Urteil des BGH vom 26.04.2012

Anhörung, Haft, Eurodac, Absicht, Entziehen

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 17/12
vom
26. April 2012
in der Zurückschiebungshaftsache
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. April 2012 durch den Vor-
sitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richterin Dr. Stresemann, den Richter
Dr. Roth und die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass
der Beschluss des Amtsgerichts Kiel vom 21. Dezember 2011 und
der Beschluss der 19. Zivilkammer des Landgerichts Kiel vom
27. Januar 2012 ihn in seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechen-
den Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen
werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
3.
000 €.
Gründe:
I.
Der Betroffene, ein irakischer Staatsangehöriger, reiste am 5. Dezember
2011 ohne Reisepass und Aufenthaltstitel in die Bundesrepublik Deutschland
ein. Er meldete sich am 20. Dezember 2011 bei der beteiligten Behörde und
stellte dort einen Asylantrag. Eine Anfrage über Eurodac ergab, dass der Be-
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troffene am 2. Oktober 2011 bereits in Italien einen Asylantrag gestellt hatte.
Am 21. Dezember 2011 hat das Amtsgericht Haft zur Sicherung der Zurück-
schiebung nach Italien bis zum 20. März 2012 angeordnet. Die hiergegen ge-
richtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Am 6. Februar 2012
ist der Betroffene nach Italien zurückgeschoben worden. Mit der Rechtsbe-
schwerde beantragt er die Feststellung, dass er durch die Haftanordnung und
ihre Aufrechterhaltung in seinen Rechten verletzt worden ist.
II.
Nach Auffassung des Beschwerdegerichts liegen die Voraussetzungen
für eine Haft zur Sicherung der Zurückschiebung vor. Der Betroffene habe in
keiner Weise glaubhaft gemacht, dass er sich für eine Zurückschiebung freiwil-
lig zur Verfügung halten werde. Es sei auch nicht zu beanstanden, dass ihm der
Haftantrag erst zu Beginn seiner erstinstanzlichen Anhörung eröffnet worden
sei, da dieser einen einfachen, überschaubaren Sachverhalt betreffe.
III.
Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Sowohl die Entschei-
dung des Amtsgerichts als auch die des Beschwerdegerichts verletzen den Be-
troffenen in seinen Rechten.
1. Das Amtsgericht hat den Anspruch des Betroffenen auf Gewährung
rechtlichen Gehörs bei der Anordnung der Haft verletzt, weil ihm der Haftantrag
der beteiligten Behörde erst zu Beginn der Anhörung eröffnet wurde.
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a) Der Zeitpunkt, zu dem das Gericht des ersten Rechtszugs dem Be-
