Urteil des BGH vom 11.12.2012

Öffentlichkeit, Staatssicherheit, Persönlichkeitsrecht, Bezirksverwaltung, Veröffentlichung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 315/10
Verkündet am:
11. Dezember 2012
Holmes
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 11. Dezember 2012 durch den Vorsitzenden Richter Galke, den Richter
Zoll, die Richterin Diederichsen, den Richter Pauge und die Richterin von Pentz
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 7. Zivilsenats
des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 12. Oktober
2010 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungs-
gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Unterlassung der Berichterstattung
über seine angebliche Tätigkeit als inoffizieller Mitarbeiter (IM) für das Ministeri-
um für Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
(DDR) in Anspruch.
Der Kläger war Professor an der Universität Leipzig, Fraktionsvorsitzen-
der der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) im Sächsischen Landtag
und Spitzenkandidat dieser Partei für die Landtagswahl am 19. September
2004. Die Beklagte verlegt die Zeitungen "BILD" und "DIE WELT". In diesen
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Zeitungen wurde in der Zeit vom 9. bis 16. August 2004 in insgesamt drei Arti-
keln über den Verdacht berichtet, der Kläger habe seit 1970 als inoffizieller Mit-
arbeiter IM "Christoph" mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammenge-
arbeitet und dabei insbesondere seine damalige Freundin und jetzige Frau be-
spitzelt.
Der Kläger sieht sich durch die Veröffentlichungen in seinem allgemeinen
Persönlichkeitsrecht verletzt. Er behauptet, er habe keine Kenntnis davon ge-
habt, dass das Ministerium für Staatssicherheit ihn als "IM Christoph" geführt
habe. Er sei ohne sein Wissen "abgeschöpft" worden.
Das Landgericht hat die Beklagte zur Unterlassung der Verbreitung ver-
schiedener Passagen der Artikel verurteilt. Die Berufung der Beklagten war er-
folglos. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die
Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Beklagte habe die Anforderun-
gen an eine zulässige Verdachtsberichterstattung nicht eingehalten; die vom
Kläger beanstandeten Textpassagen verletzten den Kläger in seinem allgemei-
nen Persönlichkeitsrecht. Ihre Veröffentlichung sei insbesondere nicht deshalb
zulässig, weil die darin als Verdacht geäußerten Behauptungen zutreffend sei-
en. Es sei nicht erwiesen, dass der Kläger wissentlich und willentlich mit dem
Staatssicherheitsdienst der DDR zusammengearbeitet habe. Die Beweislast für
die Wahrheit der Behauptungen liege bei der Beklagten. Der Beweis sei durch
die vorgelegten Dokumente der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes der DDR (nachfolgend: Bundesbeauftragte) und die
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Aussagen der Zeugen nicht erbracht worden. Zwar bleibe ein erheblicher Ver-
dacht, dass die Behauptung des Klägers, nicht gewusst zu haben, dass die
Zeugen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen seien, nicht
zutreffe. Denn den vorgelegten Unterlagen und den Aussagen der Zeugen sei
zu entnehmen, dass der Kläger über Jahre vielfach und unter konspirativen
Umständen Kontakt mit Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes gehabt und
er diesen gegenüber höchst private und politisch brisante Einzelheiten über
Freunde, Bekannte und seine damalige Lebensgefährtin berichtet habe. Sie
ließen aber nicht den zwingenden Schluss zu, dass dem Kläger bekannt gewe-
sen sei, wer seine Gesprächspartner waren. Der Möglichkeit, dass der Kläger
unwissentlich mit Vertretern der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) gesprochen
habe, stehe insbesondere nicht zwingend entgegen, dass die HVA im Jahre
1970 für den Kläger eine Karteikarte mit dem Decknamen "IM Christoph" ange-
legt habe und dass in der Aktennotiz des Zeugen O. vom 5. März 1984 festge-
halten worden sei, dass der Kläger bei der HVA positiv erfasst sei und zuver-
lässig arbeite. Hieraus ergäben sich zwar erhebliche Verdachtsmomente. Eine
Gewissheit über eine positive Kenntnis des Klägers bestehe hingegen nicht.
