Urteil des BGH vom 10.10.2012

Leitsatzentscheidung zu Aussetzung, Überwiegendes Öffentliches Interesse, Hauptsache, Wichtiger Grund, Überzeugung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 444/11
vom
10. Oktober 2012
in der Familiensache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
FamFG § 21
GG Art. 100 Abs. 1
a) Der Anfechtung nach § 21 Abs. 2 FamFG unterliegen sowohl Beschlüsse, die eine
Aussetzung des Verfahrens anordnen als auch solche Beschlüsse, mit denen die
von einem Verfahrensbeteiligten angeregte oder beantragte Aussetzung abge-
lehnt wird.
b) Solange sich das Gericht keine abschließende Überzeugung von der Verfas-
sungswidrigkeit eines entscheidungserheblichen Gesetzes gebildet hat, ist die
Aussetzung eines Verfahrens nach § 21 Abs. 1 FamFG ohne gleichzeitige Vorlage
an das Bundesverfassungsgericht möglich, wenn die Verfassungsmäßigkeit die-
ses Gesetzes bereits Gegenstand einer anhängigen Verfassungsbeschwerde oder
Richtervorlage ist.
c) Das Vorliegen eines Aussetzungsgrundes nach § 21 FamFG unterliegt der vollen
Nachprüfung durch das Beschwerdegericht. Das Beschwerdegericht hat dabei
grundsätzlich die durch das vorinstanzliche Gericht vertretene Rechtsauffassung
hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit und der Entscheidungserheblichkeit einer
Rechtsvorschrift zugrunde zu legen.
BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2012 - XII ZB 444/11 - OLG Stuttgart
AG Stuttgart-Bad Cannstatt
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. Oktober 2012 durch den
Vorsitzenden Richter Dose, die Richterinnen Weber-Monecke und Dr. Vézina
und die Richter Dr. Günter und Dr. Botur
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 11. Zivilsenats
- Familiensenat - des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 20. Juli
2011 wird auf Kosten des Antragstellers zurückgewiesen.
Beschwerdewert: bis 600
€.
Gründe:
I.
Der minderjährige Betroffene wurde im Februar 2005 nichtehelich gebo-
ren. Die Mutter des Kindes ist serbische Staatsangehörige aus dem Kosovo, die
sich zu diesem Zeitpunkt nach Ablehnung von Asyl- und Asylfolgeanträgen mit
vier weiteren minderjährigen Kindern aufgrund einer ausländerrechtlichen Dul-
dung im Bundesgebiet aufhielt. Im April 2006 erkannte der Beteiligte zu 1, ein
deutscher Staatsangehöriger, mit Zustimmung der Kindesmutter vor dem Ju-
gendamt der Stadt S. die Vaterschaft für das betroffene Kind an. Aufgrund der
durch die Vaterschaftsanerkennung durch den Beteiligten zu 1 vermittelten
deutschen Staatsangehörigkeit des Betroffenen wurde der Kindesmutter und
ihren weiteren Kindern im September 2006 eine befristete Aufenthaltserlaubnis
erteilt. Eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Beteiligten zu 1 und dem
betroffenen Kind besteht nicht.
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Im Juli 2010 hat der Antragsteller auf der Grundlage der ihm durch Lan-
desrecht übertragenen Zuständigkeit unter Hinweis auf das behördliche Anfech-
tungsrecht nach § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB die Vaterschaft angefochten. Das
betroffene Kind ist der Vaterschaftsanfechtung entgegengetreten und hat bean-
tragt, das Verfahren im Hinblick auf die beim Bundesverfassungsgericht auf-
grund von Richtervorlagen des Oberlandesgerichts Bremen (FamRZ 2011,
1073) und des Amtsgerichts Hamburg-Altona (StAZ 2010, 306) anhängigen
Normenkontrollverfahren zu § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB auszusetzen. Das Amts-
gericht hat diesen Antrag durch Beschluss vom 19. Mai 2011 zurückgewiesen.
Auf die dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Oberlandes-
gericht die amtsgerichtliche Entscheidung abgeändert und das Verfahren in ers-
ter Instanz bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die bei-
den vorbenannten Richtervorlagen ausgesetzt.
Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner vom Beschwerdege-
richt zugelassenen Rechtsbeschwerde.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 21 Abs. 2 FamFG i.V.m. § 574
Abs. 1 Nr. 2 ZPO statthaft (vgl. Senatsbeschluss vom 15. Februar 2012
- XII ZB 451/11 - FamRZ 2012, 619 Rn. 5 mwN; BGHZ 184, 323 = FGPrax
2010, 154 Rn. 5). Das Rechtsmittel ist auch im Übrigen zulässig; in der Sache
hat es keinen Erfolg.
1. Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung aus-
geführt, dass es zwar nicht völlig von der Verfassungswidrigkeit des § 1600
Abs. 1 Nr. 5 BGB überzeugt sei. Die Richtervorlagen des Oberlandesgerichts
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Bremen und des Amtsgerichts Hamburg-Altona an das Bundesverfassungsge-
richt hätten auch nicht zwingend zur Folge, dass dieses Verfahren auszusetzen
sei.
Allerdings stellten die anderweitigen Richtervorlagen einen wichtigen
Grund im Sinne von § 21 FamFG dar. Daher müsse im vorliegenden Verfahren
nach richterlichem Ermessen über eine mögliche Aussetzung befunden werden.
Eine entsprechende Abwägung habe das Amtsgericht bei der Zurückweisung
des von dem betroffenen Kind gestellten Aussetzungsantrages nicht ausgeübt,
weil es in seiner Entscheidung ausschließlich darauf abgestellt habe, dass
§ 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB nach seiner Ansicht verfassungsgemäß sei. In die
Abwägung seien insbesondere die möglichen Nachteile der Fortsetzung des
Verfahrens einzubeziehen, die den Beteiligten entstehen, wenn später das
Bundesverfassungsgericht die Vorschrift des § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB für ver-
fassungswidrig erklären sollte. Diese seien abzuwägen gegen die Nachteile, die
bei Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts entstehen könnten. Die Abwägung aller Umstände spreche hier für ei-
ne Aussetzung des Verfahrens und gegen eine Fortsetzung, bei der als nächs-
tes die Vaterschaft des Beteiligten zu 1 zu klären wäre.
2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Überprüfung stand.
a) Mit Recht hat das Oberlandesgericht die Erstbeschwerde gegen die
angefochtene Zwischenentscheidung nach § 21 Abs. 2 FamFG i.V.m. § 567
Abs. 1 Nr. 1 ZPO als statthaft angesehen, obwohl das Amtsgericht das Verfah-
ren nicht ausgesetzt, sondern die beantragte Aussetzung des Verfahrens abge-
lehnt hat.
Ob auch der Beschluss, mit dem ein Antrag zur Aussetzung abgelehnt
wird, nach § 21 Abs. 2 FamFG der Anfechtung unterliegt, kann dem Wortlaut
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der Vorschrift nicht zweifelsfrei entnommen werden. § 21 Abs. 1 FamFG verhält
sich ausschließlich zur positiven Aussetzungsentscheidung, woraus abgeleitet
werden könnte, dass auch die im folgenden Absatz der Vorschrift eröffnete An-
fechtungsmöglichkeit nur gegenüber einer positiven Aussetzungsentscheidung
gelten soll. Gleichwohl hält die überwiegende Auffassung in Rechtsprechung
und Literatur auch die Anfechtung negativer Aussetzungsentscheidungen nach
§ 21 Abs. 2 FamFG für möglich (OLG Nürnberg FamRZ 2010, 1462 f.; Keidel/
Sternal FamFG 17. Aufl. § 21 Rn. 32; Musielak/Borth FamFG 3. Aufl. § 21
Rn. 5; Prütting/Ahn-Roth FamFG 2. Aufl. § 21 Rn. 12; Bumiller/Harders FamFG
10. Aufl. § 21 Rn. 5; a.A. Burschel in BeckOK FamFG [Stand: 1. Mai 2012] § 21
Rn. 17).
Der Senat tritt der herrschenden Auffassung bei. Eine Beschränkung der
Anfechtbarkeit von Beschlüssen auf positive Aussetzungsentscheidungen hätte
zur (systemwidrigen) Folge, dass in Familiensachen der freiwilligen Gerichts-
barkeit einerseits und in Ehesachen und Familienstreitsachen andererseits un-
terschiedliche Anfechtungsmöglichkeiten gegenüber Aussetzungsentscheidun-
gen der Gerichte bestünden, weil der in Ehesachen und Familienstreitsachen
über die Verweisung in § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG anwendbare § 252 ZPO
ausdrücklich auch die Anfechtung von negativen Aussetzungsentscheidungen
ermöglicht. Zudem entspricht die Erstreckung des Anwendungsbereichs von
§ 21 Abs. 2 FamFG auf solche Entscheidungen, mit denen die von einem Betei-
ligten beantragte Verfahrensaussetzung abgelehnt worden ist, den erkennbaren
Vorstellungen des Gesetzgebers, der mit der Vorschrift des § 21 Abs. 2 FamFG
die zum alten Recht der freiwilligen Gerichtsbarkeit allgemein vertretene Auf-
fassung zur Anfechtbarkeit der Aussetzungsentscheidung aufgreifen wollte (vgl.
