Urteil des BGH vom 29.11.2016

Leitsatzentscheidung zu Haftpflichtversicherung, Billigkeitshaftung, Schmerzensgeld, Gesundheit

ECLI:DE:BGH:2016:291116UVIZR606.15.0
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 606/15
Verkündet am:
29. November 2016
Böhringer-Mangold
Justizamtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BGB § 829
1. Ein Schadensersatzanspruch aus § 829 BGB ist nicht schon dann zu gewäh-
ren, wenn die Billigkeit es erlaubt, sondern nur dann, wenn die gesamten
Umstände des Falles eine Haftung des schuldlosen Schädigers aus Billig-
keitsgründen geradezu erfordern.
2. Gemäß § 829 BGB sind insbesondere die Verhältnisse der Beteiligten zu
berücksichtigen. Dazu bedarf es stets eines Vergleichs der Vermögenslagen
der Beteiligten, wobei für einen Anspruch aus § 829 BGB ein "wirtschaftli-
ches Gefälle" zugunsten des Schädigers vorliegen muss. Die Billigkeit erfor-
dert es nicht, dem Bestehen einer freiwilligen Haftpflichtversicherung unge-
achtet des Trennungsprinzips eine anspruchsbegründende Bedeutung zu-
kommen zu lassen.
BGH, Urteil vom 29. November 2016 - VI ZR 606/15 - OLG Celle
LG Hannover
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 29. November 2016 durch den Vorsitzenden Richter Galke, die Richterin
von Pentz, den Richter Offenloch und die Richterinnen Dr. Roloff und Müller
für Recht erkannt:
Die Revision gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandes-
gerichts Celle vom 24. September 2015 wird auf Kosten des Klä-
gers zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger nimmt den Beklagten auf Schmerzensgeld aus §§ 829, 253
Abs. 2 BGB in Anspruch.
Der Kläger ist seit 1990 Lokführer im Fernverkehr der Deutschen Bahn
AG. Er war bereits mehrfach - das vorletzte Mal im August 2010 - in Unfälle
verwickelt, bei denen Personen sich das Leben nahmen. Am 24. Dezember
2011 wollte der Kläger als Lokführer eines IC am Hauptbahnhof Hannover aus
Gleis 11 abfahren. Der Beklagte saß auf einer Bank an diesem Gleis. Als der
Zug anfuhr, sprang er plötzlich unmittelbar vor dem IC auf das Gleisbett. Der
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Kläger konnte den Zug mit einer Schnellbremsung stoppen, so dass der Be-
klagte nicht verletzt wurde.
Der Beklagte ist seit längerem ernsthaft psychiatrisch erkrankt und dro-
genabhängig. Im Zeitpunkt des Vorfalls stand er unter Betreuung und befand
sich wegen einer akuten Psychose in einem die freie Willensbestimmung aus-
schließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit. Derzeit absol-
viert er eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann. Über eigenes
Vermögen verfügt er nicht. Er ist über seine Mutter haftpflichtversichert.
Der Kläger war nach dem Vorfall bis Ende Juli 2012 krankgeschrieben.
Er behauptet, aufgrund des Vorfalls eine posttraumatische Belastungsstörung
erlitten zu haben. Nachdem in einem Vorprozess seine Klage gegen die Mutter
und damalige Betreuerin des Beklagten mangels Verletzung einer Aufsichts-
pflicht abgewiesen worden ist, verlangt er nunmehr von dem Beklagten
Schmerzensgeld in Höhe von mindestens
6.000 € aus Billigkeitsgründen nach
§§ 829, 253 Abs. 2 BGB.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers
hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zu-
gelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat einen Schmerzensgeldanspruch des Klägers
gegen den Beklagten aus §§ 829, 253 Abs. 2 BGB verneint. In die Beurteilung
der Billigkeit seien alle tat-, täter- und geschädigtenbezogenen Umstände ein-
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zubeziehen. Ein wesentlicher Gesichtspunkt sei dabei die wirtschaftliche Situa-