Die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Äußerungen ergebe sich ferner
auch nicht daraus, dass es sich um Verdachtsäußerungen über einen Gegen-
stand gehandelt habe, an dem zweifellos ein großes Informationsinteresse der
Öffentlichkeit bestanden habe, so dass die Beklagte in Wahrnehmung berech-
tigter Interessen gehandelt hätte. Die Zulässigkeit der Berichterstattung scheite-
re jedenfalls daran, dass die Beklagte, die ihre Informationen im Wesentlichen
Berichten des Nachrichtenmagazins "FOCUS" entnommen habe, vor der Veröf-
fentlichung keine hinreichenden eigenen Recherchen durchgeführt habe. Auf
die Einschätzung der Bundesbeauftragten und ihrer Mitarbeiter, wonach die
vorhandenen Unterlagen zweifelsfrei auf eine "IM"-Tätigkeit hinwiesen, habe
sich die Beklagte nicht "blind" verlassen dürfen, zumal ihr bei Erscheinen der
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Erstmitteilungen die Erwägungen der Behörde und die Basis, auf der sie beruh-
ten, nicht bekannt gewesen seien. Zudem sei ohnehin nicht ersichtlich, auf wel-
che konkreten Dokumente sich die Einschätzung bezogen habe. Die Stellung-
nahmen des Direktors der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und des
Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen sowie die Aussagen
der Bundesbeauftragten im Ausschuss des Sächsischen Landtags hätten bei
Erscheinen der angegriffenen Berichterstattung noch nicht vorgelegen. Ange-
sichts der Schwere und Tragweite der gegen den Kläger erhobenen Vorwürfe
habe die Beklagte damit ihrer Recherchepflicht nicht genügt, die dahin gegan-
gen sei, vor der Veröffentlichung nicht nur die im "FOCUS" genannten Unterla-
gen einer eigenen Untersuchung zu unterziehen und in diesem Rahmen den
Kläger konkret mit deren Inhalt zu konfrontieren, sondern nach Möglichkeit auch
den Verfasser der Berichte zu den Umständen ihres Zustandekommens zu be-
fragen.
Schließlich führe die Tatsache, dass der Kläger selbst nach Erscheinen
der Beiträge am 19. August 2004 eine Pressekonferenz abgehalten habe, nicht
zum Fortfall der Wiederholungsgefahr. Die Beklagte habe nicht vorgetragen,
wie dezidiert im Rahmen dieser Pressekonferenz über die Vorwürfe gesprochen
worden sei. Dass der Kläger selbst belastende Tatsachen öffentlich gemacht
habe, die bis dahin noch nicht durch die Artikel des "FOCUS" oder anderer Me-
dien bekannt gewesen seien, sei weder vorgetragen noch ersichtlich. Allein ein
Auftritt des Betroffenen in der Öffentlichkeit mit dem Ziel, die bekannt geworde-
nen Vorwürfe zurückzuweisen, lasse die Wiederholungsgefahr nicht nachträg-
lich entfallen. Der Kläger habe ein schützenswertes rechtliches Interesse daran,
einmal in die Öffentlichkeit gelangte Vorwürfe zu dementieren und seine Sicht
darzustellen.
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II.
Diese Erwägungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht
stand. Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Beru-
fungsgerichts, dem Kläger stehe gegen die Beklagte wegen der angegriffenen
Äußerungen ein Unterlassungsanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB, § 1004 Abs. 1
Satz 2 BGB analog in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG zu.
1. Das Berufungsgericht hat allerdings zu Recht angenommen, dass die
angegriffenen Äußerungen einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht
des Klägers darstellen. Es hat den Sinngehalt der beanstandeten Äußerungen
zutreffend erfasst, indem es - unter Bezugnahme auf die entsprechenden Aus-
führungen des Landgerichts - angenommen hat, die Beklagte habe in jeweils
unterschiedlichen Formen den Verdacht geäußert, der Kläger habe als informel-
ler Mitarbeiter (IM) mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) zu-
sammengearbeitet und "Spitzeldienste" erbracht. Es hat die Äußerungen auch
zu Recht als Tatsachenbehauptungen eingestuft. Die Äußerung des Verdachts,
mit dem MfS zusammengearbeitet zu haben, ist geeignet, sich abträglich auf
das Ansehen des Klägers, insbesondere sein Bild in der Öffentlichkeit, auszu-
wirken (vgl. BVerfGE 114, 339, 346; BVerfGE 119, 1, 24, jeweils mwN; siehe
auch Senatsurteil vom 25. Oktober 2011 - VI ZR 332/09, VersR 2012, 66
Rn. 20 f.; BVerfG, AfP 2010, 562 Rn. 56; EGMR, NJW 2012, 1058 Rn. 83).
