gutachte-
rin bestellt werden dürfen. Besondere Gründe dafür, dass ausnahmsweise von
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der in § 329 Abs. 2 Satz 2 FamFG niedergelegten Regel abgewichen werden
konnte, hat das Landgericht nicht benannt.
Dieser Verfahrensfehler wird auch nicht etwa deshalb entkräftet, weil ein
weiteres Gutachten der Sachverständigen F. eingeholt worden ist. Denn dieses
verhält sich allein zum freien Willen, weshalb das Landgericht seine Entschei-
dung maßgeblich auch auf das Gutachten des Sachverständigen P. gegründet
hat.
2. Danach ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben. Eine eigene
Sachentscheidung ist dem Senat verwehrt, weil die Sache nicht entscheidungs-
reif ist (vgl. § 74 Abs. 6 Satz 1 und 2 FamFG). Sie ist deshalb an das Landge-
richt zurückzuverweisen.
Die Zurückverweisung wird dem Landgericht Gelegenheit geben, zu klä-
ren, ob § 329 Abs. 2 Satz 2 FamFG auch einer Bestellung der Sachverständi-
gen F. und damit der Verwertbarkeit ihres Gutachtens entgegensteht.
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Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil
sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeu-
tung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Recht-
sprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Dose
Klinkhammer
Schilling
Botur
Guhling
Vorinstanzen:
AG Pinneberg, Entscheidung vom 25.04.2016 - 42 XVII 14577 -
LG Itzehoe, Entscheidung vom 11.08.2016 - 4 T 150/16 -
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