Urteil des BGH vom 16.09.2015

Leitsatzentscheidung zu Stationäre Behandlung, Unterbringung, Genehmigung, Anschluss

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
X I I Z B 2 5 0 / 1 5
vom
16. September 2015
in der Unterbringungssache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
FamFG § 37 Abs. 2, § 321 Abs. 1 Satz 2, § 329 Abs. 2 Satz 1
a) Der Gutachter in einer Unterbringungssache muss schon vor der Untersu-
chung des Betroffenen zum Sachverständigen bestellt worden sein (im An-
schluss an Senatsbeschluss vom 7. August 2013 - XII ZB 691/12 - FamRZ
2013, 1725).
b) Die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Entscheidungs-
grundlage setzt gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den
Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat (im Anschluss
an Senatsbeschluss vom 29. Januar 2014 - XII ZB 330/13 - FamRZ 2014,
649).
BGH, Beschluss vom 16. September 2015 - XII ZB 250/15 - LG Itzehoe
AG Itzehoe
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 16. September 2015
durch den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Schilling, Dr. Günter,
Dr. Nedden-Boeger und Dr. Botur
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass
der Beschluss des Amtsgerichts Itzehoe vom 28. April 2015 und
der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Itzehoe vom
30. April 2015 die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtsgebührenfrei
(§ 25 Abs. 2 GNotKG).
Die außergerichtlichen Kosten der Betroffenen werden der Staats-
kasse auferlegt (§ 337 Abs. 1 FamFG in entsprechender Anwen-
dung).
Gründe:
I.
Die 79jährige Betroffene leidet an einer schizomanischen Störung bei
teilweise ausgeprägtem paranoiden Wahn- und Beziehungserleben mit assozia-
tiver Lockerung und Affektlabilität, wegen derer sie ihre Angelegenheiten nicht
mehr selbst erledigen kann. Seit September 2010 steht sie unter rechtlicher
Betreuung.
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Auf Antrag des Betreuers hat das Amtsgericht am 17. März 2015 die Un-
terbringung der Betroffenen zwecks Heilbehandlung bis längstens zum 28. April
2015 genehmigt. Durch Beschluss vom 28. April 2015 hat es die weitere Unter-
bringung bis längstens zum 19. Mai 2015 genehmigt.
Dagegen hat der Verfahrenspfleger Beschwerde eingelegt, die das Land-
gericht zurückgewiesen hat. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der
Betroffenen.
II.
Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.
1. Der Rechtsbeschwerdeantrag richtet sich ausdrücklich auf die Fest-
stellung der Rechtswidrigkeit des amtsgerichtlichen und des landgerichtlichen
Beschlusses. Die Rechtsbeschwerde hat zwar daneben auch beantragt, den
landgerichtlichen Beschluss aufzuheben. Weil das Verfahren indes durch Zeit-
ablauf erledigt ist und hier eine Zurückverweisung nicht in Betracht kommt, ist
eine zusätzliche Aufhebung des landgerichtlichen Beschlusses ausgeschlossen
(vgl. Senatsbeschluss vom 29. Januar 2014 - XII ZB 330/13 - FamRZ 2014, 649
Rn. 6 mwN).
2. Die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde ergibt sich auch im Fall der
- hier vorliegenden - Erledigung der Unterbringungsmaßnahme aus § 70 Abs. 3
Satz 1 Nr. 2 FamFG (Senatsbeschluss vom 29. Januar 2014 - XII ZB 330/13 -
FamRZ 2014, 649 Rn. 7 mwN). Nachdem es sich bei der angefochtenen Ent-
scheidung nicht um eine einstweilige Anordnung handelt, steht § 70 Abs. 4
FamFG der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde nicht entgegen.
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3. Die Entscheidungen von Amts- und Landgericht haben die Betroffene
in ihren Rechten verletzt, was nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz ent-
sprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG (Senatsbeschluss
vom 29. Januar 2014 - XII ZB 330/13 - FamRZ 2014, 649 Rn. 8 mwN) festzu-
stellen ist.
a) Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:
Die Unterbringung sei gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB zulässig. Die Betroffene
erlebe aufgrund ihrer psychischen Erkrankung ein antriebsgesteigertes, denk-
gestörtes maniformes Syndrom mit derzeit starker Tendenz zur unmittelbaren
Selbstschädigung. Nach den eingeholten Sachverständigengutachten sei eine
stationäre Behandlung zur Neueinstellung der von der Betroffenen benötigten
Neuroleptika dringend notwendig. Unbehandelt sei davon auszugehen, dass
sich der aktuelle Zustand weiter chronifiziere und dann mit einem zunehmenden
Residualsyndrom zu rechnen sei, was die Lebensqualität der Betroffenen er-
heblich einschränken würde. Es bestehe bei ihr keine Krankheitseinsicht und
keine Behandlungsbereitschaft. Die Unterbringung zwecks Heilbehandlung sei
verhältnismäßig, um eine erneute Exazerbation bei der Betroffenen zu vermei-
den.
b) Die Entscheidungen des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts
halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Sie sind - wie die Rechtsbe-
schwerde im Ergebnis zu Recht rügt - verfahrensfehlerhaft ergangen.
Gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 FamFG gelten für die Verlängerung der Ge-
nehmigung oder Anordnung einer Unterbringungsmaßnahme die Vorschriften
für die erstmalige Anordnung oder Genehmigung entsprechend. Das bedeutet,
dass sämtliche Verfahrensgarantien für die Erstentscheidung uneingeschränkt
auch im Verlängerungsverfahren gelten, insbesondere die zwingende Anhörung
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des Betroffenen gemäß § 319 FamFG sowie die Einholung eines Sachverstän-
digengutachtens zum (Fort-)Bestehen der Unterbringungsvoraussetzungen
gemäß § 321 FamFG (Keidel/Budde FamFG 18. Aufl. § 329 Rn. 10; Schulte-
Bunert/Weinreich/Dodegge FamFG 4. Aufl. § 329 Rn. 8).
aa) § 321 Abs. 1 FamFG ordnet im Hinblick auf die mit der Unterbringung
einhergehenden erheblichen Eingriffe in die Freiheitsrechte des Betroffenen
zwingend die Einholung eines Sachverständigengutachtens an. Dadurch soll
eine sorgfältige Sachverhaltsaufklärung zur Feststellung der medizinischen Vo-
raussetzungen einer Unterbringung sichergestellt werden (Senatsbeschluss
vom 29. Januar 2014 - XII ZB 330/13 - FamRZ 2014, 649 Rn. 14 mwN).
Gemäß § 321 Abs. 1 Satz 2 FamFG hat der Sachverständige den Be-
troffenen vor Erstattung des Gutachtens persönlich zu untersuchen oder zu be-
fragen, wobei er vor der Untersuchung des Betroffenen bereits zum Sachver-
ständigen bestellt sein und ihm den Zweck der Untersuchung eröffnet haben
muss, damit der Betroffene sein Recht, an der Beweisaufnahme teilzunehmen,
sinnvoll ausüben kann (Senatsbeschluss vom 7. August 2013 - XII ZB 691/12 -
FamRZ 2013, 1725 Rn. 8 mwN).
Dem wird das vom Amtsgericht eingeholte Sachverständigengutachten
nicht gerecht. Zu Recht weist die Rechtsbeschwerde darauf hin, dass weder
aus den gerichtlichen Feststellungen noch aus der Akte ersichtlich wird, dass
der Betroffenen die Bestellung ihrer behandelnden Ärztin zur gerichtlichen
Sachverständigen vor Beginn der Begutachtung bekannt gegeben worden ist.
Darüber hinaus kann dem mündlich erstatteten Gutachten nicht entnommen
werden, dass die Sachverständige die Betroffene überhaupt auf ihre Funktion
als solche hingewiesen und dass sie die Betroffene zum Zwecke der Gutach-
tenerstattung gesondert untersucht hat. Denn die Bestellung zur Sachverstän-
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digen ist erst im Anhörungstermin unmittelbar vor der Abgabe der gutachterli-
chen Stellungnahmen erfolgt.
bb) Weiterhin rügt die Rechtsbeschwerde zutreffend, dass das Sachver-
ständigengutachten der Betroffenen nicht bekannt gegeben worden ist.
Die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer
Entscheidung in der Hauptsache setzt gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass
das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat.
Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut grundsätzlich auch dem
Betroffenen persönlich im Hinblick auf dessen Verfahrensfähigkeit (§ 275
FamFG) zur Verfügung zu stellen. Davon kann nur unter den Voraussetzungen
des § 288 Abs. 1 FamFG abgesehen werden (Senatsbeschluss vom 29. Januar
2014 - XII ZB 330/13 - FamRZ 2014, 649 Rn. 16 mwN).
Auch diesen Anforderungen wird das vorliegende Verfahren nicht ge-
recht. Das Gutachten ist mündlich in Abwesenheit der Betroffenen erstattet
worden. Aus der Gerichtsakte lässt sich nicht ersehen, dass sein Inhalt der Be-
troffenen in vollem Umfang bekannt gegeben worden ist, so dass diese zu den
getroffenen Indikationen und möglichen Behandlungsalternativen keine Nach-
fragen stellen konnte und keine Möglichkeit hatte, durch die Erhebung von Ein-
wendungen und Vorhalte an die Sachverständige eine andere Einschätzung der
Sachverständigen zu erreichen. Ebenso wenig enthält das Sachverständigen-
gutachten einen Hinweis darauf, dass die Betroffene durch dessen Bekanntga-
be an sie Gesundheitsnachteile entsprechend § 288 Abs. 1 FamFG zu befürch-
ten hätte.
c) Die Betroffene ist durch diese Verfahrensmängel in ihrem Freiheits-
grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden (vgl. Senatsbeschluss
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vom 29. Januar 2014 - XII ZB 330/13 - FamRZ 2014, 649 Rn. 22 ff.). Von einer
weiteren Begründung wird insoweit gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.
Dose
Schilling
Günter
Nedden-Boeger
Botur
Vorinstanzen:
AG Itzehoe, Entscheidung vom 28.04.2015 - 82 XVII 390/10 -
LG Itzehoe, Entscheidung vom 30.04.2015 - 4 T 118/15 -