2. Die Revision wendet sich aber mit Erfolg gegen die Beurteilung des
Berufungsgerichts, das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers werde
durch die angegriffenen Äußerungen in rechtswidriger Weise verletzt.
a) Wegen der Eigenart des Persönlichkeitsrechts als eines Rahmen-
rechts liegt seine Reichweite nicht absolut fest, sondern muss erst durch eine
Abwägung der widerstreitenden grundrechtlich geschützten Belange bestimmt
werden, bei der die besonderen Umstände des Einzelfalles sowie die betroffe-
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nen Grundrechte und Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechts-
konvention interpretationsleitend zu berücksichtigen sind. Der Eingriff in das
Persönlichkeitsrecht ist nur dann rechtswidrig, wenn das Schutzinteresse des
Betroffenen die schutzwürdigen Belange der anderen Seite überwiegt (Senats-
urteile vom 8. Mai 2012 - VI ZR 217/08, VersR 2012, 994 Rn. 35; vom 30. Ok-
tober 2012 - VI ZR 4/12, z.V.b., Rn. 10, jeweils mwN).
Im Streitfall sind das durch Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1
EMRK gewährleistete Interesse des Klägers auf Schutz seiner Persönlichkeit
und seines guten Rufs mit dem in Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 10 EMRK verankerten
Recht der Beklagten auf Meinungs- und Medienfreiheit abzuwägen (vgl. Se-
natsurteile vom 25. Oktober 2011 - VI ZR 332/09, VersR 2012, 66 Rn. 24; vom
22. November 2011 - VI ZR 26/11, VersR 2012, 192 Rn. 14, jeweils mwN;
BVerfG, NJW 2012, 756 Rn. 18; NJW 2012, 1500 Rn. 33). Bei Tatsachenbe-
hauptungen wie im vorliegenden Fall hängt die Abwägung zwischen den wider-
streitenden Interessen vom Wahrheitsgehalt ab. Wahre Tatsachenbehauptun-
gen müssen in der Regel hingenommen werden, auch wenn sie nachteilig für
den Betroffenen sind, unwahre dagegen nicht (vgl. Senatsurteile vom 8. Mai
2012 - VI ZR 217/08, VersR 2012, 994 Rn. 37; vom 30. Oktober 2012 - VI ZR
4/12, z.V.b., Rn. 12, jeweils mwN; BVerfG, AfP 2009, 480 Rn. 62 mwN; NJW
2012, 1500 Rn. 39). Außerhalb des Schutzbereichs des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG
liegen aber nur bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen und solche, deren
Unwahrheit bereits im Zeitpunkt der Äußerung feststeht. Alle übrigen Tatsa-
chenbehauptungen mit Meinungsbezug genießen den Grundrechtsschutz, auch
wenn sie sich später als unwahr herausstellen (vgl. Senatsurteil vom 22. April
2008 - VI ZR 83/07, BGHZ 176, 175 Rn. 34; BVerfG, AfP 2009, 480 Rn. 62,
jeweils mwN).
b) Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Beru-
fungsgerichts, die von der Beklagten als Verdacht geäußerten Behauptungen
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seien nicht (erweislich) wahr. Zwar ist das Berufungsgericht im Ansatz zutref-
fend davon ausgegangen, dass die Beweislast für die Wahrheit der Tatsachen-
behauptungen nach der über § 823 Abs. 2 BGB in das Deliktsrecht transfor-
mierten Beweisregel des § 186 StGB der auf Unterlassung in Anspruch ge-
nommenen Beklagten als Äußernden obliegt (vgl. Senatsurteile vom 30. Januar
1996 - VI ZR 386/94, BGHZ 132, 13, 23; vom 22. April 2008 - VI ZR 83/07,
BGH 176, 175 Rn. 21; vom 28. Februar 2012 - VI ZR 79/11, VersR 2012, 502
Rn. 13; BVerfGE 114, 339, 352). Wie die Revision jedoch zu Recht bean-
standet, beruht die Annahme des Berufungsgerichts, die Beklagte habe nicht
bewiesen, dass der Kläger wissentlich und willentlich mit dem Staats-
sicherheitsdienst zusammengearbeitet habe, auf einer Verletzung von § 286
Abs. 1 ZPO.
