Urteil des BGH vom 10.08.2011

Arbeitsgericht, Rechtliches Gehör, Zustellung, Abgabe, Rechtspflege

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
X ARZ 263/11
vom
10. August 2011
in der Sache
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Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. August 2011 durch
den Richter Keukenschrijver, die Richterin Mühlens, die Richter Gröning,
Dr. Bacher und die Richterin Schuster
beschlossen:
Die Bestimmung des zuständigen Gerichts wird abgelehnt.
Gründe:
I. Der anwaltlich vertretene Kläger hat beim "Arbeitsgericht Lüdinghau-
sen" unter Angabe der Anschrift des Amtsgerichts Lüdinghausen einen mit der
Überschrift "Klage und Prozesskostenhilfeantrag" versehenen Schriftsatz einge-
reicht. In Lüdinghausen existiert kein Arbeitsgericht. Der Schriftsatz trägt den
Eingangsstempel des dortigen Amtsgerichts. Nach einem richterlichen Hinweis,
dass der Sache nach die Arbeitsgerichte zuständig seien, beantragte der Kläger
die Verweisung an das Arbeitsgericht Bocholt. Das Amtsgericht gewährte der
Beklagten rechtliches Gehör. Eine Zustellung der Klage oder eine Übermittlung
des Prozesskostenhilfeantrags zur Stellungnahme erfolgten jedoch nicht. Die
anwaltlich nicht vertretene Beklagte stimmte der beantragten Verweisung zu.
Sodann übersandte das Amtsgericht die Akten formlos an das Arbeitsgericht
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Bocholt "zuständigkeitshalber" unter Verweis auf den zuvor an den Kläger ge-
gebenen rechtlichen Hinweis.
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Das Arbeitsgericht lehnte die Übernahme jedoch ab und sandte die Ak-
ten formlos an das Amtsgericht mit der Bemerkung zurück, dass die Verwei-
sung eines Rechtsstreits nach § 17a Abs. 2 GVG eines Beschlusses des ange-
rufenen Gerichts bedürfe, durch den der beschrittene Rechtsweg für unzulässig
erklärt und an das zuständige Gericht verwiesen werde, woran es vorliegend
fehle.
Das Amtsgericht sandte die Akten mit der Bemerkung zurück, dass die
Sache nicht an das Arbeitsgericht verwiesen, sondern, da Rechtshängigkeit
noch nicht eingetreten sei, an dieses abgegeben worden sei. Der Antragsteller
habe lediglich ein Prozesskostenhilfeersuchen eingereicht und einen Klageent-
wurf beigefügt. Eine förmliche Zustellung sei nicht erfolgt. Im Prozesskostenhil-
feverfahren sei § 17a GVG nicht entsprechend anwendbar.
Das Arbeitsgericht lehnte die Übernahme erneut ab und sandte die Akten
formlos an das Amtsgericht mit der Bemerkung zurück, dass das Arbeitsgericht
Bocholt zwar funktional und örtlich zuständig sei, es sich der Sache aber erst
nach einem förmlichen Beschluss des Amtsgerichts Lüdinghausen nach § 17a
Abs. 2 GVG annehmen könne.
Das Amtsgericht hat die Akten daraufhin dem Bundesgerichtshof mit der
Bitte um Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.
II. Die Bestimmung des zuständigen Gerichts in entsprechender Anwen-
dung des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO ist abzulehnen.
1. Der Antrag ist allerdings statthaft. Die §§ 17a, 17b GVG stehen dem
nicht entgegen. Zwar hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass das Verfah-
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ren der Rechtswegverweisung in den genannten Vorschriften abschließend ge-
regelt ist (BGH, Beschluss vom 24. Februar 2000 - III ZB 33/98, BGHZ 144, 21,
24). Hieraus folgt indes nur, dass die Parteien sich nicht auf das Verfahren nach
§ 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO verweisen lassen müssen, solange eine Entscheidung
nach § 17a GVG noch mit Rechtsmitteln angefochten werden kann. Soweit sol-
che Rechtsmittel nicht zur Verfügung stehen, ist unter besonderen Vorausset-
zungen ein Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO möglich (BGH, Beschluss
vom 13. November 2001 - X ARZ 266/01, NJW-RR 2002, 713; vom 26. Juli
2001 - X ARZ 69/01, NJW 2001, 3631, 3632).
Der Bundesgerichtshof ist auch als derjenige oberste Gerichtshof des
Bundes, der zuerst darum angegangen wurde, für die hier zu treffende Ent-
scheidung zuständig (BGH, Beschluss vom 7. Mai 1965 - Ib ARZ 207/64, BGHZ
44, 14, 15 = NJW 1965, 1596; Beschluss vom 26. Juli 2001 - X ARZ 69/01,
NJW 2001, 3631, 3632; BAG, Beschluss vom 6. Januar 1971 - 5 AR 282/70,
BAGE 23, 167, 170 = NJW 1971, 581). Die Neufassung des § 36 ZPO durch
Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts
(SchiedsVfG) vom 22. Dezember 1997 (BGBl. I S. 3224) hat an der Rechtslage
insoweit nichts geändert (BGH, Beschluss vom 26. Juli 2001 - X ARZ 69/01,
NJW 2001, 3631, 3632; ebenso BAG, Beschluss vom 14. Dezember 1998
- 5 AS 8/98, NZA 1999, 390, 392).
