Urteil des BGH vom 08.11.2016

Ventileinrichtung Leitsatzentscheidung

ECLI:DE:BGH:2016:081116BXZB1.16.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
X ZB 1/16
vom
8. November 2016
in dem Rechtsbeschwerdeverfahren
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
ja
BGHR:
ja
Ventileinrichtung
PatG §§ 21 Abs. 1, 59, 73, 79
a) Das Patentgericht ist nicht befugt, im Einspruchsbeschwerdeverfahren von
Amts wegen neue Widerrufsgründe, die nicht Gegenstand des Einspruchs-
verfahrens vor dem Patentamt waren, aufzugreifen und hierauf seine Ent-
scheidung zu stützen (Bestätigung von BGH, Beschluss vom 10. Januar
1995 - X ZB 11/92, BGHZ 128, 280 = GRUR 1995, 333 - Aluminium-
Trihydroxid).
b) Wenn eine das Patent aufrechterhaltende Entscheidung des Patentamts in
zulässiger Weise mit der Beschwerde angefochten ist, darf der Einspre-
chende im Beschwerdeverfahren zusätzliche Widerrufsgründe geltend ma-
chen, die nicht zum Gegenstand der angefochtenen Entscheidung gehören.
BGH, Beschluss vom 8. November 2016 - X ZB 1/16 - Bundespatentgericht
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Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. November 2016 durch den
Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Meier-Beck, die Richter Gröning, Dr. Bacher und
Dr. Deichfuß sowie die Richterin Dr. Kober-Dehm
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Patentinhaberin wird der
Beschluss des 9. Senats (Technischen Beschwerdesenats) des
Bundespatentgerichts vom 28. September 2015 aufgehoben.
Die Sache wird zu anderweiter Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das
Patentgericht zurückverwiesen.
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Gründe:
A. Die
Rechtsbeschwerdeführerin
ist
Inhaberin
des
Patents
10 2006 006 439, das am 13. Februar 2006 angemeldet wurde und eine Ventil-
einrichtung zur manuellen Veränderung der Niveaulage eines luftgefederten
Fahrzeugs betrifft. Patentanspruch 1 lautet:
Ventileinrichtung zur manuellen Veränderung der Niveaulage eines luftgefeder-
ten Fahrzeuges, mit einem Gehäuse (1) sowie einem gegenüber dem Gehäuse
(1) durch Betätigung eines Hebels (3) bewegbaren Bedienelement (2), bei der
das Bedienelement (2) mittels einer Drehbewegung wenigstens in eine Senken-
Stellung stellbar ist und das Bedienelement (2) zur Verhinderung einer Drehbe-
wegung wenigstens in der Senken-Stellung mittels einer mechanischen Arre-
tiervorrichtung (12, 26), die zwischen dem Bedienelement (2) und dem Gehäu-
se (1) wirkt, einrastbar ist, und bei der eine Entriegelungsvorrichtung (13, 22;
24, 27, 28, 34) vorgesehen ist, welche bei Anlegen eines elektrischen und/oder
pneumatischen Signals die Rastwirkung der Arretiervorrichtung (12, 26) auf-
hebt, wodurch eine Rückstellung des Bedienelements (2) in eine Fahrt-Stellung
ermöglicht wird.
Die Einsprechende hat im Verfahren vor dem Patentamt geltend ge-
macht, der Gegenstand des Schutzrechts sei nicht patentfähig.
Das Patentamt hat das Patent in vollem Umfang aufrechterhalten. Mit ih-
rer dagegen gerichteten Beschwerde hat die Einsprechende ergänzend geltend
gemacht, der Gegenstand des Patents gehe über den Inhalt der ursprünglich
eingereichten Unterlagen hinaus, und hierzu auf eine Entscheidung des Euro-
päischen Patentamts über einen Einspruch gegen das europäische Patent
1 986 874 Bezug genommen, das die Priorität des Streitpatents in Anspruch
nimmt. Die Patentinhaberin hat das Schutzrecht in der erteilten Fassung und
hilfsweise in zwei geänderten Fassungen verteidigt.