tion der Parteien. Hier liege ein wirtschaftliches Gefälle nicht zugunsten des
drogenabhängigen und in Ausbildung befindlichen Beklagten, sondern allenfalls
zugunsten des in ungekündigter Stellung bei der Deutschen Bahn AG befindli-
chen Klägers vor. Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte in Zukunft zu einem
großen Vermögen kommen könnte, bestünden nicht. Der Umstand, dass der
Kläger, der bereits mehrfach Suizide habe erleben müssen, den Beklagten
durch seine sofortige Reaktion vor Verletzungen bewahrt habe, so dass dieser
unversehrt aus dem Gleisbett habe steigen können, während der Kläger nach
dem Vorfall psychisch erkrankt und über einen längeren Zeitraum arbeitsunfä-
hig gewesen sei, mache eine Schmerzensgeldzahlung nicht notwendig. Die
Funktion der Billigkeitshaftung, die als Ausfallhaftung in besonderen Ausnahme-
fällen zu begreifen sei, liege nicht im Dank für eine besondere Leistung, son-
dern es müsse ein deutliches Gefälle der Umstände zuungunsten des Schädi-
gers sprechen. Ein solches sei auch deshalb zu verneinen, weil Lokführer von
Berufs wegen dem besonderen Risiko ausgesetzt seien, "Opfer eines Selbst-
mörders" zu werden. Der Gedanke der Selbstaufopferung könne Ansprüche
aus §§ 670, 683 BGB analog begründen, nicht aber Schadensersatzansprüche
im Sinne von § 253 Abs. 2 BGB, und sei daher bei der Abwägung im Rahmen
des § 829 BGB nicht zu Gunsten des Klägers zu berücksichtigen. Ferner habe
unberücksichtigt zu bleiben, dass der Beklagte über seine Mutter privathaft-
pflichtversichert sei; dies allein könne nicht zur Bejahung der Billigkeitshaftung
führen, sondern allenfalls für die Höhe eines zu zahlenden Betrages von Be-
deutung sein.
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II.
Diese Erwägungen halten im Ergebnis revisionsrechtlicher Nachprüfung
stand. Da eine Haftung des Beklagten für die von ihm verursachte Verletzung
der Gesundheit des Klägers gemäß § 823 Abs. 1 BGB mangels Verantwortlich-
keit des Beklagten ausscheidet (§ 827 BGB) und Ersatz des Schadens nicht
von einem aufsichtspflichtigen Dritten verlangt werden kann, kommt allein eine
Ersatzpflicht aus Billigkeitsgründen gemäß § 829 BGB in Betracht. Das Beru-
fungsgericht hat eine solche Billigkeitshaftung im Ergebnis rechtsfehlerfrei ver-
neint.
1. Die tatrichterliche Entscheidung, ob die Billigkeit nach den Umständen
eine Schadloshaltung erfordert, ist mit der Revision nur beschränkt angreifbar.
Der Nachprüfung unterliegt aber, ob der Tatrichter wesentliche Gesichtspunkte
übersehen oder aus rechtsirrigen Erwägungen in ihrer Bedeutung verkannt hat
(vgl. Senatsurteil vom 15. Januar 1957 - VI ZR 135/56, BGHZ 23, 90, 100).
Dabei muss bedacht werden, dass die verschuldensunabhängige Haf-
tung aus § 829 BGB im deliktischen Haftungssystem eine Ausnahme bildet.
Deswegen ist, entsprechend dem Wortlaut der Vorschrift, nach ständiger
Rechtsprechung des Senats ein Schadensersatzanspruch aus § 829 BGB nicht
schon dann zu gewähren, wenn die Billigkeit es erlaubt, sondern nur dann,
wenn die gesamten Umstände des Falles eine Haftung des schuldlosen Schä-
digers aus Billigkeitsgründen geradezu erfordern (Vereinigte Große Senate,
Beschluss vom 16. September 2016 - VGS 1/16, Rn. 36, zur Veröffentlichung in
BGHZ bestimmt; Senatsurteile vom 24. Juni 1969 - VI ZR 15/68, NJW 1969,
1762; vom 11. Oktober 1994 - VI ZR 303/93, BGHZ 127, 186, 192). Schon die-
ser Ausnahmecharakter des § 829 BGB zwingt dazu, die Voraussetzungen,
unter denen eine Schadloshaltung des Geschädigten als billig anzusehen ist,
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hoch anzusetzen (Senatsurteil vom 11. Oktober 1994 - VI ZR 303/93, BGHZ
127, 186, 193).
