Urteil des BGH vom 27.10.2011

Abschiebung, Mangel, Freiheitsentziehung, Duldung, Widerstand

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 284/10
vom
27. Oktober 2011
in der Abschiebungshaftsache
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 27. Oktober 2011 durch den
Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, den Richter Dr. Lemke, die Richterin
Dr. Stresemann, den Richter Dr. Czub und die Richterin Dr. Brückner
beschlossen:
Dem Betroffenen wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ge-
gen die Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbe-
schwerde gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass
der Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Aurich vom
22. Oktober 2010 und der Beschluss des Amtsgerichts Leer vom
24. September 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt
haben.
Der Landkreis Leer hat dem Betroffenen sämtliche zur zweckent-
sprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen aller In-
stanzen zu erstatten.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
3.000 €.
Gründe:
I.
Der Betroffene, ein kongolesischer Staatsangehöriger, dessen Asylan-
trag bestandskräftig abgelehnt worden ist, hielt sich zuletzt aufgrund einer bis
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zum 16. November 2010 erteilten Duldung in der Bundesrepublik Deutschland
auf.
Auf Antrag der Beteiligten zu 2 vom 24. September 2010 hat das Amts-
gericht die Haft zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen für die Dauer
von zwei Monaten sowie die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeord-
net. Die hiergegen gerichtete Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben. Mit der
Rechtsbeschwerde möchte der zwischenzeitlich in den Kongo abgeschobene
Betroffene festgestellt wissen, dass die Haftanordnung des Amtsgerichts und
die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts ihn in seinen Rechten verletzt
haben.
II.
Das Beschwerdegericht hält den Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5
AufenthG für gegeben, weil der Betroffene bei einer versuchten Abschiebung
am 23. September 2010 nicht nur passiven Widerstand geleistet, sondern akti-
ven Widerstand ausdrücklich angekündigt habe. Angesichts des möglichen Wi-
derrufs der bestehenden Duldung sei eine Abschiebung innerhalb von drei Mo-
naten möglich.
III.
Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Die Entscheidung des
Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts verletzen den Betroffenen bereits
deshalb in seinen Rechten, weil es an einem zulässigen Haftantrag und damit
an der nach § 417 Abs. 1 FamFG unverzichtbaren Grundlage für die Freiheits-
entziehung fehlt.
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1. a) Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage
des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung (Senat,
Beschlüsse vom 29. April 2010
– V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211 Rn. 12
und vom 22. Juli 2010
– V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511, 1512 Rn. 7). Der
Haftantrag muss nach § 417 Abs. 2 Satz 1 FamFG begründet werden. Erforder-
lich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschie-
bungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbar-
keit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2
Nr. 3 bis 5 FamFG). Ein Verstoß gegen den Begründungszwang führt zur Unzu-
lässigkeit des Haftantrags (Senat, Beschlüsse vom 29. April 2010
– V ZB
218/09, aaO, Rn. 14 und vom 22. Juli 2010
– V ZB 28/10, aaO, Rn. 8).
b) Der Haftantrag vom 24. September 2010 genügt den gesetzlichen An-
forderungen nicht. Er beschränkt sich auf die Erklärung, der Betroffene sei
rechtskräftig abgelehnter Asylbewerber und habe sich einer Abschiebung am
23. September 2010 widersetzt, so dass mit einer Flucht in die Illegalität zu
rechnen sei. Angaben zu einem vollziehbaren Bescheid, aus dem sich die Aus-
reisepflicht des Betroffenen ergibt, zu der Durchführbarkeit einer (erneuten)
Abschiebung und zu der Notwendigkeit der beantragten Haftdauer fehlen.
2. Der Mangel des Haftantrags ist durch die späteren Angaben der Betei-
ligten zu 2 im Beschwerdeverfahren nicht geheilt worden.
a) Rückwirkend kann der Mangel eines Haftantrags ohnehin nicht geheilt
werden, da es sich bei der ordnungsgemäßen Antragstellung durch die Behör-
de um eine Verfahrensgarantie handelt, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1
Satz 1 GG fordert (Senat, Beschluss vom 29. April 2010
– V ZB 218/09,
FGPrax 2010, 210, 211 Rn. 19; Beschluss vom 21. Oktober 2010
– V ZB
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96/10, Rn. 14, juris; Beschluss vom 24. Februar 2011
– V ZB 202/10, FGPrax
2011, 146, 148 Rn. 26).
b) Der Mangel des Haftantrags ist durch die ergänzenden Angaben der
Beteiligten zu 2 im Rahmen des Beschwerdeverfahrens auch nicht mit Wirkung
(nur) für die Zukunft geheilt worden. Zwingende weitere Voraussetzung für eine
rechtmäßige Haftanordnung ist in einem solchen Fall nämlich, dass der Be-
troffene zu den ergänzenden Angaben persönlich angehört wird. Anderenfalls
ist
– weil der Betroffene zuvor (mangels zulässigen Haftantrags) keine Gele-
genheit hatte, zu den tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der gegen ihn
verhängten Freiheitsentziehung Stellung zu nehmen
– die nach Art. 104 Abs. 1
Satz 1 GG zu beachtende Verfahrensvorschrift des § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG
nicht gewahrt (vgl. Senat, Beschluss vom 3. Mai 2011
– V ZA 10/11 Rn. 11,
juris; Beschluss vom 27. April 2011
– V ZB 71/11 Rn. 10, juris; Beschluss vom
21. Oktober 2010
– V ZB 96/10 Rn. 13, juris; Beschluss vom 29. April 2010
– V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211 f. Rn. 25). Eine Anhörung des Betroffe-
nen in der Beschwerdeinstanz hat jedoch nicht stattgefunden.
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IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 83 Abs. 2, § 81 Abs. 1 Satz 1 und
§ 430 FamFG (vgl. Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010
– V ZB 193/09, InfAuslR
2010, 361, 363).
Krüger
Lemke
Stresemann
Czub
Brückner
Vorinstanzen:
AG Leer, Entscheidung vom 24.09.2010 - 2a XIV 3254 L -
LG Aurich, Entscheidung vom 22.10.2010 - 1 T 321/10 -
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