Urteil des BGH vom 27.04.2016

Ex Nunc, Versicherer, Lebensversicherung, Versicherungsvertrag

ECLI:DE:BGH:2016:270416UIVZR486.14.0
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 486/14
Verkündet am:
27. April 2016
Schick
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende
Richterin
Mayen,
die
Richterin
Harsdorf -Gebhardt,
die
Richter
Dr. Karczewski, Lehmann und die Richterin Dr. Brockmöller im schriftli-
chen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO mit Schriftsatzfrist bis zum
8. April 2016
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerseite wird das Urteil des
11. Zivilsenats des Brandenburgischen Oberlandesge-
richts vom 21. Dezember 2012 aufgehoben und die Sa-
che zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Beru-
fungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf
35.068,41 € festgesetzt.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerseite (Versicherungsnehmer: im Folgenden d. VN) be-
gehrt von dem beklagten Versicherer (im Folgenden Versicherer) Rüc k-
zahlung geleisteter Versicherungsbeiträge einer kapitalbildenden L e-
bensversicherung.
Diese wurde aufgrund Antrags d. VN mit Versicherungsbeginn zum
1. Oktober 1999 nach dem so genannten Policenmodell des § 5a VVG in
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der seinerzeit gültigen Fassung (im Folgenden § 5a VVG a.F.) abge-
schlossen.
D. VN zahlte fortan die Versicherungsbeiträge. Im Juni 2009 kün-
digte er den Versicherungsvertrag und der Versicherer zahlte unter Ver-
rechnung eines Policendarlehens den Rückkaufswert aus. Mit Schreiben
vom März 2011 erklärte d. VN unter anderem den Widerspruch nach § 5a
VVG a.F.
Mit der Klage verlangt d. VN insbesondere Rückzahlung aller auf
den Vertrag geleisteten Beiträge nebst Zinsen abzüglich de r bereits er-
brachten Zahlung.
Nach Auffassung d. VN ist der Versicherungsvertrag nicht wirksam
zustande gekommen, weil er zum einen nicht ordnungsgemäß belehrt
wurde und zum anderen das Policenmodell mit den Lebensversich e-
rungsrichtlinien der Europäischen Union nicht vereinbar sei.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Oberlandesgericht
die hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen. Mit der Revision ver-
folgt d. VN das Klagebegehren hinsichtlich des Bereicherungsanspruchs
weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Z u-
rückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
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I. Dieses hat einen Prämienrückerstattungsanspruch aus unge-
rechtfertigter Bereicherung verneint. D. VN habe die Prämien mit Rechts-
grund geleistet. Der Versicherungsvertrag sei wirksam zustande geko m-
men, denn der Versicherer habe d. VN ordnungsgemäß über das Wider-
spruchsrecht belehrt. Die Regelung des Policenmodells verstoße nicht
gegen die Zweite und Dritte Richtlinie Lebensversicherung .
II. Die Revision ist begründet.
1. Ein Anspruch auf Prämienrückzahlung aus § 812 Abs. 1 Satz 1
Alt. 1 BGB kann d. VN mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begrün-
dung nicht versagt werden.
a) Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts belehrte der Vers i-
cherer d. VN nicht ordnungsgemäß im Sinne von § 5a Abs. 2 Satz 1 VVG
a.F. über das Widerspruchsrecht. Die drucktechnische Gestaltung der
Widerspruchsbelehrung in dem Übersendungsschreiben des Versiche-
rers vom 4. Januar 2000 genügt den formellen Anforderungen, die der
Senat in seinem Urteil vom 28. Januar 2004 (IV ZR 58/03, VersR 2004,
497 unter 3 d) genannt hat, nicht. Danach muss sichergestellt sein, dass
d. VN die Belehrung zur Kenntnis nimmt, selbst wenn er nicht nach einer
Widerspruchsmöglichkeit sucht. Dies ist hier nicht durch die Kennzeich-
nung mit Sternchen an beiden Seiten des einschlägigen Absch nitts ge-
währleistet, weil sich die Textpassage nicht deutlich vom übrigen Text
abhebt. Auch im Weiteren sind Textstellen durch Sternchen an beiden
Seiten markiert.
b) Für einen solchen Fall bestimmte § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F.
zwar, dass das Widerspruchsrecht ein Jahr nach Zahlung der ersten
Prämie erlischt.