aa) Nach dieser Vorschrift hat das Gericht unter Berücksichtigung des
gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer Beweisauf-
nahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behaup-
tung für wahr oder für nicht wahr zu erachten ist. Diese Würdigung ist grund-
sätzlich Sache des Tatrichters. An dessen Feststellungen ist das Revisionsge-
richt nach § 559 ZPO gebunden. Revisionsrechtlich ist lediglich zu überprüfen,
ob sich der Tatrichter mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfas-
send und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Würdigung also voll-
ständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze oder Erfah-
rungssätze verstößt (vgl. Senatsurteile vom 20. Dezember 2011 - VI ZR 309/10,
VersR 2012, 454 Rn. 13 mwN; vom 10. Juli 2012 - VI ZR 341/10, VersR 2012,
1261 Rn. 28 mwN, zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt).
Der revisionsrechtlichen Überprüfung unterliegt ferner das Beweismaß.
Nach § 286 ZPO hat der Tatrichter ohne Bindung an Beweisregeln und nur sei-
nem Gewissen unterworfen die Entscheidung zu treffen, ob er an sich mögliche
Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr über-
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zeugen kann. Jedoch setzt das Gesetz eine von allen Zweifeln freie Überzeu-
gung nicht voraus. Das Gericht darf keine unerfüllbaren Beweisanforderungen
stellen und keine unumstößliche Gewissheit bei der Prüfung verlangen, ob eine
Behauptung wahr und erwiesen ist. Vielmehr darf und muss sich der Richter in
tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchba-
ren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, oh-
ne sie völlig auszuschließen (vgl. Senatsurteile vom 8. Juli 2008 - VI ZR 259/06,
VersR 2008, 1265 Rn. 22; vom 19. Oktober 2010 - VI ZR 241/09, VersR 2011,
223 Rn. 21; BGH, Urteile vom 17. Februar 1970 - III ZR 139/67, BGHZ 53, 245,
255 f.; vom 14. Januar 1993 - IX ZR 238/91, NJW 1993, 935, 937; vom 13.
März 2003 - X ZR 100/00, GRUR 2003, 507, 508, jeweils mwN). Zweifel, die
sich auf lediglich theoretische Möglichkeiten gründen, für die tatsächliche An-
haltspunkte nicht bestehen, sind nicht von Bedeutung (vgl. Senatsurteil vom 8.
Juli
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- VI ZR 259/06, aaO).
bb) Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht nicht hinreichend beach-
tet.
(1) Die Beweiswürdigung ist unvollständig und verstößt gegen Denkge-
setze und Erfahrungssätze. Die Revision beanstandet zu Recht, dass die Deu-
tung der in den Akten des MfS verwendeten Begriffe durch das Landgericht, auf
dessen Würdigung das Berufungsgericht Bezug genommen hat, zum Teil weit
hergeholt und mit dem natürlichen Sprachempfinden kaum in Einklang zu brin-
gen ist.So rügt die Revision mit Erfolg, dass das Berufungsgericht, das insoweit
auf die Würdigung des Landgerichts Bezug genommen hat, den Bericht der
Bezirksverwaltung Leipzig des Ministeriums für Staatssicherheit vom 9. März
1984 als mit dem Vortrag des Klägers, er sei lediglich ohne sein Wissen "abge-
schöpft" worden, vereinbar angesehen hat. Der Bericht vom 9. März 1984 be-
trifft nach den Feststellungen des Berufungsgerichts die erste Kontaktaufnahme
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der Bezirksverwaltung Leipzig mit dem Kläger, der bis zu dieser Zeit nur bei der
Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) als inoffizieller Mitarbeiter erfasst war. In
diesem Bericht führt Oberleutnant O. von der Bezirksverwaltung Leipzig aus:
"Entsprechend der Mitteilung der HVA konnte mit diesem IM die Verbindung zur
zeitweiligen Nutzung aufgenommen werden. Dazu wurden die Telefonnummer
des IM und ein Erkennungswort mitgeteilt. Die Verbindungsaufnahme zum IM
erfolgte telefonisch und geschah ohne Schwierigkeiten." Die Revision bean-
standet mit Recht, dass die Würdigung des Landgerichts, unter dem Erken-
