Urteil des BGH vom 27.04.2011

Abschiebung, Ermittlungsverfahren, Freiheitsentziehung, Vollziehung, Aussetzung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 71/11
vom
27. April 2011
in der Abschiebungshaftsache
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 27. April 2011 durch den
Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richterin Dr. Stresemann, die Richter
Dr. Czub und Dr. Roth und die Richterin Dr. Brückner
beschlossen:
Dem Betroffenen wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren Verfah-
renskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin
Dr. Ackermann bewilligt.
Die Vollziehung der mit Beschluss des Amtsgerichts Lüneburg
vom 8. Februar 2011 angeordneten und mit Beschluss der
6. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg vom 28. Februar 2011
aufrechterhaltenen Sicherungshaft wird einstweilen ausgesetzt.
Gründe:
I.
Der Betroffene, ein serbischer Staatsangehöriger, reiste zuletzt am
6. Februar 2011 mit Hilfe von Schleusern in das Bundesgebiet ein. Er war nicht
im Besitz eines Passes oder Aufenthaltstitels und wurde am darauf folgenden
Tag in Lüneburg von der Polizei festgenommen.
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Der Beteiligte zu 2 beantragte am 8. Februar 2011 die Anordnung von
Sicherungshaft für die Dauer von drei Monaten, um den Betroffenen nach Ser-
bien abzuschieben.
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Dem Haftantrag war u.a. eine Strafanzeige gegen den Betroffenen we-
gen Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz beigefügt.
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Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 8. Februar 2011 die Haft zur Si-
cherung der Abschiebung bis längstens 7. Mai 2011 angeordnet. Die sofortige
Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen, nachdem die das Ermitt-
lungsverfahren führende Staatsanwaltschaft ihm gegenüber ihr Einverständnis
zu der Abschiebung des Betroffenen erklärt hatte. Hiergegen richtet sich die
Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er zugleich im Wege der einstweili-
gen Anordnung die vorläufige Aussetzung des Vollzugs der Haftentscheidung
beantragt.
II.
1. Der Aussetzungsantrag ist in entsprechender Anwendung von § 64
Abs. 3 FamG statthaft (siehe nur Senat, Beschluss vom 14. Oktober 2010
- V ZB 261/10, Rn. 8, juris; Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 211/10,
InfAuslR 2010, 440).
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2. Er ist auch begründet.
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a) Das Rechtsbeschwerdegericht hat über die beantragte einstweilige
Anordnung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dabei sind die
Erfolgsaussichten der Rechtsbeschwerde und die drohenden Nachteile für den
Betroffenen durch die weitere Inhaftierung gegeneinander abzuwägen. Die
Aussetzung der Vollziehung einer Freiheitsentziehung, die durch das Be-
schwerdegericht bestätigt worden ist, wird danach regelmäßig nur in Betracht
kommen, wenn das Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg hat oder die Rechtslage
zumindest zweifelhaft ist (Senat, Beschluss vom 14.
Oktober 2010
- V ZB 261/10, Rn. 8, juris; Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 211/10,
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InfAuslR 2010, 440). So liegt es hier, weil die Rechtsbeschwerde voraussicht-
lich Erfolg haben wird.
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b) Nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer, gegen den öf-
fentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingelei-
tet ist, nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft ausgewie-
sen und abgeschoben werden. Fehlen in dem Haftantrag Ausführungen zu dem
Einvernehmen, obwohl sich aus ihm selbst oder den ihm beigefügten Unterla-
gen ohne weiteres ergibt, dass die öffentliche Klage oder ein strafrechtliches
Ermittlungsverfahren anhängig ist, scheidet die Anordnung der Haft zur Siche-
rung der Abschiebung eines Ausländers aus, und der Antrag ist unzulässig
(siehe nur Senat, Beschluss vom 10. Februar 2011 - V ZB 49/10, Rn. 6, juris;
Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, Rn. 9, juris). So verhält es sich
hier. Dem Haftantrag war die gegen den Betroffenen gerichtete Strafanzeige
der Polizei beigefügt. Damit ergab sich ohne weiteres, dass ein strafrechtliches
Ermittlungsverfahren gegen ihn anhängig war (vgl. Senat, Beschluss vom
3. Februar 2011 - V ZB 224/10, Rn. 7, juris). Deshalb musste sich der Haftan-
trag der Behörde auch dazu ve
hiebung erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft
vorliegt. Hieran fehlt es indes.
c) Daran ändert der Umstand nichts, dass die zuständige Staatsanwalt-
schaft dem Beschwerdegericht ihr Einverständnis mit der Abschiebung des Be-
troffenen während des Beschwerdeverfahrens telefonisch mitgeteilt hat. Damit
entfiele zwar das der Abschiebung entgegenstehende Hindernis, jedoch nicht
die in der Beschwerdeinstanz nicht heilbare Verletzung des Art. 104 Abs. 1
Satz 1 GG (Senat, Beschluss vom 7. April 2011 - V ZB 133/10, S. 5, zur Veröf-
fentlichung bestimmt; Beschluss vom 21. Oktober 2010 - V ZB 96/10, Rn. 14,
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juris; Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211,
Rn. 19).
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d) Selbst wenn durch das im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung vor-
liegende Einvernehmen der Staatsanwaltschaft erstmals eine zulässige Tatsa-
chengrundlage für eine Haftanordnung - allerdings auch erst ab diesem Zeit-
punkt - vorgelegen hat, macht der Betroffene mit Erfolg geltend, dass er nach
Art. 103 Abs. 1 GG, §§ 68 Abs. 3 Satz 1, 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG durch das
Beschwerdegericht hätte angehört werden müssen, weil die Voraussetzungen
für das Absehen von der Anhörung (§ 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG) nicht vorgele-
gen haben. Der Betroffene hatte nämlich zuvor keine Gelegenheit, sich zu allen
tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der gegen ihn verhängten Freiheits-
entziehung zu äußern und persönlich zu den Gesichtspunkten Stellung zu
nehmen, auf die es für die Entscheidung über die Freiheitsentziehung ankam
(Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211,
Rn. 25).
Krüger
Stresemann
Czub
Roth
Brückner
Vorinstanzen:
AG Lüneburg, Entscheidung vom 08.02.2011 - 101 XIV 126 B -
LG Lüneburg, Entscheidung vom 28.02.2011 - 6 T 16/11 -