Urteil des BGH vom 27.04.2016

Ablauf der Frist, Ex Nunc, Lebensversicherung, Versicherer

ECLI:DE:BGH:2016:270416UIVZR500.14.0
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 500/14
Verkündet am:
27. April 2016
Schick
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende
Richterin
Mayen,
die
Richterin
Harsdorf-Gebhardt,
die
Richter
Dr. Karczewski, Lehmann und die Richterin Dr. Brockmöller im schriftli-
chen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO mit Schriftsatzfrist bis zum
1. April 2016
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerseite wird das Teilurteil der
1. Zivilkammer des Landgerichts Cottbus vom 12. Sep-
tember 2012 aufgehoben und die Sache zur neuen Ver-
handlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurück-
verwiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf
3.609,97
€ festgesetzt.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerseite (Versicherungsnehmer: im Folgenden d. VN) be-
gehrt von dem beklagten Versicherer (im Folgenden Versicherer) Rück-
zahlung geleisteter Versicherungsbeiträge einer kapitalbildenden Le-
bensversicherung und einer Rentenversicherung.
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Diese wurden jeweils aufgrund eines Antrages d. VN nach dem so
genannten Policenmodell des § 5a VVG in der seinerzeit gültigen Fas-
sung (im Folgenden § 5a VVG a.F.) abgeschlossen.
Versicherungsbeginn der Lebensversicherung war der 1. Dezem-
ber 1997. D. VN zahlte in der Folge die Versicherungsprämien . Versiche-
rungsbeginn der Rentenversicherung war der 1. September 2005. D. VN
zahlte auch hier in der Folge die Versicherungsprämien. Mit Schreiben
vom 17. November 2008 erklärte er die Kündigung beider Verträge und
erhielt jeweils den Rückkaufswert ausgezahlt. Mit Schreiben vom 1. und
2. März 2010 erklärte d. VN jeweils unter anderem den Widerspruch ge-
mäß § 5a VVG a.F.
Mit der Klage verlangt d. VN - soweit im Revisionsverfahren von
Belang - Rückzahlung aller geleisteten Beiträge nebst Zinsen abzüglich
des bereits gezahlten jeweiligen Rückkaufswerts.
Nach Auffassung d. VN sind die Versicherungsverträge nicht wirk-
sam zustande gekommen, weil er nicht ordnungsgemäß belehrt wurde.
Auch nach Ablauf der Frist des - gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen-
den - § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. habe der Widerspruch jeweils noch
erklärt werden können.
Das Amtsgericht hat die zunächst getrennt erhobenen Klagen ins-
gesamt jeweils abgewiesen. Das Landgericht hat beide Verfahren mitein-
ander verbunden. Zu den Zahlungsansprüchen gemäß den jeweiligen
Klageanträgen zu 1 hat es ein Teilurteil erlassen und die Berufungen
d. VN hinsichtlich dieser Anträge jeweils zurückgewiesen. Mit der Revisi-
on verfolgt d. VN das Klagebegehren insoweit weiter.
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Entscheidungsgründe:
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Z u-
rückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. Dieses hat einen Prämienrückerstattungsanspruch aus unge-
rechtfertigter Bereicherung verneint. Die Verträge seien jeweils gemäß
§ 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie
rückwirkend endgültig wirksam geworden.
II. Die Revision ist begründet.
1. Ein Anspruch auf Prämienrückzahlung aus § 812 Abs. 1 Satz 1
Alt. 1 BGB kann d. VN mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begrü n-
dung nicht versagt werden.
a) Nach dem für das Revisionsverfahren maßgeblichen Sachve r-
halt ist davon auszugehen, dass der von d. VN jeweils erklärte W ider-
spruch - ungeachtet des Ablaufs der in § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F.
normierten Jahresfrist - rechtzeitig war und infolgedessen der zwischen
den Parteien jeweils geschlossene Versicherungsvertrag infolge des Wi-
derspruchs d. VN nicht wirksam zustande gekommen ist.