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Das Patentgericht hat das Patent mit der Begründung widerrufen, der
Gegenstand des Schutzrechts gehe über den Inhalt der Anmeldung hinaus.
Dagegen wendet sich die Patentinhaberin mit ihrer vom Patentgericht zugelas-
senen Rechtsbeschwerde, der die Einsprechende entgegentritt.
B. Das zulässige Rechtsmittel führt zur Aufhebung der angefochtenen
Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Patentgericht.
I.
Das Patent betrifft eine Ventileinrichtung zur manuellen Veränderung
der Niveaulage eines luftgefederten Fahrzeugs.
1. Nach der Beschreibung des Patents waren im Stand der Technik
Drehschieberventile bekannt, die in fünf unterschiedliche Stellungen gebracht
werden können, um luftgefederte Fahrzeuge während des Stands anzuheben
oder abzusenken. Die Mittelstellung diene als Fahrt-Stellung, in der die Luftfe-
derbälge mit der Luftfederungsanlage des Fahrzeugs verbunden seien. Rechts
und links daran schließe sich eine Stopp-Stellung an, in der die Luftfederbälge
abgesperrt seien, so dass der vorhandene Luftdruck gehalten werde. Durch
Weiterdrehen des Bedienelements werde eine Heben-Stellung bzw. eine Sen-
ken-Stellung erreicht, bei der die Luftfederbälge aus einem Vorratsbehälter mit
Druckluft befüllt bzw. über eine hierzu vorgesehene Vorrichtung entlüftet wür-
den.
Nach den einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften müsse das Dreh-
schieberventil bei bestimmten Fahrzeugen mit einer so genannten Totmann-
funktion ausgestattet sein, die sicherstelle, dass der Bedienhebel aus der He-
ben- oder Senken-Stellung automatisch in die angrenzende Stopp-Stellung zu-
rückkehre, wenn er nicht mehr betätigt werde. Bei den im Stand der Technik
bekannten Drehschieberventilen führe dies dazu, dass je eine gesonderte Ver-
sion mit und ohne Totmannfunktion vorgesehen werden müsse.
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Das Patent betrifft vor diesem Hintergrund das technische Problem, eine
Ventileinrichtung zur Verfügung zu stellen, die mit geringem Änderungsaufwand
wahlweise mit oder ohne Totmannfunktion realisiert werden kann.
2. Zur Lösung dieses Problems schlägt das Patent eine Ventileinrich-
tung vor, deren Merkmale sich wie folgt gliedern lassen:
1. Die Ventileinrichtung dient zur manuellen Veränderung der Ni-
veaulage eines luftgefederten Fahrzeuges und umfasst
a) ein Gehäuse (1) und
b) ein gegenüber dem Gehäuse (1) durch Betätigung eines He-
bels (3) bewegbares Bedienelement (2).
2. Das Bedienelement (2) ist
a) mittels einer Drehbewegung wenigstens in eine Senken-
Stellung stellbar und
b) zur Verhinderung einer Drehbewegung wenigstens in der
Senken-Stellung mittels einer mechanischen Arretiervorrich-
tung (12, 26) einrastbar.
3. Die mechanische Arretiervorrichtung (12, 26)
a) wirkt zwischen dem Bedienelement (2) und dem Gehäuse (1)
und
b) weist eine Entriegelungsvorrichtung (13, 22; 24, 27, 28, 34)
auf, die die Rastwirkung der Arretiervorrichtung (12, 26) durch
Anlegen eines elektrischen oder pneumatischen Signals auf-
hebt, wodurch eine Rückstellung des Bedienelements (2) in
eine Fahrt-Stellung ermöglicht wird.