Gemäß § 829 BGB sind insbesondere die Verhältnisse der Beteiligten zu
berücksichtigen, wobei maßgeblicher Zeitpunkt derjenige der letzten mündli-
chen Tatsachenverhandlung ist (Senatsurteil vom 24. April 1979 - VI ZR 8/78,
VersR 1979, 645). Dazu bedarf es stets eines Vergleichs der Vermögenslagen
der Beteiligten, wobei für einen Anspruch aus § 829 BGB ein "wirtschaftliches
Gefälle" zugunsten des Schädigers vorliegen muss (Senatsurteile vom 24. April
1979 - VI ZR 8/78, VersR 1979, 645; vom 18. Dezember 1979 - VI ZR 27/78,
BGHZ 76, 279, 284; vgl. auch Senatsurteil vom 13. Juni 1958 - VI ZR 109/57,
NJW 1958, 1630, 1631). Als ein für die Vermögenslage des Schädigers be-
deutsamer Umstand ist das Bestehen einer Pflichtversicherung wie der Kfz-
Pflichthaftpflichtversicherung anzuerkennen, da deren Zweck in erster Linie auf
den Schutz des Geschädigten ausgerichtet ist. Diese besondere Zweckbestim-
mung der Pflichthaftpflichtversicherung im Kraftfahrzeugverkehr rechtfertigt im
Rahmen des § 829 BGB die Durchbrechung des Trennungsprinzips, demzufol-
ge die Eintrittspflicht des Versicherers der Haftung folgt und nicht umgekehrt die
Haftung der Versicherung (Senatsurteile vom 3. Dezember 1991 - VI ZR
378/90, BGHZ 116, 200, 209; vom 11. Oktober 1994 - VI ZR 303/93, BGHZ
127, 186, 192; zum Trennungsprinzip s. BGH, Urteile vom 1. Oktober 2008
- IV ZR 285/06, VersR 2008, 1560 Rn. 7; vom 18. Mai 2011 - IV ZR 168/09,
VersR 2011, 1003 Rn. 16; vom 20. April 2016 - IV ZR 531/14, VersR 2016, 783
Rn. 14). Das Bestehen einer freiwilligen Haftpflichtversicherung rechtfertigt die
Durchbrechung des Trennungsprinzips hingegen grundsätzlich nicht und kann
daher - auch im Rahmen des § 829 BGB - jedenfalls nicht anspruchsbegrün-
dend wirken (Senatsurteile vom 13. Juni 1958 - VI ZR 109/57, NJW 1958, 1630,
1631 f.; vom 26. Juni 1962 - VI ZR 152/61, NJW 1962, 2201; vom 18. Dezem-
ber 1979 - VI ZR 27/78, BGHZ 76, 279, 285 ff.; vgl. auch Senatsurteil vom 27.
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Oktober 2009 - VI ZR 296/08, VersR 2009, 1677 Rn. 14; im Ergebnis ebenso:
BeckOGK/Schneider, BGB, Stand 1. Oktober 2016, § 829 Rn. 19 f.; Staudin-
ger/Oechsler, BGB, Neubearb. 2014, § 829 Rn. 52; Spindler in Bamber-
ger/Roth, BGB, 3. Auflage, § 829 Rn. 8; Hanau, VersR 1969, 291, 293 f.; Lieb,
MDR 1995, 992, 993; Oechsler, NJW 2009, 3185, 3188; Seybold/Wendt, VersR
2009, 455, 461 f.; Kuhn, SVR 2013, 321, 326; aA Soergel/Spickhoff, BGB, 13.
Auflage, § 829 Rn. 20; MünchKommBGB/Wagner, 6. Aufl., § 829 Rn. 20 ff.;
Fuchs, AcP 191 (1991), 318, 338 f.; Wolf, VersR 1998, 812, 816 ff.; E. Lorenz in
Festschrift Medicus 1999, 353, 364 f.). Von einem Funktionswandel dergestalt,
dass auch die freiwillige Haftpflichtversicherung nicht mehr in erster Linie dem
Schutz des Versicherten, sondern dem des Geschädigten dienen würde, ver-
mag sich der Senat nach wie vor nicht zu überzeugen (vgl. schon Senatsurteil
vom 18. Dezember 1979 - VI ZR 27/78, BGHZ 76, 279, 286). Ein gesetzlicher
Direktanspruch des Geschädigten gegen den Haftpflichtversicherer besteht,
anders als bei der Pflichtversicherung (§ 115 VVG), nicht. Die Pflicht des Versi-
cherers, den Versicherungsnehmer von begründeten Haftpflichtansprüchen
freizustellen und unbegründete Ansprüche abzuwehren (§ 100 VVG), folgt nach
wie vor dem Grundsatz, dass der Freistellungsanspruch eine Haftung des
Schädigers voraussetzt und die Haftpflichtversicherung nicht dazu bestimmt ist,
eine Haftung des Schädigers gegen den Geschädigten erst zu begründen. Das
Risiko, dass der Versicherungsnehmer oder Versicherte einen Schaden herbei-
führt, für den er nicht verantwortlich ist, ist grundsätzlich nicht versichert. Be-
steht aber kein Versicherungsschutz, kann dieser auch keinen in den Vergleich
der Vermögenslagen einzubeziehenden Vermögenswert des Schädigers dar-
stellen. Jedenfalls erfordert es die Billigkeit nicht, dem Bestehen einer freiwilli-
gen Haftpflichtversicherung für die Frage des "Ob" der Haftung ungeachtet des
Trennungsprinzips eine maßgebliche Bedeutung zukommen zu lassen. Das gilt
erst recht dann, wenn die anderweitigen wirtschaftlichen Verhältnisse der Betei-
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ligten eine Haftung nach § 829 BGB nicht rechtfertigen oder ihr sogar entge-
genstehen würden (vgl. Senatsurteil vom 13. Juni 1958 - VI ZR 109/57, NJW
1958, 1630, 1631).