nungswort könne auch der Arbeitsname zu verstehen sein, unter dem alle
durch den Kläger erlangten Informationen zwischen der Hauptverwaltung und
der Bezirksverwaltung Leipzig auszutauschen seien, unvertretbar ist. Sie trägt
insbesondere dem anerkannten Grundsatz nicht Rechnung, wonach der Sinn-
gehalt von Erklärungen unter Berücksichtigung des Wortlautes und des Zu-
sammenhangs zu erfassen und hierbei das übliche Verständnis der betroffenen
Verkehrskreise zu berücksichtigen ist. Nach dem Gesamtzusammenhang der
Äußerung erfolgte die Mitteilung des Erkennungswortes an die Bezirksverwal-
tung gemeinsam mit der Bekanntgabe der Telefonnummer des IM zum Zwecke
der Kontaktaufnahme mit diesem. Im unmittelbar auf die Verwendung des Er-
kennungswortes folgenden Satz wird mitgeteilt, dass die Kontaktaufnahme tele-
fonisch erfolgt und ohne Schwierigkeiten geschehen sei. Weshalb in diesem
Zusammenhang das Erkennungswort den Arbeitsnamen bezeichnen soll, unter
dem die Informationen zwischen der Hauptverwaltung und der Bezirksverwal-
tung auszutauschen waren, ist schlechterdings nicht nachvollziehbar. Dies gilt
umso mehr, wenn man die Aussage der Mitarbeiterin der Bundesbeauftragten
in der Sitzung des Ausschusses für Geschäftsordnung und Immunitätsangele-
genheiten des Sächsischen Landtags vom 10. Januar 2006 berücksichtigt, wo-
nach es üblich gewesen sei, zur Herstellung des Kontakts mit einem dem inoffi-
ziellen Mitarbeiter bislang unbekannten Offizier des Ministeriums für Staatssi-
cherheit Kennwörter zu vereinbaren.
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(2) Die Revision rügt auch mit Erfolg, dass das Berufungsgericht die An-
forderungen an die richterliche Überzeugung überspannt hat. Das Landgericht
hat rechtfehlerhaft eine mathematische, jede Möglichkeit eines abweichenden
Geschehensablaufs ausschließende Gewissheit gefordert. Es hat die Hinweise
in den Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes jeweils isoliert gewürdigt und
theoretische Erklärungen dafür gefunden, warum es nicht "gänzlich undenkbar",
"nicht unmöglich" oder "nicht gänzlich unplausibel" sei, dass die Darstellung des
Klägers zutreffend sei und er nicht gewusst habe, dass er seine umfassende
Spitzeltätigkeit tatsächlich für den Staatssicherheitsdienst erbrachte. Die erheb-
lichen Verdachtsmomente wiesen nicht "zwingend" darauf hin, dass der Kläger
Kenntnis von der Identität seiner Gesprächspartner gehabt habe.
Das Berufungsgericht hat zwar zutreffend ausgeführt, dass für die rich-
terliche Überzeugungsbildung ein für das praktische Leben brauchbarer Grad
von Gewissheit genüge, der Zweifeln Schweigen gebiete, ohne sie völlig aus-
zuschließen. In der Sache hat es aber keine geringeren Anforderungen an die
Überzeugungsbildung als das Landgericht gestellt. Es hat sich uneingeschränkt
dessen rechtsfehlerhafter Beweiswürdigung angeschlossen und ebenfalls da-
rauf abgestellt, dass die "durchaus erheblichen Verdachtsmomente" nicht den
"zwingenden" bzw. "alleinigen Schluss" auf eine Kenntnis des Klägers zuließen
bzw. seiner Unkenntnis "nicht zwingend entgegen" ständen.
c) Die Revision wendet sich darüber hinaus mit Erfolg gegen die Beurtei-
lung des Berufungsgerichts, die angegriffenen Äußerungen seien auch nicht
nach den Grundsätzen der Verdachtsberichterstattung zulässig.
aa) Die Revision rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht entschei-
dungserheblichen Vortrag der Beklagten bei seiner Entscheidungsfindung nicht
berücksichtigt hat. Die Beklagte hatte in der Klageerwiderung vorgetragen, dass
sich der Kläger in einer Pressekonferenz vom 8. August 2004, zu der sämtliche
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Medien eingeladen worden seien, ausführlich zu den angekündigten Focus-
Enthüllungen und den darin enthaltenen Verdachtsmomenten geäußert habe.