BT-Drucks. 16/6308, S. 184). Unter der Geltung des alten Verfahrensrechts
entsprach es indessen allgemeiner Ansicht, dass sowohl positive als auch ne-
gative Aussetzungsentscheidungen mit der Beschwerde angegriffen werden
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konnten (vgl. die in der Begründung des Gesetzentwurfs ausdrücklich zitierte
Literaturmeinung bei Keidel/Kuntze/Winkler-Kahl FGG 15. Aufl. § 19 Rn. 13).
b) Mit Recht ist das Beschwerdegericht ferner davon ausgegangen, dass
ein Aussetzungsgrund im Sinne von § 21 Abs. 1 FamFG vorliegt.
Nach dieser Vorschrift kann das Gericht das Verfahren aus wichtigem
Grund aussetzen, insbesondere wenn die Entscheidung ganz oder zum Teil
vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den
Gegenstand eines anderen anhängigen Verfahrens bildet oder von einer Ver-
waltungsbehörde festzustellen ist. Das Vorliegen eines Aussetzungsgrundes als
Voraussetzung für die Ermessensentscheidung unterliegt im Beschwerdever-
fahren der uneingeschränkten Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht (vgl.
BGH Beschluss vom 12. Dezember 2005 - II ZB 30/04 - NJW-RR 2006, 1289
Rn. 6).
aa) Soweit im vorliegenden Fall allerdings die Frage zu beurteilen ist, ob
Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB bestehen,
ist in dem durch § 21 Abs. 2 FamFG eröffneten Rechtsmittelzug allein die
Rechtsansicht des Amtsgerichts zugrunde zu legen, das § 1600 Abs. 1 Nr. 5
BGB für verfassungsgemäß gehalten hat.
Hält das mit der Hauptsache befasste Gericht eine entscheidungserheb-
liche Norm für verfassungsgemäß und lehnt es deshalb eine Aussetzung des
Verfahrens und eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG an das Bundesverfas-
sungsgericht ab, kann diese Überzeugung des vorinstanzlichen Gerichts nach
allgemeiner Meinung nicht zum Gegenstand der Überprüfung in einem Rechts-
mittelverfahren gegen Zwischenentscheidungen gemacht werden (vgl. OLG
Bremen NJW 1956, 387; OLG Karlsruhe FamRZ 1979, 845; OLG Düsseldorf
NJW 1993, 411). Ein Fachgericht kann nur aufgrund einer Entscheidung des
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Bundesverfassungsgerichts (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) dazu verpflichtet werden,
ein entscheidungserhebliches Gesetz nicht anzuwenden. Solange es an einer
bindenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fehlt, bleibt die Frage,
welche gesetzlichen Vorschriften bei der Entscheidungsfindung angewendet
werden dürfen, ein Element der Sachentscheidung, die nach der sich aus dem
Gerichtsverfassungsgesetz ergebenden Aufgabenverteilung dem Gericht der
Hauptsache zugewiesen ist (vgl. Keidel/Sternal FamFG 17. Aufl. § 21 Rn. 54).
Das mit einem Rechtsmittel gegen eine Aussetzungsentscheidung befasste
Fachgericht kann seine eigene Überzeugung von der Verfassungsmäßigkeit
oder Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nicht an die Stelle der Überzeugung
des vorinstanzlichen Gerichts setzen.