troffenen nach § 23 Abs. 2 FamFG den Haftantrag der beteiligten Behörde zu-
zuleiten hat, bestimmt sich einerseits danach, was zu der dem Richter im Frei-
heitsentziehungsverfahren obliegenden Sachaufklärung erforderlich ist, ande-
rerseits danach, was den Betroffenen in die Lage versetzt, das ihm von Verfas-
sungs wegen zukommende rechtliche Gehör effektiv wahrzunehmen. Ist der
Betroffene ohne vorherige Kenntnis des Antragsinhalts nicht in der Lage, zur
Sachaufklärung beizutragen und seine Rechte wahrzunehmen, muss ihm der
Antrag vor der Anhörung übermittelt werden. Dagegen genügt die Eröffnung
des Haftantrags zu Beginn der Anhörung, wenn dieser einen einfachen, über-
schaubaren Sachverhalt betrifft, zu dem der Betroffene auch unter Berücksich-
tigung einer etwaigen Überraschung ohne weiteres auskunftsfähig ist (vgl. zum
Ganzen Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323,
330 Rn. 16 mwN).
b) Danach genügte es hier nicht, dem Betroffenen den Haftantrag erst zu
Beginn der Anhörung zu eröffnen. Entgegen der Auffassung des Beschwerde-
gerichts betraf der vierseitige Haftantrag der beteiligten Behörde nicht einen
einfach gelagerten Sachverhalt. In dem Haftantrag war nicht - wie das Be-
schwerdegericht meint - lediglich dargelegt, dass der Betroffene ohne Papiere
illegal nach Deutschland eingereist sei. Vielmehr verhielt er sich unter anderem
auch dazu, dass die erkennungsdienstliche Behandlung über Eurodac ergeben
habe, dass der Betroffene in Italien einen Asylantrag gestellt habe, und daher
die italienischen Behörden für den rechtskräftigen Abschluss des Asylverfah-
rens zuständig seien. Zudem ist dargelegt, dass ein von dem Betroffenen in
Deutschland gestellter Asylantrag der Anordnung von Haft nicht entgegenstün-
de, da ein solcher Antrag im Hinblick auf die Zuständigkeit Italiens nach § 27a
AsylVfG unzulässig wäre. Schließlich verhält sich der Haftantrag auch zu der
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Frage der Zustimmung der Staatsanwaltschaft. Angesichts der Komplexität der
Ausführungen kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass der Betroffene
ohne vorherige Zuleitung des Haftantrags nicht in der Lage war, sich zu sämtli-
chen Angaben der beteiligten Behörde (vgl. § 417 Abs. 2 FamFG) zu äußern.
Der Umstand, dass dem Betroffenen bei der behördlichen Ingewahrsamnahme
der strafrechtliche Vorwurf der unerlaubten Einreise in arabischer Schrift eröff-
net worden war, ändert daran nichts.
2. Auch die Beschwerdeentscheidung verletzt den Anspruch des Be-
troffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs.
a) Es kann dahin gestellt bleiben, ob der Verfahrensbevollmächtigte des
Betroffenen im Laufe des Beschwerdeverfahrens Kenntnis von dem Haftantrag
erlangt hat. Auch wenn dies der Fall wäre, durfte das Beschwerdegericht nicht
von einer erneuten Anhörung des Betroffenen absehen; dies kommt gemäß
§ 68 Abs. 3 Satz 2, § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG nur dann in Betracht, wenn die
Anhörung in erster Instanz ordnungsgemäß erfolgt ist (Senat, Beschluss vom
8. Februar 2012 - V ZB 260/11, juris Rn. 6 mwN).
b) Darüber hinaus hätte das Beschwerdegericht den der Entziehungsab-
sicht entgegenstehenden, erstmals in der Beschwerdeinstanz erhobenen Vor-
trag, sich für die Zurückschiebung nach Italien bereithalten zu wollen, durch die
Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von dem Betroffenen würdigen
müssen. Eine Anhörung ist in aller Regel unverzichtbar, wenn es auf die
Glaubwürdigkeit des Ausländers ankommt (vgl. Senat, Beschluss vom 4. März
2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 153). So liegt es hier. Das Beschwer-
degericht durfte das Vorbringen des Betroffenen nicht als Schutzbehauptung
werten, ohne sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Denn
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es lagen Anhaltspunkte dafür vor, dass der Betroffene seine Absicht, sich der
Zurückschiebung nicht zu entziehen, erst im Beschwerdeverfahren hat vorbrin-
gen können. Das amtsgerichtliche Protokoll lässt nicht erkennen, dass der Be-
troffene zu der Frage der Entziehungsabsicht überhaupt angehört worden ist.
Die einzigen protokollierten Äußerungen des Betroffenen bestehen in den Sät-
zen „Sie können mich fragen. ... Ja, das stimmt“. Worauf sich letztere Antwort
bezieht, ist dem Protokoll nicht zu entnehmen.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 83 Abs. 2, § 81 Abs. 1,
§ 430 FamFG. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK
entspricht es billigem Ermessen, die Bundesrepublik Deutschland zur Erstat-
tung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen
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des Betroffenen zu verpflichten (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB
28/10 Rn. 18, juris). Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c
Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.
Krüger
Stresemann
Roth
Brückner
Weinland
Vorinstanzen:
AG Kiel, Entscheidung vom 21.12.2011 - 43 XIV 117 B -
LG Kiel, Entscheidung vom 27.01.2012 - 19 T 1/12 -