Ohnehin könnte allein das Bestehen eines Versicherungsschutzes, auch
soweit er bei dem Vergleich der Vermögenslagen zu berücksichtigen wäre, wie
auch sonst die Diskrepanz der Vermögenslagen für sich genommen die Billig-
keitshaftung nicht auslösen (Senatsurteil vom 11. Oktober 1994 - VI ZR 303/93,
BGHZ 127, 186, 192; vom 24. April 1979 - VI ZR 8/78, VersR 1979, 645; vom
24. Juni 1969 - VI ZR 15/68, NJW 1969, 1762; vom 26. Juni 1962 - VI ZR
152/61, NJW 1962, 2201, 2202; vgl. auch Senatsurteil vom 13. Juni 1958
- VI ZR 109/57, NJW 1958, 1630, 1632). Vielmehr sind darüber hinaus die ge-
samten Umstände des Falles zu berücksichtigen, etwa die Besonderheiten der
die Schadensersatzpflicht auslösenden Handlung (Senatsurteil vom 15. Januar
1957 - VI ZR 135/56, BGHZ 23, 90, 99), sowie Anlass, Hergang und Folgen der
Tat (vgl. Senatsurteil vom 24. April 1979 - VI ZR 8/78, VersR 1979, 645).
Ob für die Zuerkennung von Schmerzensgeld im Rahmen des § 829
BGB darüber hinaus erforderlich ist, dass eine Versagung im Einzelfall dem
Billigkeitsempfinden krass widersprechen würde, wie es der Senat vor der Neu-
regelung des § 253 BGB unter Berücksichtigung dessen gefordert hat, dass bei
schuldlos verursachten Unfällen ein Schmerzensgeld regelmäßig nicht verwirkt
war (Senatsurteil vom 11. Oktober 1994 - VI ZR 303/93, BGHZ 127, 186, 193),
kann für den vorliegenden Fall dahinstehen.
2. Das angefochtene Urteil wird den genannten Grundsätzen gerecht.
a) Rechtlich zutreffend hat das Berufungsgericht erkannt, dass in die Be-
urteilung der Billigkeit alle tat-, täter- und geschädigtenbezogenen Umstände
einzubeziehen sind und dass dabei "ein wesentlicher Gesichtspunkt" die wirt-
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schaftliche Situation des Klägers einerseits und des Beklagten andererseits ist.
Dies entspricht sowohl dem Gesetzeswortlaut ("insbesondere nach den Ver-
hältnissen der Beteiligten") als auch der ständigen Rechtsprechung des Senats
(s.o. unter 1.) und gilt entgegen der Auffassung der Revision nicht nur für den
Anspruch auf Ersatz materieller Schäden. Das Berufungsgericht hat - insoweit
von der Revision nicht angegriffen - festgestellt, dass derzeit ein wirtschaftliches
Gefälle nicht zugunsten des Beklagten, sondern allenfalls zugunsten des Klä-
gers besteht. Da es für die Begründetheit des Leistungsantrags auf die Verhält-
nisse zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung ankommt,
kann dahinstehen, ob es sich, wie von der Revision eingewandt, lediglich um
eine Vermutung des Berufungsgerichts handelt, wenn es ausführt, dass keine
Anhaltspunkte für eine künftige Umkehrung des Gefälles bestehen.