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II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt
begründet:
Die Einsprechende sei nicht gehindert, im Beschwerdeverfahren einen
zusätzlichen Widerrufsgrund geltend zu machen. Die Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs, wonach das Patentgericht im Beschwerdeverfahren nicht
befugt sei, von Amts wegen zusätzliche Widerrufsgründe zu prüfen, stehe dem
nicht entgegen. Sie beruhe auf dem Grundsatz, dass der Gegenstand des Be-
schwerdeverfahrens allein durch den Beschwerdeführer bestimmt werden dür-
fe.
Unabhängig davon sei die Berücksichtigung des zusätzlich geltend ge-
machten Widerrufsgrunds schon deshalb geboten, weil er für die Zulässigkeit
der Hilfsanträge ausschlaggebend sei und eine unterschiedliche Beurteilung
des Hauptantrags nicht hinnehmbar erscheine. Zudem müsse in der Beschwer-
deinstanz die Überprüfung möglich sein, ob das Patentamt das Interesse der
Allgemeinheit am Widerruf ungerechtfertigt erteilter Patente korrekt wahrge-
nommen habe. Anderenfalls sei der Einsprechende gezwungen, ein wesentlich
aufwendigeres Nichtigkeitsverfahren anzustrengen. Dies vertrage sich nicht mit
dem durch das Einspruchsverfahren angestrebten Ziel, über die Bestandskraft
des Patents insgesamt zu entscheiden. Das Einspruchsverfahren werde damit
zu sehr dem Nichtigkeitsverfahren angenähert und büße seinen präventiven
Charakter ein.
Der Gegenstand des Schutzrechts gehe in allen von der Patentinhaberin
verteidigten Fassungen über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterla-
gen hinaus. Zum Gegenstand von Patentanspruch 1 gehöre eine Ventileinrich-
tung mit einem Bedienelement, das nur in einer Stellung einrastbar sei. In den
ursprünglichen Unterlagen seien hingegen ausschließlich Bedienelemente of-
fenbart, die in einer Mehrzahl von Stellungen einrastbar seien.
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III. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung nicht in vollem
Umfang stand.
1. Zu Recht ist das Patentgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass der
von der Einsprechenden im Beschwerdeverfahren zusätzlich geltend gemachte
Widerrufsgrund zu berücksichtigen war.
a) Entgegen der Auffassung des Patentgerichts hätte dieser Widerrufs-
grund allerdings nicht von Amts wegen geprüft werden dürfen.
Nach der Rechtsprechung des Senats sind die Prüfungs- und Entschei-
dungsbefugnisse, die dem Patentamt nach einem Einspruch gegen ein erteiltes
Patent und dem Patentgericht in einem sich daran anschließenden Beschwer-
deverfahren zukommen, nicht deckungsgleich (BGH, Beschluss vom 10. Januar
1995 - X ZB 11/92, BGHZ 128, 280, 284 ff. = GRUR 1995, 333, 335 ff. - Alumi-
nium-Trihydroxid).
aa) Das mit einem Einspruch eingeleitete Verfahren vor dem Patentamt
unterliegt nicht der alleinigen Verfügungsbefugnis des Einsprechenden oder
des Patentinhabers.
Das Patentamt muss zwar alle Einspruchsgründe prüfen, die von den
Beteiligten ordnungsgemäß vorgebracht und begründet worden sind (BGHZ
128, 280, 292 = GRUR 1995, 333, 337 - Aluminium-Trihydroxid). Es darf das
Patent zudem nur dann in einer geänderten Fassung aufrechterhalten, wenn
der Patentinhaber ausdrücklich oder konkludent sein Einverständnis erklärt hat
(BGH, Beschluss vom 3. November 1988 - X ZB 12/86, BGHZ 105, 381, 382 ff.
= GRUR 1989, 103, 104 - Verschlussvorrichtung für Gießpfannen; Beschluss
vom 27. Juni 2007 - X ZB 6/05, BGHZ 173, 47 = GRUR 2007, 862 Rn. 20 ff.
- Informationsübermittlungsverfahren II).
