Urteil des BGH vom 30.09.2014

Leitsatzentscheidung zu Rückzahlung, Verordnung, Begriff, Vorteilsausgleichung, Reiseveranstalter

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X Z R 1 2 6 / 1 3
Verkündet am:
30. September 2014
Wermes
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BGB § 651d; FluggastrechteVO Art. 12
a) Bei einem Anspruch auf Rückzahlung eines Teils des Reisepreises wegen
Minderung aufgrund großer Verspätung des Rückfluges nach § 651d BGB
handelt es sich um einen weitergehenden Schadensersatzanspruch nach
Art. 12 Abs. 1 FluggastrechteVO.
b) Nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung sind nach der Fluggast-
rechteverordnung allein wegen großer Verspätung gewährte Ausgleichsleis-
tungen auf den Anspruch auf Rückzahlung eines Teils des Reisepreises we-
gen Minderung nach § 651d BGB aufgrund derselben großen Verspätung
anzurechnen.
BGH, Urteil vom 30. September 2014 - X ZR 126/13 - LG Bonn
AG Bonn
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Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhand-
lung vom 30. September 2014 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Meier-
Beck, die Richter Dr. Grabinski und Dr. Bacher, die Richterin Schuster und den
Richter Dr. Deichfuß
für Recht erkannt:
Die Revision gegen das Urteil der 8. Zivilkammer des Landge-
richts Bonn vom 26. September 2013 wird auf Kosten der Klägerin
zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin buchte bei der Beklagten für sich und ihren Ehemann eine
Kreuzfahrt ab und nach Dubai inklusive Hin- und Rückflug für die Zeit vom
24.
Februar bis 2. März 2012 zu einem Preis von 2.842,20 €.
Der Rückflug nach Düsseldorf erfolgte 25 Stunden später als vorgese-
hen. Das ausführende Luftfahrtunternehmen zahlte an die Klägerin und ihren
Ehemann auf Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Rege-
lung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der
Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und
zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. EU 2004 L 46 vom
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17. Februar 2004 S. 1 ff.; im Folgenden Fluggastrechteverordnung oder Ver-
ordnung) jeweils 600 €.
Die Klägerin macht wegen der 25-stündigen Flugverspätung einen An-
spruch auf Rückzahlung des Reisepreises in Höhe von fünf Prozent des anteili-
gen Tagesreisepreises ab der fünften Stunde der Verspä
tung, mithin 426,30 €,
geltend. Die Beklagte hält dem die Anrechnung der Ausgleichszahlungen des
Luftfahrtunternehmens auf die Rückzahlungsansprüche der Klägerin wegen
Minderung des Reisepreises entgegen.
Die Klage ist in beiden Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Mit der vom
Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin den Anspruch auf
teilweise Rückzahlung des Reisepreises weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision hat keinen Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie
folgt begründet:
Ein etwaiger Anspruch der Klägerin auf Rückzahlung gegen die Beklagte
als Reiseveranstalterin wegen reisevertraglicher Minderung nach § 638 Abs. 3
und 4 in Verbindung mit § 651d BGB sei jedenfalls durch Anrechnung der auf
Grundlage der Fluggastrechtsverordnung wegen Verspätung erbrachten Zah-
lung von 600
€ erloschen. Die Anrechenbarkeit sei nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2
FluggastrechteVO gegeben, wenn und soweit das Minderungsrecht - wie im
vorliegenden Fall - allein auf den Umstand der Flugverspätung gestützt werde.
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Der in Art. 12 Abs. 1 FluggastrechteVO verwendete Begriff des Scha-
densersatzes sei unter Berücksichtigung der englischen Fassung der Verord-
nung umfassend zu verstehen. Er bezeichne jede Form der Entschädigung, des
Ersatzes oder einer Ausgleichszahlung und damit auch den Minderungsan-
spruch wegen Verspätung nach deutschem Reisevertragsrecht. Die Anrech-
nung sei sachgerecht, weil mit dem Ausgleichanspruch nach der Fluggast-
rechteverordnung und dem Minderungsanspruch nach dem deutschen Reise-
vertragsrecht gleichermaßen in der Flugverspätung gründende "Ärgernisse"
und "große Unannehmlichkeiten" kompensiert werden sollten und Art. 12 Abs. 1
Satz 2 FluggastrechteVO gerade der Vermeidung von Überkompensierungen
diene, die sich aus einer Kumulierung von Ansprüchen wegen derselben Positi-
onen und Interessen ergäben.