2. Die Voraussetzungen für eine Bestimmung des zuständigen Gerichts
entsprechend § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen nicht vor.
Eine Zuständigkeitsbestimmung entsprechend dieser Vorschrift kommt
grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn verschiedene Gerichte, von denen
eines zuständig ist, sich rechtskräftig für unzuständig erklärt haben, woran es
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vorliegend fehlt. Weder das Amtsgericht Lüdinghausen noch das Arbeitsgericht
Bocholt hat in einem Beschluss nach § 17a Abs. 2 GVG seine Zuständigkeit
verneint. Das Arbeitsgericht hat in seiner letzten Rückleitungsverfügung ausge-
führt, dass es sich für funktionell und örtlich zuständig erachte, sich aber man-
gels formellen Verweisungsbeschlusses daran gehindert sehe, in der Sache
selbst tätig zu werden. Der Streit der beteiligten Gerichte betrifft demnach nicht
die Zuständigkeit, so dass für eine Zuständigkeitsbestimmung durch den Bun-
desgerichtshof entsprechend § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO kein Raum ist (vgl. BGH,
Beschluss vom 26. Februar 2002 - X ARZ 9/02, juris Rn. 9 f.).
Die Sache ist daher an das vorlegende Amtsgericht Lüdinghausen zu-
rückzugeben.
III. Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes
hin:
Das Amtsgericht Lüdinghausen wird die Akten erneut dem Arbeitsgericht
Bocholt vorzulegen haben. Eines Beschlusses nach § 17a Abs. 2 GVG bedarf
es hierzu entgegen der vom Arbeitsgericht vertretenen Auffassung nicht, weil
die Sache mangels Zustellung (§ 253 Abs. 1 ZPO) nicht rechtshängig ist (vgl.
BGH, Beschluss vom 18. Oktober 1995 - XII ARZ 18/95, NJW-RR 1996, 254).
Dabei kann offen bleiben, ob das klägerische Begehren vorliegend als Prozess-
kostenhilfeantrag mit Klageentwurf oder - wofür bereits die Überschrift spricht -
als unbedingte Klage mit einem flankierenden Prozesskostenhilfeantrag auszu-
legen ist. Sollte Letztes anzunehmen sein, so fehlt es an einer förmlichen Zu-
stellung an den Beklagten nach § 271 Abs. 1 ZPO. Vor dem Eintritt der Rechts-
hängigkeit kommt aber kein Beschluss nach § 17 Abs. 2 ZPO, sondern regel-
mäßig nur eine Abgabe der Sache an ein anderes Gericht in Betracht, wenn der
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Kläger wie hier darum bittet, weil er nunmehr dieses andere Gericht anstelle
des zuerst angegangenen Gerichts anrufen will. Entscheidend ist hierfür nicht,
ob das zunächst angerufene Gericht unzuständig war und das andere Gericht
zuständig ist. Mit der Abgabe wird vielmehr dem Willen des Klägers Rechnung
getragen, dem es zunächst freisteht, welches Gericht er anrufen will (BGH, Be-
schluss vom 5. März 1980 - IV ARZ 8/80, NJW 1980, 1281; BAG, Beschluss
vom 9. Februar 2006 - 5 AS 1/06, NJW 2006, 1371 Rn. 17; Foerste in Musielak,
ZPO, 8. Aufl., § 281 Rn. 5). Für den Fall eines Prozesskostenhilfeersuchens gilt
nichts anderes, zumal es vorliegend noch nicht einmal an den Beklagten nach
§ 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO mit der Aufforderung, sachlich dazu Stellung zu neh-
men, mitgeteilt worden ist. Da das Arbeitsgericht Bocholt in seiner letzten Zulei-
tungsverfügung seine funktionelle und örtliche Zuständigkeit bereits bejaht hat,
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geht der Senat davon aus, dass dem Verfahren dort nun auch ohne einen Aus-
spruch der Rechtswegzuständigkeit, der vor Rechtshängigkeit nur ausnahms-
weise im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicher-
heit geboten ist (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Dezember 1982 - I ARZ 586/82,
NJW 1983, 1062; Beschluss vom 13. November 2001 - X ARZ 266/01, juris
Rn. 16), Fortgang gegeben wird.
Keukenschrijver
Mühlens
Gröning
Bacher
Schuster
Vorinstanz:
AG Lüdinghausen, Entscheidung vom 22.06.2011 - 4 C 212/11 -