bb) Ebenfalls der Überprüfung im Rechtsmittelzug weitgehend entzogen
ist die rechtliche Beurteilung des mit der Hauptsache befassten Gerichts zur
Frage der Entscheidungserheblichkeit des Gesetzes, über dessen Verfas-
sungsmäßigkeit die Beteiligten streiten; auch an diese Rechtsansicht der
Vorinstanz ist das Beschwerdegericht gebunden, sofern sie nicht offensichtlich
falsch ist (vgl. BAG NZA 2009, 1436 Rn. 9). Im vorliegenden Fall unterliegt es
keinem Zweifel, dass die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des § 1600
Abs. 1 Nr. 5 BGB entscheidungserhebliche Bedeutung hat. Denn würde § 1600
Abs. 1 Nr. 5 BGB, der die Grundlage der behördlichen Vaterschaftsanfechtung
darstellt, gegen Grundrechte des betroffenen Kindes verstoßen, könnte der
Rechtsstreit nicht entschieden werden.
cc) Ob auf der Grundlage dieser materiell-rechtlichen Beurteilungen
durch das Gericht der Hauptsache ein wichtiger Grund zur Aussetzung des Ver-
fahrens vorliegt, ist in dem durch § 21 Abs. 2 FamFG eröffneten Beschwerde-
verfahren vollständig zu prüfen.
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Die Aussetzung des Verfahrens nach § 21 Abs. 1 FamFG (oder den ver-
gleichbaren Bestimmungen anderer Verfahrensordnungen) ohne gleichzeitige
Vorlage an das Bundesverfassungsgericht ist nach ständiger Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofes grundsätzlich möglich, wenn die Verfassungsmäßig-
keit eines entscheidungserheblichen Gesetzes bereits Gegenstand einer an-
hängigen Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG) oder Richtervor-
lage (Art. 100 Abs. 1 GG) geworden ist. Voraussetzung für eine solche Ausset-
zung ist allerdings, dass sich das mit der Hauptsache befasste Fachgericht
- wie hier das Amtsgericht - noch keine abschließende Überzeugung von der
Verfassungswidrigkeit der anzuwendenden Rechtsnorm gebildet hat (Senats-
beschluss vom 27. Juni 2012 - XII ZB 89/10 - FamRZ 2012, 1489 Rn. 6; BGH
Beschlüsse vom 25. März 1998 - VIII ZR 337/97 - NJW 1998, 1957 und vom
18. Juli 2000 - VIII ZR 323/99 - RdE 2001, 20). Im anderen Falle kann und
muss das von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes überzeugte Gericht sein
Verfahren durch Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG an das Bundesverfassungs-
gericht fördern.
c) Ob das Gericht bei Vorliegen eines Aussetzungsgrundes von der Mög-
lichkeit der Verfahrensaussetzung nach § 21 Abs. 1 FamFG Gebrauch macht,
liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen (Senatsbeschluss vom 5. November
2008 - XII ZB 53/06 - FamRZ 2009, 303 Rn. 23).
aa) Bei dieser Ermessensentscheidung ist insbesondere zu berücksichti-
gen, ob den Beteiligten die aussetzungsbedingte Verfahrensverzögerung zu-
gemutet werden kann (KG OLGZ 1966, 357, 359; BayObLGZ 1967, 19, 23;
OLG Düsseldorf NJW-RR 1995, 832; OLG München FGPrax 2008, 254, 259).
Trägt das mit der Hauptsache befasste Gericht - wie hier das Amtsgericht - kei-
nerlei Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der entscheidungserheblichen Vor-
schrift, spricht dies in der Regel gewichtig dafür, den Interessen derjenigen Ver-
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fahrensbeteiligten, die nicht auf eine Aussetzung angetragen haben, an einer
zügigen Erledigung des Verfahrens den Vorrang einzuräumen (vgl. BGH Be-
schluss vom 14. März 2007 - X ZB 9/06 - GRUR 2007, 859, 861).
bb) Mit Recht hat das Beschwerdegericht allerdings erkannt, dass die
Entscheidung des Amtsgerichts auf einer zumindest unvollständigen Würdigung
aller maßgeblichen Umstände beruhte, weil bei der Ausübung des Ermessens
auch solche möglichen Nachteile in den Blick zu nehmen sind, die im Falle ei-
ner Verfahrensfortführung auf der Grundlage einer möglicherweise verfas-
sungswidrigen Vorschrift entstehen könnten (vgl. auch BVerfG FamRZ 2011,
787 Rn. 21).
(1) Zutreffend weist die Rechtsbeschwerde indessen darauf hin, dass je-
denfalls für den Beteiligten zu 2 bei einem Fortgang des Verfahrens in der
Hauptsache keine Nachteile zu besorgen gewesen wären, auch wenn das
Amtsgericht die von ihm bereits angekündigte Beweisaufnahme durch Einho-
lung eines Abstammungsgutachtens durchgeführt hätte.