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Das Patentamt ist aber befugt, von Amts wegen weitere Widerrufsgründe
zu prüfen. Gemäß § 61 Abs. 1 Satz 2 PatG hat es das Verfahren sogar dann
von Amts wegen fortzusetzen, wenn der Einspruch zurückgenommen wird. Die-
se umfassende Prüfungsbefugnis entspricht, wie auch das Patentgericht im An-
satz zutreffend ausgeführt hat, der Zielrichtung des Einspruchsverfahrens, das
Patent in einem unmittelbar an seine Erteilung anschließenden, einfach gestal-
teten Verfahren zu überprüfen (BGHZ 128, 280, 291 = GRUR 1995, 333, 336
- Aluminium-Trihydroxid).
bb) Die Beschwerde zum Patentgericht ist demgegenüber ein echtes
Rechtsmittel, mit dem die Entscheidung des Patentamts zur Überprüfung ge-
stellt wird.
Die Verfügungsbefugnis über den Gegenstand des Beschwerdeverfah-
rens liegt ausschließlich beim Beschwerdeführer. Eine Entscheidung über die
Beschwerde ist ausgeschlossen, wenn das Rechtsmittel wirksam zurückge-
nommen wurde.
Der Gegenstand des Beschwerdeverfahrens wird nach der Rechtspre-
chung des Senats auch durch die Widerrufsgründe bestimmt, die Gegenstand
des Einspruchsverfahrens vor dem Patentamt waren. Deshalb ist es dem Pa-
tentgericht verwehrt, von Amts wegen andere Widerrufsgründe in das Verfahren
einzuführen (BGHZ 128, 280, 293 = GRUR 1995, 333, 337 - Aluminium-
Trihydroxid).
Diese Rechtsprechung hat von verschiedener Seite Kritik erfahren. Der
Senat hält sie dennoch weiterhin für zutreffend.
(1) Die Befugnis des Beschwerdeführers, den Gegenstand des Be-
schwerdeverfahrens zu bestimmen, hindert das Patentgericht zwar nicht daran,
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innerhalb des damit vorgegebenen Rahmens den Sachverhalt von Amts wegen
zu erforschen (§ 87 Abs. 1 PatG) und - wie jedes Gericht - die einschlägigen
Rechtsvorschriften unabhängig von Vorbringen der Parteien heranzuziehen.
Der Rückgriff auf zusätzliche Widerrufsgründe im Beschwerdeverfahren kann
aber nicht als bloße Erforschung des Sachverhalts oder Rechtsanwendung an-
gesehen werden.
Entgegen einer in der Literatur geäußerten Auffassung (Sedemund-
Treiber, GRUR Int. 1996, 390, 396) wird der Gegenstand des Beschwerdever-
fahrens nicht allein durch das auf Widerruf des Patents gerichtete Begehren
des Einsprechenden bestimmt. Entsprechend den allgemeinen Grundsätzen
zur Festlegung des Streit- oder Verfahrensgegenstands ist vielmehr auch der
Lebenssachverhalt von Bedeutung, auf den dieses Begehren gestützt wird. Die
einzelnen Widerrufsgründe, die das Gesetz in § 21 Abs. 1 PatG vorsieht, bilden
- ebenso wie die in § 22 Abs. 1 PatG vorgesehenen Nichtigkeitsgründe - einen
jeweils unterschiedlichen Lebenssachverhalt.
Aus der besonderen Zielsetzung des Einspruchsverfahrens können in-
soweit keine Unterschiede abgeleitet werden. Dieser Zielsetzung hat der Ge-
setzgeber durch die besondere Ausgestaltung des Verfahrens vor dem Patent-
amt und die diesem zustehenden weitreichenden Prüfungsbefugnisse Rech-
nung getragen. Für ein auf die Entscheidung des Patentamts nachfolgendes
Beschwerdeverfahren hat er hingegen keine besonderen Regelungen vorgese-
hen. Damit sind für das Beschwerdeverfahren die allgemeinen Grundsätze über
die Bestimmung des Verfahrensgegenstands maßgeblich.