Es ist weiter aus den eingangs genannten Gründen nicht zu beanstan-
den, dass das Berufungsgericht das Bestehen der freiwilligen Haftpflichtversi-
cherung auf Seiten des Beklagten nicht anspruchsbegründend berücksichtigt
hat. Dies gilt umso mehr, als die anderweitigen wirtschaftlichen Verhältnisse der
Parteien allenfalls ein Gefälle zugunsten des Klägers ergeben und damit einer
Haftung des Beklagten vorliegend sogar entgegenstehen würden.
b) Unzutreffend ist die Ansicht der Revision, dass im Rahmen des § 829
BGB eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge gemäß § 254
BGB zu erfolgen habe, an der es hier fehle. Die Anwendung des § 254 BGB
würde vorliegend voraussetzen, dass dem Kläger ein Schadensersatzanspruch
gegen den Beklagten zusteht und er den Schaden mitverschuldet hat. Beides
ist nicht der Fall. Insbesondere kann ein Anspruch aus § 829 BGB nicht damit
begründet werden, dass der Schädiger - wie hier der Beklagte - den Schaden
allein verursacht hat.
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c) Im Ergebnis zu Recht hat das Berufungsgericht auch den Gedanken
der Selbstaufopferung nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt. Zweifelhaft
erscheint zwar die Begründung, dass der Gedanke der Selbstaufopferung im
Rahmen des § 829 BGB nicht zu berücksichtigen sei, weil er als Anspruch aus
§§ 670, 683 BGB analog keinen Anspruch auf Schmerzensgeld begründen
könne. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass der Gedanke der Selbstaufopfe-
rung des Geschädigten nicht nur im Rahmen einer Geschäftsführung ohne Auf-
trag, sondern im Falle einer objektiv unerlaubten Handlung eines gemäß § 827
BGB nicht verantwortlichen Schädigers auch im Rahmen der Billigkeitsprüfung
des § 829 BGB zum Tragen kommt und somit Ansprüche auf Ersatz des mate-
riellen und immateriellen Schadens auslöst (vgl. Senatsurteil vom 26. Juni 1962
- VI ZR 152/61, NJW 1962, 2201, 2202). Indes kann vorliegend von einer
Selbstaufopferung nicht ausgegangen werden. Eine solche liegt dann vor, wenn
eine Person in einer Gefahrenlage durch eine Rettungshandlung einen anderen
vor Schaden bewahrt und sich durch diese Handlung gleichzeitig selbst schä-
digt (vgl. Senatsurteil vom 27. November 1962 - VI ZR 217/61, BGHZ 38, 270;
vom 26. Juni 1962 - VI ZR 152/61, NJW 1962, 2201, 2202). Vorliegend ist je-
doch die Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit des Klägers schon
dadurch hervorgerufen worden, dass der Beklagte vor dem Zug ins Gleisbett
gesprungen ist. Die nachfolgende Rettungshandlung des Klägers durch Anhal-
ten des Zuges hat die Beeinträchtigung weder verursacht noch vergrößert; es
ist eher anzunehmen, dass diese für den Kläger noch größer gewesen wäre,
hätte er den Zug nicht gebremst, sondern den Beklagten überrollt. Der Kläger
hat sich und seine Gesundheit demnach nicht für den Beklagten "geopfert",
vielmehr ist er aufgrund der vom Beklagten herbeigeführten Gefahrenlage ge-
schädigt worden, auf die er geistesgegenwärtig und schnell reagiert hat.
d) Was bleibt, ist die Tatsache, dass der Kläger den Beklagten durch
seine Reaktion vor Verletzungen oder sogar vor dem Tod bewahrte, so dass
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der Beklagte völlig unversehrt blieb, während der Kläger aufgrund des Vorfalls
psychisch erkrankte. Es ist rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Beru-
fungsgericht diesem Umstand, den es ausdrücklich in seine Entscheidung ein-
bezogen hat, kein eine Haftung erforderndes Gewicht beigemessen hat. Dass
es dem Kläger gelungen ist, rechtzeitig zu bremsen, ist eine anerkennenswerte
Leistung, aber kein Umstand, der eine Billigkeitshaftung erfordert. Auch stellt es
keine Besonderheit dar, dass bei einer objektiv unerlaubten Handlung nur einer
- der Geschädigte - und nicht auch der Schädiger einen Schaden davon trägt.
Die Besonderheit besteht vorliegend nur darin, dass der Beklagte in seinem die
freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geis-
testätigkeit geschädigt werden wollte, was der Kläger zu verhindern wusste.
Dies erfordert die Billigkeitshaftung des Beklagten nicht und vermag erst recht
nicht darüber hinwegzuhelfen, dass es zudem an dem gemäß § 829 BGB erfor-
derlichen wirtschaftlichen Gefälle zugunsten des Beklagten fehlt.
Galke
von Pentz
Offenloch
Roloff
Müller
Vorinstanzen:
LG Hannover, Entscheidung vom 13.04.2015 - 1 O 85/14 -
OLG Celle, Entscheidung vom 24.09.2015 - 5 U 48/15 -