Das Bundesverfassungsgericht hat zur Begründung für den Erlass einst-
weiliger Anordnungen (§ 32 Abs. 1 BVerfGG), die es im Rahmen von anhängi-
gen Verfassungsbeschwerden gegen Zwischenentscheidungen betreffend die
Einholung eines Abstammungsgutachtens in behördlichen Vaterschaftsanfech-
tungsverfahren erlassen hat, mehrfach darauf abgestellt, dass bei einer unge-
klärten sozial-familiären Bindung das eine Vaterschaft ausschließende Ergebnis
eines Abstammungsgutachtens dazu geeignet wäre, eine möglicherweise be-
stehende sozial-familiäre Beziehung zwischen Vater und Kind zu stören oder zu
zerstören (vgl. BVerfG FamRZ 2011, 787 Rn. 22 und Beschluss vom 7. Oktober
2010 - 1 BvR 2509/10 - juris Rn. 17). Unter diesen Voraussetzungen würde
auch in der hier vorliegenden Konstellation ein schwerwiegender Eingriff in das
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Elternrecht des Vaters (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) vorliegen, wenn das Bundes-
verfassungsgericht später § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB für verfassungswidrig erklä-
ren und damit dem behördlichen Vaterschaftsanfechtungsverfahren die Rechts-
grundlage entziehen würde.
Allerdings ist unter den hier obwaltenden Umständen nach den vom Be-
schwerdegericht getroffenen Feststellungen bereits unstreitig, dass zwischen
dem betroffenen Kind und dem Beteiligten zu 2 keine sozial-familiäre Bezie-
hung besteht. Darüber hinaus hat sich der Beteiligte zu 2 in diesem Verfahren
mit der "Aberkennung der Vaterschaft" einverstanden erklärt und seine Mitwir-
kung an einer molekulargenetischen Abstammungsuntersuchung ausdrücklich
angeboten. Ein Verfahrensfortgang könnte daher unabhängig von der mögli-
chen Verfassungswidrigkeit des § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB ersichtlich nicht zu
einer Verletzung verfassungsrechtlich geschützter Belange des Beteiligten zu 2
führen.
(2) Dies gilt indessen nicht für die Grundrechte des betroffenen Kindes
und der beteiligten Kindesmutter, die sich der Mitwirkung an einer molekularge-
netischen Abstammungsuntersuchung voraussichtlich widersetzen werden.
Jede Untersuchung und Verwendung von DNA-Identifizierungsmustern
greift in das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG verbürgte Persönlichkeitsrecht
in der Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ein. Denn
zu den grundrechtlich geschützten Daten gehören auch solche, die Informatio-
nen über genetische Merkmale einer Person enthalten, aus denen sich in Ab-
gleich mit den Daten einer anderen Person Rückschlüsse auf die Abstammung
ziehen lassen (BVerfG FamRZ 2007, 441, 443). Die Weigerung, an einer mole-
kulargenetischen Abstammungsuntersuchung mitzuwirken, ist Ausfluss dieses
(negativen) informationellen Selbstbestimmungsrechts (Senatsbeschluss BGHZ
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162, 1, 4 = FamRZ 2005, 340). Das Recht auf informationelle Selbstbestim-
mung wird zwar nicht schrankenlos gewährleistet. Es darf aber nur im überwie-
genden Interesse anderer Personen oder der Allgemeinheit und unter Beach-
tung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch Gesetz oder auf Grund
eines Gesetzes eingeschränkt werden (Senatsbeschluss BGHZ 162, 1, 5
= FamRZ 2005, 340; vgl. auch BVerfG FamRZ 2007, 441, 443).
Müssten das betroffene Kind und die Kindesmutter daher aufgrund einer
Beweisanordnung des Amtsgerichts eine Untersuchung ihres genetischen Ma-
terials dulden und erweist sich später, dass keine verfassungsgemäße Grund-
lage für das behördliche Anfechtungsrecht besteht, wäre wegen fehlender
Rechtfertigung durch ein überwiegendes öffentliches Interesse in ihre Grund-
rechte auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen worden. Vor unge-
rechtfertigten Zugriffen auf das Datenmaterial des Kindes ist die sorgeberech-
tigte Kindesmutter im Übrigen auch im Hinblick auf ihr Elternrecht (Art. 6 Abs. 2
Satz 1 GG) zu schützen, denn ihr Sorgerecht umfasst auch das Recht, darüber
bestimmen zu können, ob genetische Daten des Kindes erhoben und verwertet
werden dürfen (BVerfG FamRZ 2007, 441, 443). Der Umstand, dass die mögli-
che Weigerung des Kindes und seiner Mutter, an einer Abstammungsuntersu-
chung mitzuwirken, naheliegende aufenthaltsrechtliche Motive haben dürfte,
ändert an der Grundrechtsrelevanz des mit der Abstammungsuntersuchung
verbundenen Eingriffes nichts.