Er habe insbesondere ausgeführt, dass er keine Stasi-Vergangenheit als IM
Christoph habe, "nie bewusst" mit dem MfS zusammengearbeitet und "nie wis-
sentlich" einen Stasioffizier getroffen habe. Zu dem - unter Bezugnahme auf
den Bericht in den Stasi-Unterlagen erhobenen - konkreten Vorwurf, dass er als
IM Christoph über eine Lesung der Autorin C. M. berichtet habe, habe er speku-
liert, bei seinen "öffentlichen Reden über diese Veranstaltung" von der Stasi
"abgeschöpft" worden zu sein.
Dieser Vortrag der Beklagten ist entscheidungserheblich. Die Beklagte
hat damit geltend gemacht, der Kläger habe sich vor der Berichterstattung
durch die Beklagte gezielt an die Öffentlichkeit gewandt, um seine Reaktion auf
die Vorwürfe bekannt zu geben. Die Presse konnte über seine Reaktion aber
nur dann sinnvoll berichten, wenn sie zugleich die gegen ihn erhobenen Vor-
würfe darstellte. Dieses Verhalten des Klägers kann entweder als eine die
Rechtswidrigkeit ausschließende Einwilligung in die Berichterstattung der Be-
klagten zu werten sein oder jedenfalls dazu führen, dass sein Interesse an ei-
nem Schutz seiner Persönlichkeit im Rahmen der Abwägung hinter dem Inte-
resse der Beklagten an einer Berichterstattung zurückzutreten hat (vgl. zur Ein-
willigung in eine Persönlichkeitsbeeinträchtigung: BVerfGE 106, 28, 45 f.; Se-
natsurteile vom 28. September 2004 - VI ZR 305/03, VersR 2005, 83 mwN; vom
19. Oktober 2004 - VI ZR 292/03, VersR 2005, 84, 86; LG Köln, AfP 1989,
766 f.; siehe auch OLG Karlsruhe, OLGR 2006, 598, 599; OLG Frankfurt, ZUM
2007, 915, 916; LG München, ZUM-RD 2008, 309; Prinz/Peters, Medienrecht,
1999, Rn. 249; vgl. zur Berücksichtigung bei der Abwägung: Senatsurteile vom
3. Mai 1977 - VI ZR 36/74, NJW 1977, 1288, 1289, insoweit in BGHZ 68, 331
nicht abgedruckt; vom 26. Mai 2009 - VI ZR 191/08, VersR 2009, 1085 Rn. 26;
BVerfG, AfP 2010, 365 Rn. 32; BVerfGK 9, 54, 62). Denn hat sich der Kläger
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mit den für seine Stasi-Vergangenheit sprechenden Verdachtsmomenten öffent-
lich auseinandergesetzt, kann es der Presse nicht untersagt sein, diese Vorwür-
fe anschließend zum Gegenstand einer Berichterstattung zu machen.
bb) Die Revision rügt auch mit Erfolg, dass das Berufungsgericht bei der
Prüfung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Äußerungen die Anforderungen
an eine zulässige Verdachtsberichterstattung überspannt hat.
(1) Das Berufungsgericht ist im Ansatz allerdings zutreffend davon aus-
gegangen, dass eine Tatsachenbehauptung, deren Wahrheitsgehalt ungeklärt
ist und die eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Angelegenheit betrifft,
demjenigen, der sie aufstellt oder verbreitet, solange nicht untersagt werden
darf, wie er sie zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für erforderlich halten
darf (Art. 5 GG, § 193 StGB). Eine Berufung hierauf setzt voraus, dass der auf
Unterlassung in Anspruch Genommene vor Aufstellung oder Verbreitung der
Behauptung hinreichend sorgfältige Recherchen über den Wahrheitsgehalt an-
gestellt hat (vgl. Senatsurteile vom 30. Januar 1996 - VI ZR 386/94, BGHZ 132,
13, 23 mwN; vom 22. April 2008 - VI ZR 83/07, BGHZ 176, 175 Rn. 35;
BVerfGE 114, 339, 353; BVerfG, AfP 2009, 480 Rn. 62). Erforderlich ist ein
Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Informa-
tion sprechen und ihr damit erst "Öffentlichkeitswert" verleihen. Die Darstellung
darf keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten, also durch eine präjudizie-
rende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei
der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt. Auch ist vor der Veröffentli-
chung regelmäßig eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen. Schließlich
muss es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen
Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist
(vgl. Senatsurteil vom 7. Dezember 1999 - VI ZR 51/99, BGHZ 143, 199, 203 f.