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aa) Das Widerspruchsrecht bestand hier aber nach Ablauf der Ja h-
resfrist und noch im Zeitpunkt der Widerspruchserklärung fort. Das ergibt
die richtlinienkonforme Auslegung des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. auf
der Grundlage der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europä i-
schen Union vom 19. Dezember 2013 (VersR 2014, 225). Der Senat hat
mit Urteil vom 7. Mai 2014 (IV ZR 76/11, BGHZ 201, 101 Rn. 17-34) ent-
schieden und im Einzelnen begründet, die Regelung müsse richtlinien-
konform teleologisch dergestalt reduziert werden, dass sie im Anwe n-
dungsbereich der Zweiten und der Dritten Richtlinie Lebensversicherung
keine Anwendung findet und für davon erfasste Lebens - und Rentenver-
sicherungen sowie Zusatzversicherungen zur Lebensversicherung grund-
sätzlich ein Widerspruchsrecht fortbesteht, wenn d. VN - wie hier - nicht
ordnungsgemäß über das Recht zum Widerspruch belehrt worden ist
und/oder die Verbraucherinformation oder die Versicherungsbedingu n-
gen nicht erhalten hat.
bb) Die Kündigung des Versicherungsvertrages steht dem späteren
Widerspruch nicht entgegen (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO
Rn. 36 m.w.N.). Ein Erlöschen des Widerspruchsrechts nach beiderseits
vollständiger Leistungserbringung kommt ebenfalls nicht in Betracht (vgl.
Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 37 m.w.N.).
cc) Die Ausübung des Widerspruchsrechts ist - entgegen der Revi-
sionserwiderung - auch nicht ausnahmsweise deshalb treuwidrig, weil
d. VN im Juli 2007 ein sogenanntes Policendarlehen des Versicherers in
Anspruch genommen hat. Dies folgt schon daraus, dass es sich im
Streitfall um eine Vorauszahlung auf die künftige Versicherungsleistung
handelte, die der Versicherer entsprechend nach der Kündigung des
Versicherungsvertrages mit dem Rückkaufswert verrechnet hat . Mit
Rücksicht darauf, dass d. VN nicht ordnungsgemäß über das Wide r-
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spruchsrecht belehrt worden war, ließ die Inanspruchnahme dieser V o-
rauszahlung keinen Schluss darauf zu, d. VN hätte auch bei Kenntnis
des Widerspruchsrechts an dem Versicherungsvertrag festgehalten und
werde von dem ihm zustehenden Widerspruchsrecht keinen Gebrauch
machen.
c) Die bereicherungsrechtlichen Rechtsfolgen der Europarecht s-
widrigkeit des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. sind nicht auf eine Wirkung
ab Zugang des Widerspruchs (ex nunc) zu beschränken, sondern nur e i-
ne Rückwirkung entspricht dem Effektivitätsgebot (dazu im Einzelnen
Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 42-44).
2. Der Höhe nach umfasst der Rückgewähranspruch nach § 812
Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB nicht uneingeschränkt alle gezahlten Prämien.
Vielmehr muss sich d. VN bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwic k-
lung den jedenfalls bis zur Kündigung des Vertrages genossenen Vers i-
cherungsschutz anrechnen lassen. Der Wert des Versicherungsschutzes
kann unter Berücksichtigung der Prämienkalkulation bemessen werden;
bei Lebensversicherungen kann etwa dem Risikoanteil Bedeutung z u-
kommen (Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 45 m.w.N.; vgl. auch
Senatsurteile vom 29. Juli 2015 - IV ZR 384/14, VersR 2015, 1101
Rn. 35 und IV ZR 448/14, VersR 2015, 1104 Rn. 33).
Da es hierzu an Feststellungen fehlt, ist der Rechtsstreit zur neuen
Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuve r-
weisen. Es wird den Parteien Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag zu
geben haben (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 46) und dabei
auch die Vorgaben der Senatsurteile vom 29. Juli 2015 (IV ZR 384/14,
VersR 2015, 1101 Rn. 36 ff.; IV ZR 448/14, VersR 2015, 1104 Rn. 34 ff.)
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sowie vom 11. November 2015 (IV ZR 513/14, VersR 2016, 33 Rn. 31 ff.)
zu beachten haben.
Mayen Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
Lehmann Dr. Brockmöller
Vorinstanzen:
LG Potsdam, Entscheidung vom 18.01.2012 - 1 O 165/11 -
OLG Brandenburg, Entscheidung vom 21.12.2012 - 11 U 40/12 -