II. Dies hält einer revisionsrechtlichen Nachprüfung stand.
1. Mit dem Berufungsgericht ist davon auszugehen, dass der von der
Klägerin geltend gemachte Anspruch auf teilweise Rückzahlung des Reiseprei-
ses wegen Minderung aufgrund einer erheblichen Verspätung des Rückfluges
nach § 651d BGB ein weitergehender Schadensersatzanspruch des Fluggastes
ist, auf den nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 FluggastrechteVO eine nach der Verord-
nung wegen großer Verspätung eines Flugs gewährte Ausgleichsleistung ange-
rechnet werden kann.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist
der Begriff des "weitergehenden Schadens" in Art. 12 FluggastrechteVO dahin
auszulegen, dass er es dem nationalen Gericht ermöglicht, unter den Voraus-
setzungen des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften
über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Montrealer Übereinkom-
men) oder des nationalen Rechts Ersatz für den wegen Nichterfüllung des Luft-
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beförderungsvertrags entstandenen Schaden, einschließlich des immateriellen
Schadens, zu gewähren (EuGH, Urteil vom 13. Oktober 2011 - C-83/10, NJW
2011, 3776 Rn. 38 - Aurora Sousa Rodríguez/Air France SA). Bei dem von der
Klägerin geltend gemachten Anspruch handelt es sich um einen weitergehen-
den Schadensersatzanspruch des Fluggastes nach nationalem Recht im Sinne
der Verordnung.
Dem steht nicht entgegen, dass der Klageanspruch nach deutschem
Reisevertragsrecht auf einer Minderung des Reisepreises nach § 651d Abs. 1
BGB beruht und der Reisende unbeschadet der Minderung auch Schadenser-
satz wegen Nichterfüllung nach § 651f BGB verlangen kann, wenn der Mangel
der Reise auf einem Umstand beruht, den der Reiseveranstalter zu vertreten
hat. Für die Qualifikation eines Anspruchs als weitergehender Schadensersatz-
anspruch im Sinne von Art. 12 Abs. 1 FluggastrechteVO ist entscheidend, ob
dem Fluggast mit dem Anspruch eine Kompensation für die durch die Nicht-
oder Schlechterfüllung der Verpflichtung zur Luftbeförderung, etwa durch eine
große Verspätung, erlittenen Nachteile gewährt wird, wobei es sich dabei nicht
nur um einen Vermögensschaden, sondern auch um einen immateriellen Scha-
den, also insbesondere auch die dem Fluggast durch die Nichtbeförderung, An-
nullierung oder große Verspätung verursachten Unannehmlichkeiten (vgl. Er-
wägungsgründe 2 und 12 FluggastrechteVO), handeln kann. Entsprechend wird
in anderen Sprachfassungen der Fluggastrechteverordnung, wie etwa der eng-
lischen, französischen, italienischen, niederländischen und spanischen Sprach-
fassung, der umfassende Begriff einer "further compensation", "indemnisation
complémentaire", "risarcimenti supplementari", "verdere compensatie" oder
"compensación suplementaria" verwendet. In diesem Sinne handelt es sich je-
denfalls bei einer Minderung des Reisepreises, die allein auf eine große Ver-
spätung des Rückfluges nach § 651d BGB zurückzuführen ist, um einen weiter-
gehenden Schadensersatzanspruch nach Art. 12 Abs. 1 FluggastrechteVO, da
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dem Reisenden durch die Minderung des Reisepreises ein Ausgleich für die
ihm durch die große Verspätung entstandenen Unannehmlichkeiten gewährt
wird (ebenso: Staudinger/Staudinger (2011), § 651d BGB Rn. 8; Führich, Reise-
recht, 6. Aufl. 2010 Rn. 1065a; Tonner, Der Reisevertrag, 5. Aufl. 2006, S. 259
Rn. 47; Leffers, RRa 2008, 258, 260 f.; Bollweg, RRa 2009, 10, 12 ff.; aA noch
Führich, RRa 2007, 58, 61). Dies entspricht im Übrigen auch der Entstehungs-
geschichte des Art. 12 Abs. 1 FluggastrechteVO, wonach für die deutsche
Sprachfassung der Begriff des "Schadensersatz" statt der Begriffe "Schadens-
ersatz und Minderung" gewählt wurde, ohne dass damit eine Minderung des
Reisepreises vom Anwendungsbereich der Vorschrift ausgeschlossen werden
sollte (vgl. den Bericht von Bollweg zur Entstehungsgeschichte von Art. 12
Abs. 1 Fluggastrechte VO und insbesondere der deutschen Sprachfassung,
aaO, 14 f.).