Zum Gegenstand eines Beschwerdeverfahrens gehören folglich nur die-
jenigen Widerrufsgründe, die zur gerichtlichen Überprüfung gestellt werden.
Dies sind grundsätzlich nur diejenigen Widerrufsgründe, die die Beteiligten im
Einspruchsverfahren vor dem Patentamt geltend gemacht haben oder die das
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Patentamt von Amts wegen aufgegriffen hat, nicht aber sonstige Widerrufs-
gründe, die das Patentamt aufgrund seiner umfassenden Prüfungsbefugnis
ebenfalls hätte aufgreifen können.
(2) Entgegen einer in der Literatur vertretenen Auffassung (Sedemund-
Treiber, GRUR Int. 1996, 390, 395 f., 398; Fitzner/Waldhoff, Mitt. 2000, 446,
454; Busse/Engels, 8. Aufl., Vor § 73 PatG Rn. 77; vermittelnd Schulte, PatG,
9. Aufl., Einleitung Rn. 27) ergibt sich weder aus Art. 19 Abs. 4 GG noch aus
sonstigen Vorschriften, dass der Prüfungsumfang des Beschwerdeverfahrens
sich mit dem möglichen Prüfungsumfang des Einspruchsverfahrens vor dem
Patentamt decken muss.
Aus Art. 19 Abs. 4 GG und aus § 74 Abs. 1 PatG ist allerdings abzulei-
ten, dass das Patentgericht die Entscheidung des Patentamts insoweit auf
Rechtsfehler zu Ungunsten des Beschwerdeführers zu überprüfen hat, als die
Entscheidung angefochten ist. Hierzu gehört im Falle der Aufrechterhaltung des
Patents insbesondere die Prüfung, ob das Patentamt alle vom Beschwerdefüh-
rer geltend gemachten Widerrufsgründe berücksichtigt und fehlerfrei beurteilt
hat. Die darüber hinaus gehenden Prüfungsbefugnisse des Patentamts dienen
demgegenüber nicht dem individuellen Rechtsschutz des Einsprechenden,
sondern den Interessen der Allgemeinheit. Dementsprechend ist es weder aus
verfassungsrechtlichen noch aus sonstigen Gründen geboten, eine Möglichkeit
zur gerichtlichen Überprüfung der Frage vorzusehen, ob das Patentamt von
diesen weitergehenden Prüfungsbefugnissen rechtsfehlerfrei Gebrauch ge-
macht hat. Erst recht ist es nicht geboten, dem Patentgericht die Befugnis ein-
zuräumen, nach eigenem Ermessen über die Einführung zusätzlicher Wider-
rufsgründe zu entscheiden.
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b) Zutreffend hat das Patentgericht jedoch angenommen, dass ein Wi-
derrufsgrund, den der Einsprechende erstmals im Beschwerdeverfahren gel-
tend gemacht hat, nach Maßgabe von § 263 ZPO zu berücksichtigen ist.
aa) Der Senat hatte sich mit dieser Fragestellung bislang nicht zu befas-
sen. Seine Rechtsprechung, wonach die Berücksichtigung zusätzlicher Wider-
rufsgründe im Beschwerdeverfahren grundsätzlich ausgeschlossen ist, bezieht
sich, wie das Patentgericht zutreffend ausgeführt hat, auf den Fall der Berück-
sichtigung von Amts wegen.
Der dafür maßgebliche Gesichtspunkt der Dispositionsbefugnis steht
einer Berücksichtigung von zusätzlichen Widerrufsgründen, die der Einspre-
chende geltend macht, nicht entgegen. Gerade weil es Sache des Beschwerde-
führers ist, den Gegenstand des Beschwerdeverfahrens zu bestimmen, er-
scheint es im Ansatz sogar konsequent, einen zusätzlichen Widerrufsgrund,
den der Einsprechende als Beschwerdeführer oder im Rahmen einer An-
schlussbeschwerde geltend macht, zum Verfahrensgegenstand zu zählen.
bb) Eine abweichende Beurteilung könnte allenfalls dann geboten sein,
wenn ein Beschwerdeführer gehindert wäre, den Gegenstand des Beschwerde-
verfahrens über den Gegenstand der angefochtenen Entscheidung hinaus zu
ändern oder zu erweitern. Ein solches Änderungsverbot lässt sich aber weder
dem Patentgesetz noch sonstigen Vorschriften entnehmen.