aa) Das Berufungsgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen,
ob d. VN jeweils die Versicherungsbedingungen und eine Verbraucheri n-
formation erhielt und bei Aushändigung des Versicherungsscheins or d-
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nungsgemäß über das Widerspruchsrecht belehrt wurde. Entgegen der
Ansicht der Revisionserwiderung hat auch das Amtsgericht nicht im j e-
weils unstreitigen Tatbestand festgestellt, dass d. VN alle relevanten Un-
terlagen zugegangen sind.
bb) Wenn d. VN - was für das Revisionsverfahren zu unterstellen
ist - die Versicherungsbedingungen und die Verbraucherinformation j e-
weils nicht erhielt und nicht ordnungsgemäß über das Widerspruchsrecht
belehrt wurde, bestand das Widerspruchsrecht nach Ablauf der Jahre s-
frist und noch im Zeitpunkt der Widerspruchserklärung fort.
Das ergibt die richtlinienkonforme Auslegung des § 5a Abs. 2
Satz 4 VVG a.F. auf der Grundlage der Vorabentscheidung des Ge-
richtshofs der Europäischen Union vom 19. Dezember 2013 (VersR
2014, 225). Der Senat hat mit Urteil vom 7. Mai 2014 (IV ZR 76/11,
BGHZ 201, 101 Rn. 17-34) entschieden und im Einzelnen begründet, die
Regelung müsse richtlinienkonform teleologisch dergestalt reduziert wer-
den, dass sie im Anwendungsbereich der Zweiten und der Dritten Rich t-
linie Lebensversicherung keine Anwendung findet und für davon erfasste
Lebens- und Rentenversicherungen sowie Zusatzversicherungen zur L e-
bensversicherung grundsätzlich ein Widerspruchsrecht fortbesteht, wenn
d. VN - wie hier zu unterstellen - nicht ordnungsgemäß über das Recht
zum Widerspruch belehrt worden ist und/oder die Verbraucherinformation
oder die Versicherungsbedingungen nicht erhalten hat.
cc) Die Kündigung des jeweiligen Versicherungsvertrages steht
dem späteren Widerspruch nicht entgegen (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai
2014 aaO Rn. 36 m.w.N.). Ein Erlöschen des Widerspruchsrechts nach
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beiderseits vollständiger Leistungserbringung kommt ebenfalls nicht in
Betracht (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 37 m.w.N.).
b) Die bereicherungsrechtlichen Rechtsfolgen der Europarechts-
widrigkeit des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. sind nicht auf eine Wirkung
ab Zugang des Widerspruchs (ex nunc) zu beschränken, sondern nur e i-
ne Rückwirkung entspricht dem Effektivitätsgebot (dazu im Einzelnen
Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 42-44).
2. Der Höhe nach umfasst der Rückgewähranspruch nach § 812
Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB nicht uneingeschränkt alle gezahlten Prämien.
Vielmehr muss sich d. VN bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwick-
lung den jedenfalls bis zur Kündigung des jeweiligen Vertrages genosse-
nen Versicherungsschutz anrechnen lassen. Der Wert des Versiche-
rungsschutzes kann unter Berücksichtigung der Prämienkalkulation b e-
messen werden; bei Lebensversicherungen kann etwa dem Risikoanteil
Bedeutung zukommen (Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 45
m.w.N.).
Da es auch hierzu an Feststellungen fehlt, ist der Rechtsstreit zur
neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurüc k-
zuverweisen. Es wird den Parteien Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag
zu geben haben (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 46) und da-
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bei gegebenenfalls auch die Vorgaben der Senatsurteile vom 29. Juli
2015 (IV ZR 384/14, VersR 2015, 1101 und IV ZR 448/14, VersR 2015,
1104) sowie vom 11. November 2015 (IV ZR 513/14, VersR 2016, 33
Rn. 31 ff.) zu beachten haben.
Mayen Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
Lehmann Dr. Brockmöller
Vorinstanzen:
AG Cottbus, Entscheidung vom 27.07.2011 - 45 C 403/10 und 45 C 416/10 -
LG Cottbus, Entscheidung vom 12.09.2012 - 1 S 134/11 und 1 S 136/11 -