mwN).
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(2) Die Revision beanstandet mit Recht, dass das Berufungsgericht den
erforderlichen Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsge-
halt der angegriffenen Äußerungen sprechen, verneint und zu hohe Anforde-
rungen an die von der Beklagten einzuhaltende Sorgfalt gestellt hat.
(a) Die Pflichten zur sorgfältigen Recherche über den Wahrheitsgehalt
richten sich nach den Aufklärungsmöglichkeiten. Sie sind für die Medien stren-
ger als für Privatleute. An die Wahrheitspflicht dürfen im Interesse der Mei-
nungsfreiheit keine Anforderungen gestellt werden, die die Bereitschaft zum
Gebrauch des Grundrechts herabsetzen und so den freien Kommunikations-
prozess einschnüren. Andererseits ist aber auch zu berücksichtigen, dass die
Wahrheitspflicht Ausdruck der Schutzpflicht ist, die aus dem allgemeinen Per-
sönlichkeitsrecht folgt. Je schwerwiegender die Äußerung das Persönlichkeits-
recht beeinträchtigt, umso höhere Anforderungen sind deshalb an die Erfüllung
der Sorgfaltspflichten zu stellen. Allerdings ist auch das Interesse der Öffent-
lichkeit an derartigen Äußerungen zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, AfP 2009,
480 Rn. 62 mwN sowie Senatsurteil vom 7. Dezember 1999 - VI ZR 51/99,
BGHZ 143, 199, 203 f.; BVerfGE 114, 339, 353 f.; BVerfGK 9, 317, 321;
BVerfGK 10, 485, 489; EGMR, NJW 2000, 1015 Rn. 66; NJW 2006, 1645
Rn. 78; NJW 2012, 1058 Rn. 82).
(b) Die Revision beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht die
- in dem Artikel in der BILD vom 9. August 2004 wiedergegebene und vom Be-
rufungsgericht durch Bezugnahme auf die entsprechenden Ausführungen des
Landgerichts seiner Entscheidung als unstreitig zugrunde gelegte - Stellung-
nahme des Pressesprechers der Bundesbeauftragten, Herrn B., rechtsfehler-
haft nicht als privilegierte Quelle gewertet hat, der die Beklagte ein gesteigertes
Vertrauen entgegenbringen durfte. Wie das Landgericht festgestellt hat, hatte
der Pressesprecher der Bundesbeauftragten erklärt, aus den gefundenen Un-
terlagen gehe zweifelsfrei hervor, dass der Kläger als IM Christoph für den
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Staatssicherheitsdienst tätig gewesen sei. Diese Stellungnahme bestätigte die
Berichterstattung des Nachrichtenmagazins "FOCUS" und den der Beklagten
vor der Veröffentlichung der angegriffenen Äußerungen vorliegenden Aus-
kunftsbericht der Bezirksverwaltung Leipzig vom 21. Juni 1988, nach dem der
Kläger jedenfalls zu diesem Zeitpunkt beim Ministerium für Staatssicherheit "ak-
tiv erfasst" war, im Kern.