Das Patentgesetz enthält keine besonderen Regelungen darüber, ob und
in welchem Umfang neue Angriffs- oder Verteidigungsmittel sowie eine Ände-
rung des Verfahrensgegenstands in der Beschwerdeinstanz zulässig sind. Die
für das Berufungsverfahren in Nichtigkeitssachen geltenden Bestimmungen in
§ 116 Abs. 2 und § 117 PatG und die darin in Bezug genommenen Vorschriften
der Zivilprozessordnung können für das Beschwerdeverfahren nicht entspre-
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chend herangezogen werden, weil dieses - anders als das Nichtigkeitsverfahren
- nicht als Parteiprozess ausgestaltet ist.
Die gemäß § 99 Abs. 1 PatG entsprechend anzuwendenden Vorschriften
der Zivilprozessordnung sehen für das Beschwerdeverfahren ebenfalls keine
einschränkenden Regelungen vor. Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel wer-
den in § 571 Abs. 2 Satz 1 ZPO sogar ausdrücklich zugelassen. Hinsichtlich der
Frage, ob eine Änderung des Verfahrensgegenstands zulässig ist, fehlt es zwar
an einer vergleichbaren Vorschrift. Der Bundesgerichtshof erachtet aber jeden-
falls für Beschwerdeverfahren gegen Entscheidungen des Insolvenzgerichts
eine Antragserweiterung in der Beschwerdeinstanz nach allgemeinen Regeln
für zulässig, weil die Beschwerdeinstanz eine vollwertige Tatsacheninstanz ist
(BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2006 - IX ZB 81/06, NZI 2007, 166 Rn. 20;
ebenso MünchKomm.ZPO/Lipp, 5. Aufl., § 571 Rn. 15; Musielak/Ball, 13. Aufl.,
§ 571 ZPO Rn. 5; Prütting/Gehrlein, 8. Aufl., § 571 ZPO Rn. 3; Zöller/Heßler,
31. Aufl., § 567 ZPO Rn. 8, § 571 ZPO Rn. 3).
Besonderheiten des Beschwerdeverfahrens in Patentsachen stehen
einer entsprechenden Anwendung dieser Grundsätze nicht entgegen (ebenso
Benkard/Schäfers/Schwarz, 11. Aufl., § 79 PatG Rn. 43; zweifelnd Busse/
Engels, 8. Aufl., § 73 PatG Rn. 120). Aufgrund der Dispositionsbefugnis der
Parteien ist der Gegenstand eines Beschwerdeverfahrens zwar enger als der
Gegenstand eines Einspruchsverfahrens vor dem Patentamt. Selbst im Nichtig-
keitsverfahren ist eine Klageänderung in zweiter Instanz aber nach Maßgabe
der auch für den Zivilprozess geltenden Voraussetzungen zulässig. Vor diesem
Hintergrund erscheint es konsequent, eine Änderung des Verfahrensgegen-
stands auch im Beschwerdeverfahren anhand der für den Zivilprozess gelten-
den Vorschriften zu beurteilen. Einschlägig ist mithin § 263 ZPO.