(3) Soweit die Rechtsbeschwerde weiter geltend macht, dass durch die
Verfahrensaussetzung auch das Grundinteresse des betroffenen Kindes an der
Kenntnis von seiner tatsächlichen Abstammung beeinträchtigt wird, ist darauf
hinzuweisen, dass ein Anfechtungsverfahren nicht vorrangig der Verwirklichung
des Rechts auf Kenntnis der Abstammung, sondern vielmehr der Herstellung
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einer Übereinstimmung von biologischer und rechtlicher Vaterschaft dient (vgl.
BVerfG NJW 2009, 425, 426).
(4) Wenn das Beschwerdegericht vor diesem Hintergrund offensichtlich
davon ausgeht, dass im Hinblick auf die Grundrechtsrelevanz der Abstam-
mungsuntersuchung die Nachteile der Verfahrensfortführung im Falle der Ver-
fassungswidrigkeit von § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB die Interessen des Antragstel-
lers an einer zügigen Erledigung des Verfahrens überwiegen, hält diese Ermes-
sensausübung der eingeschränkten (vgl. dazu BGH Urteil vom 24. November
1995 - V ZR 174/94 - NJW 1996, 1054, 1055 mwN) Nachprüfung durch das
Rechtsbeschwerdegericht stand.
d) Im Übrigen erweist sich die Entscheidung des Beschwerdegerichts
zum jetzigen Zeitpunkt schon deshalb als richtig, weil sich der Senat - nach Er-
lass der angefochtenen Entscheidung - der Auffassung angeschlossen hat,
dass die behördliche Vaterschaftsanfechtung nach § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB in
ihrer derzeitigen gesetzlichen Ausgestaltung wegen der Verletzung des Gebots
der Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder (Art. 6 Abs. 5 GG) ver-
fassungswidrig ist. Der Senat hat zwei bei dem Bundesgerichtshof als Rechts-
beschwerdegericht anhängige Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG aus-
gesetzt und Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage
eingeholt (Senatsbeschlüsse vom 27. Juni 2012 - XII ZR 89/10 - FamRZ 2012,
1489 Rn. 34 ff. und - XII ZR 90/10 - juris Rn. 32 ff.).
Zwar ist bereits dargelegt worden, dass für die Frage nach dem Vorlie-
gen eines Aussetzungsgrundes im Rahmen des nach § 21 Abs. 2 FamFG er-
öffneten Beschwerderechtszuges grundsätzlich die Rechtsauffassung des mit
der Hauptsache befassten Gerichts zugrunde zu legen ist. Die von einem über-
geordneten Fachgericht gewonnene Überzeugung von der Verfassungswidrig-
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keit einer entscheidungserheblichen Rechtsnorm kann allerdings im Rahmen
der Ermessensausübung Bedeutung gewinnen, wenn dieses als zuständiges
Gericht mit einem Rechtsmittel gegen die Entscheidung in der Hauptsache be-
fasst werden kann und bereits feststeht, dass es die der Verfassungsbeschwer-
de oder der anderweitigen Richtervorlage zugrundeliegende Rechtsauffassung
teilt (vgl. OLG Stuttgart FamRZ 2003, 538, 539). In diesen Fällen verbleibt dem
Gericht kaum Spielraum bei der Ausübung seines Aussetzungsermessens, weil
es den auf Verfahrensaussetzung antragenden Beteiligten regelmäßig nicht
zuzumuten ist, das Verfahren erst in eine höhere Instanz tragen zu müssen, um
dort die von ihnen erstrebte Aussetzung zu erreichen.
Dose
Weber-Monecke
Vézina
Günter
Botur
Vorinstanzen:
AG Stuttgart-Bad Cannstatt, Entscheidung vom 19.05.2011 - 8 F 972/10 -
OLG Stuttgart, Entscheidung vom 20.07.2011 - 11 WF 115/11 -