Bei dem Bundesbeauftragten handelt es sich gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1
StUG um eine Bundesoberbehörde. In der Rechtsprechung und im Schrifttum
ist anerkannt, dass den Verlautbarungen amtlicher Stellen ein gesteigertes Ver-
trauen entgegengebracht werden darf (vgl. BVerfG, AfP 2010, 365 Rn. 35; OLG
Hamburg, ArchPR 1972, 86; OLG Stuttgart, AfP 1990, 145, 147; NJW-RR 1993,
733, 734; KG, AfP 1992, 302, 303; ZUM-RD 2011, 468, 472; OLG Karlsruhe,
NJW-RR 1993, 732, 733; OLG Dresden, NJW 2004, 1181, 1183; LG Olden-
burg, AfP 1988, 79, 80; siehe auch EGMR, NJW 2000, 1015 Rn. 72; NJW 2012,
1058 Rn. 105; Peters, NJW 1997, 1334, 1336; Wenzel/Burkhardt, Das Recht
der Wort- und Bildberichterstattung, 5. Aufl., Kap. 6 Rn. 136; Damm/Rehbock,
Widerruf, Unterlassung und Schadensersatz in den Medien, 3. Aufl., Rn. 986).
Denn Behörden sind in ihrer Informationspolitik unmittelbar an die Grundrechte,
namentlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen, gebunden und
zur Objektivität verpflichtet (vgl. BGH, Urteil vom 17. März 1994 - III ZR 15/93,
NJW 1994, 1950, 1951; BVerfG, NJW-RR 2010, 1195 Rn. 35; BeckOK
GG/Huster/Rux, Art. 20 GG Rn. 156 ff. [Stand: 1. Oktober 2012]).
Der Berücksichtigung der Auskünfte steht nicht entgegen, dass es sich
dabei nur um sekundäre Quellen handelt. Der Bundesbeauftragte ist für solche
Auskünfte besonders kompetent und kann das Vorliegen einer IM-Tätigkeit in
aller Regel besser beurteilen als Presseorgane. Die Unterrichtung der Öffent-
lichkeit, die gemäß § 37 Abs. 1 Nr. 5 StUG zu seinen Aufgaben und Befugnis-
sen gehört, setzt fundierte und umfassende Kenntnisse über den Staatssicher-
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29
- 16 -
heitsdienst und seinen Wirkungsbereich voraus (vgl. Pietrkiewicz/Burth in Gei-
ger/Klinghardt, StUG, 2. Aufl., § 37 Rn. 15). Deshalb ist beim Bundesbeauftrag-
ten auch eine Forschungsabteilung gebildet worden (Stoltenberg/Bossack,
StUG, 1. Aufl., § 37 Rn. 11).
III.
Das Berufungsurteil ist aufzuheben und die Sache zur neuen Verhand-
lung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit es
die erforderlichen Feststellungen treffen kann (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1
Satz 1 ZPO). Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass die
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der freien Beweiswürdigung unterlie-
gen; im Einzelfall kann ihnen durchaus ein hoher Beweiswert zukommen (vgl.
OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteile vom 23. September 1998 - 2 L 5/96,
S. 12 mwN, und vom 18. November 1998 - 2 L 76/97, juris Rn. 20; OLG Bran-
denburg, Urteil vom 13. November 2007 - 10 UF 161/07, juris Rn. 32; Rapp-
Lücke in Geiger/Klinghardt, StUG, 2. Aufl., § 19 Rn. 69; siehe auch BVerfGE
96, 189, 202 f.; BAGE 74, 257, 265; VG Meiningen, LKV 1995, 298, 299 f.).
Vorsorglich weist der Senat auch darauf hin, dass der Tenor des Landgerichts-
urteils zu weit gefasst ist. Ein Verbot der angegriffenen Äußerungen setzt eine
Abwägung zwischen dem Recht des Klägers auf Schutz seiner Persönlichkeit
und dem Recht der Beklagten auf Meinungs- und Medienfreiheit unter Berück-
sichtigung des Kontextes der Äußerungen voraus. Ein Verbot ohne Bezugnah-
me auf den Kontext geht daher grundsätzlich zu weit (vgl. auch OLG Hamburg,
ZUM 2010, 606, 609; für die Zulässigkeit von Bildveröffentlichungen Senatsur-
30
- 17 -
teile vom 13. November 2007 - VI ZR 265/06, BGHZ 174, 262 Rn. 13 f.; vom
6. Oktober 2009 - VI ZR 314/08, VersR 2009, 1675 Rn. 7 mwN).
Galke
Zoll
Diederichsen
Pauge
von Pentz
Vorinstanzen:
LG Hamburg, Entscheidung vom 30.05.2008 - 324 O 18/05 -
OLG Hamburg, Entscheidung vom 12.10.2010 - 7 U 67/08 -