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Die für die Einlegung der Beschwerde in § 73 Abs. 2 Satz 1 PatG vorge-
sehene Frist steht einer Änderung des Verfahrensgegenstands nach Fristablauf
nicht generell entgegen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob und unter wel-
chen Voraussetzungen es zulässig ist, eine zunächst nur gegen einen Teil der
angefochtenen Entscheidung gerichtete Beschwerde nach Ablauf der Frist auf
andere Teile der Entscheidung zu erweitern (ablehnend für Beschwerdeverfah-
ren in Markensachen BPatG, GRUR 2008, 362, 364). Nach den für den Zivil-
prozess geltenden Regeln ist es jedenfalls statthaft, ein zulässiges Rechtsmittel
mit einer Erweiterung des in der Vorinstanz verfolgten Begehrens zu verbinden
(BGH, Urteil vom 11. Oktober 2000 - VIII ZR 321/99, NJW 2001, 226; Urteil vom
14. März 2012 - XII ZR 164/09, NJW-RR 2012, 516 Rn. 17).
c) Bei Anlegung dieses Maßstabs war der von der Einsprechenden
erstmals im Beschwerdeverfahren geltend gemachte Widerrufsgrund zu be-
rücksichtigen.
aa) Die Beschwerde der Einsprechenden war zulässig, weil diese ihr vor
dem Patentamt geltend gemachtes Begehren weiterverfolgt hat. Dieses zuläs-
sige Rechtsmittel durfte die Einsprechende nach den oben aufgezeigten
Grundsätzen mit einer Erweiterung ihres Angriffs gegen das Patent verbinden.
bb) Ob die Berücksichtigung des weiteren Widerrufsgrunds sachdienlich
im Sinne von § 263 ZPO war, ist nach der ebenfalls entsprechend anwendba-
ren Regelung in § 268 ZPO einer Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht
entzogen.
Unabhängig davon war die Berücksichtigung des Widerrufsgrunds auch
aus Sicht des Senats sachdienlich, weil dies eine umfassende Entscheidung
über den Bestand des Patents ermöglicht.
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2. Entgegen der Auffassung des Patentgerichts geht der Gegenstand
des Patents nicht über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen
hinaus.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats gelten für die Beur-
teilung der identischen Offenbarung die Prinzipien der Neuheitsprüfung. Da-
nach ist erforderlich, dass der Fachmann die im Anspruch bezeichnete techni-
sche Lehre den Ursprungsunterlagen unmittelbar und eindeutig als mögliche
Ausführungsform der Erfindung entnehmen kann (BGH, Urteil vom 11. Februar
2014 - X ZR 107/12, BGHZ 200, 63 = GRUR 2014, 542 Rn. 22 - Kommunikati-
onskanal). Bei der Ausschöpfung des Offenbarungsgehalts sind auch Verall-
gemeinerungen ursprungsoffenbarter Ausführungsbeispiele zulässig. Dies gilt
insbesondere dann, wenn von mehreren Merkmalen eines Ausführungsbei-
spiels, die zusammengenommen, aber auch für sich betrachtet dem erfin-
dungsgemäßen Erfolg förderlich sind, nur eines oder nur einzelne in den An-
spruch aufgenommen worden sind (BGHZ 200, 63 = GRUR 2014, 542 Rn. 24
- Kommunikationskanal).
b) Ausgehend davon ist es nicht zu beanstanden, wenn Patentan-
spruch 1 nicht vorsieht, dass das Bedienelement in mehr als einer Stellung in
der näher festgelegten Weise einrastbar sein muss.
aa) Die in den ursprünglich eingereichten Unterlagen und im Streitpatent
geschilderten Ausführungsbeispiele weisen zwar durchweg Bedienelemente mit
jeweils fünf unterschiedlichen Stellungen auf, von denen jeweils mindestens
zwei so ausgestaltet sind, dass die Rastwirkung durch Anlegen eines elektri-
schen oder pneumatischen Signals aufgehoben werden kann. Aus der Be-
schreibung der Anmeldung ergibt sich jedoch unmittelbar und eindeutig, dass
diese in der Beschreibung als vorteilhaft geschilderte Ausgestaltung nicht von
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der Anzahl der Stellungen abhängt, in denen die Rastwirkung aufgehoben wer-
den kann.