2. Die demzufolge nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 FluggastrechteVO mögli-
che Anrechnung der der Klägerin und ihrem Ehemann von dem ausführenden
Luftfahrtunternehmen nach der Verordnung gewährten Ausgleichsleistung auf
den Anspruch der Klägerin auf Rückzahlung eines Teils des Reisepreises we-
gen Minderung folgt nach deutschem Recht aus den Grundsätzen der Vorteils-
ausgleichung.
a) Nach den von der Rechtsprechung im Bereich des Schadensersatz-
rechts entwickelten Grundsätzen der Vorteilsausgleichung sind dem Geschä-
digten in gewissem Umfang diejenigen Vorteile zuzurechnen, die ihm in adä-
quatem Zusammenhang mit dem Schadensereignis zugeflossen sind. Es soll
ein gerechter Interessenausgleich zwischen den bei einem Schadensfall wider-
streitenden Interessen herbeigeführt werden, indem der Geschädigte einerseits
nicht besser gestellt wird, als er ohne das schädigende Ereignis stünde, ihm
aber andererseits auch nur solche Vorteile auf den Schadensersatzanspruch
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angerechnet werden, deren Anrechnung mit dem Zweck des Ersatzanspruchs
übereinstimmt, also dem Geschädigten zumutbar ist und den Schädiger nicht
unangemessen entlastet (BGH, Urteil vom 28. Juni 2007 - VII ZR 81/06, BGHZ
173, 83 Rn. 18 mwN).
Nach diesen Grundsätzen, die auch auf Minderungsansprüche anwend-
bar sind (BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2010 - VII ZR 100/10, NJW-RR
2011, 377 Rn. 2), sind die der Klägerin und ihrem Ehemann gewährten Aus-
gleichsleistungen nach der Fluggastrechteverordnung auf deren Anspruch auf
Rückzahlung eines Teils des Reisepreises anzurechnen. Ausgleichszahlungen
nach Art. 7 FluggastrechteVO zielen zwar nicht notwendigerweise auf den Aus-
gleich derselben Nachteile wie Minderungsansprüche aufgrund eines Reise-
mangels nach § 651d BGB. Im vorliegenden Fall sind beide Ansprüche jedoch
nicht nur adäquat kausal auf die starke Verspätung des Rückfluges nach Düs-
seldorf zurückzuführen, sondern dienen auch gleichermaßen dem Ausgleich
der der Klägerin und ihrem Ehemann verspätungsbedingt entstandenen Unan-
nehmlichkeiten. Durch die Kumulierung der Ansprüche würden die Klägerin und
ihr Ehemann eine Doppelentschädigung erhalten, ohne dass es für eine solche
Überkompensation, etwa auch im Vergleich mit Reisenden, die ein anderes
Verkehrsmittel benutzen, eine gesetzliche Rechtfertigung gibt. Von daher ist die
Anrechnung des Ausgleichs für die Klägerin und ihren Ehemann auch zumut-
bar.
b) Eine Anrechnung ist auch nicht im Hinblick darauf ausgeschlossen,
dass Schuldner des Ausgleichsanspruchs nach Art. 7 FluggastrechteVO das
ausführende Luftfahrtunternehmen und Schuldner des Anspruchs auf Rückzah-
lung eines Teils des Reisepreises nach § 651d BGB der Reiseveranstalter ist.
Denn bei Erfüllung der ihm aus Art. 7 ff. FluggastrechteVO erwachsenden Ver-
pflichtungen ist davon auszugehen, dass das ausführende Luftfahrtunterneh-
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men mit Wirkung für und gegen den Reiseveranstalter handelt, wie sich aus
Art. 3 Abs. 5 Satz 2 FluggastrechteVO ergibt (BGH, Beschluss vom 11. März
2008 - X ZR 49/07, NJW 2008, 2119 Rn. 18).
3. Es handelt sich auch um eine hinreichend geklärte Rechtslage, so
dass es keiner Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach
Art. 267 AEUV zur Auslegung von Art. 12 Abs. 1 FluggastrechteVO bedarf.
Die dem Uniongerichtshof vom Senat vorgelegten Fragen, ob ein vom
nationalen Recht gewährter Schadensersatz, der auf die Erstattung von zusätz-
lichen Reisekosten gerichtet ist, die wegen Annullierung eines gebuchten Flu-
ges angefallen sind, auf den Ausgleichsanspruch aus Art. 7 FluggastrechteVO
angerechnet werden kann, wenn das Luftfahrtunternehmen seine Verpflichtun-
gen nach Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 FluggastrechteVO erfüllt hat, und ob
dies auch für die Kosten der Ersatzbeförderung zum Endziel der Flugreise gilt
(BGH, Beschluss vom 30. Juli 2013 - X ZR 113/12, EuZW 2013, 840 [Leitsät-
ze]), stellen sich im vorliegenden Fall nicht, weil die von der Klägerin geltend
gemachte Minderung allein auf eine starke Verspätung des Rückfluges gestützt
ist und damit weder zusätzliche Reisekosten noch die Kosten einer Ersatzbe-
förderung betrifft. Auch die seinerzeit weiterhin vorgelegte Frage, ob bei einer
möglichen Anrechnung das Luftfahrunternehmen diese stets vornehmen kann
oder die Anrechnung davon abhängig ist, inwiefern das nationale Recht sie zu-
lässt oder das Gericht sie für angemessen erachtet (BGH, aaO; vgl. dazu auch
die Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 28. Juni 2011
- C-83/10 Rn. 64), gibt keinen Grund zur Vorlage, weil alle Alternativen im vor-
liegenden Fall gegeben sind. Dass die Beklagte die Anrechnung der Aus-
gleichszahlungen des Luftfahrtunternehmens geltend macht und die Anrech-
nung nach deutschem Recht zulässig ist, ist bereits ausgeführt worden. Die
obigen Erwägungen zur Vorteilausgleichung rechtfertigen es zudem, die An-
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rechnung im Rahmen einer die beidseitigen Interessen der Parteien berücksich-
tigenden Ermessensentscheidung, die auch vom Senat auf Grundlage der tat-
sächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts getroffen werden kann, als
angemessen zu erachten. Schließlich stellt sich auch die vierte seinerzeit vor-
gelegte Frage nicht (vgl. BGH, aaO), weil es im vorliegenden Fall allein um ei-
nen Ausgleich verspätungsbedingter Unannehmlichkeiten der Klägerin und da-
mit nicht auch um den Ausgleich materieller Schäden geht.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Meier-Beck
Grabinski
Bacher
Schuster
Deichfuß
Vorinstanzen:
AG Bonn, Entscheidung vom 13.05.2013 - 113 C 204/12 -
LG Bonn, Entscheidung vom 26.09.2013 - 8 S 156/13 -
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