Die der Erfindung zugrunde liegende Aufgabe wird bereits in der Anmel-
dung dahin formuliert, eine Ventileinrichtung zur Verfügung zu stellen, die ohne
wesentliche Änderung der Konstruktion mit oder ohne Totmannfunktion ausge-
bildet werden kann (Abs. 6 der Offenlegungsschrift). Die Erreichung dieses
Ziels wird als Vorteil der Erfindung eingehend hervorgehoben (Abs. 8). Dem
entsprechend ist die Möglichkeit einer aufhebbaren Rastwirkung bei einigen der
geschilderten Ausführungsbeispiele (Abs. 34 ff.) in zwei und bei anderen in vier
Stellungen möglich - je nachdem, ob für die beiden äußeren Positionen eine
Totmannfunktion realisiert ist oder nicht.
Auch wenn dies in der Anmeldung nicht ausdrücklich erwähnt wird, ergibt
sich daraus für den Fachmann unmittelbar und eindeutig, dass die Zahl der
Stellungen, in denen die aufhebbare Rastwirkung realisiert ist, für die Ausfüh-
rung der Erfindung nicht von Bedeutung ist, sondern allein davon abhängt, wel-
che Funktionen die Ventileinrichtung erfüllen soll und wie viele einrastbare Posi-
tionen dafür erforderlich sind. Folgerichtig enthalten die in der Anmeldung for-
mulierten Ansprüche keine Festlegung auf eine bestimmte Zahl von Positionen.
bb) Vor diesem Hintergrund ist in der Anmeldung hinreichend deutlich of-
fenbart, dass die Erfindung auch Vorrichtungen mit nur einer einrastbaren Stel-
lung umfasst.
Wenn es auf die konkrete Zahl solcher Stellungen nicht ankommt, wäre
die Annahme, dass es mindestens zwei solcher Stellungen geben muss, aus
Sicht des Fachmanns allenfalls dann gerechtfertigt, wenn aus der Anmeldung
besondere Umstände hervorgingen, die dies nahelegten. Solche Anhaltspunkte
ergeben sich aus den vom Patentgericht getroffenen Feststellungen nicht. Folg-
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lich war die Patentinhaberin nicht gehindert, von einer Übernahme des in den
Ausführungsbeispielen verwirklichten Merkmals, dass es mindestens zwei ein-
rastbare Stellungen gibt, in den Patentanspruch abzusehen.
cc) Der abweichenden Auffassung der Einspruchsabteilung des Europä-
ischen Patentamts, die das europäische Patent 1 986 874 nur in eingeschränk-
ter Fassung aufrechterhalten hat, vermag der Senat nicht beizutreten.
Die Einspruchsabteilung stützt ihre Auffassung im Wesentlichen auf den
Wortlaut der Anmeldung, in der einrastbare Stellen nur im Plural erwähnt wer-
den, und vermisst einen Hinweis darauf, dass das in der Anmeldung geschilder-
te Ausführungsbeispiel durch Weglassen von vier einrastbaren bzw. drei entrie-
gelbaren Stellungen verallgemeinert werden kann. Diese Beurteilung berück-
sichtigt nach Auffassung des Senats nicht hinreichend die in der Anmeldung
enthaltene Offenbarung, dass die genaue Zahl der einrastbaren oder entriegel-
baren Stellungen nicht ausschlaggebend ist.
IV. Die angefochtene Entscheidung ist gemäß § 108 Abs. 1 PatG an das
Patentgericht zu anderweiter Verhandlung und Entscheidung zurückzuverwei-
sen. Das Patentgericht wird in der wieder eröffneten Beschwerdeinstanz zu prü-
fen haben, ob der Gegenstand des Streitpatents patentfähig ist.
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V. Eine mündliche Verhandlung erachtet der Senat nicht als erforderlich
(§ 107 Abs. 1 PatG).
Meier-Beck
Gröning
Bacher
Deichfuß
Kober-Dehm
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 28.09.2015 - 9 W (pat) 49/10 -
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