Urteil des BGH vom 11.11.2015

Ablauf der Frist, Ex Nunc, Versicherer, Lebensversicherung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 412/14
Verkündet am:
11. November 2015
Heinekamp
Amtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende
Richterin
Mayen,
die
Richterin
Harsdorf -Gebhardt,
die
Richter
Dr. Karczewski, Lehmann und die Richterin Dr. Brockmöller im schriftl i-
chen Verfahren, bei dem Schriftsätze bis zum 14. Oktober 2015 einge-
reicht werden konnten,
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerseite wird das Urteil der
6. Zivilkammer des Landgerichts Kleve vom 25. Sep-
tember 2014 aufgehoben und die Sache zur neuen Ver-
handlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurück-
verwiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf
2.333,12
€ festgesetzt.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerseite (Versicherungsnehmerin: im Folgenden d. VN) b e-
gehrt von dem beklagten Versicherer (im Folgenden Versicherer) Rüc k-
zahlung geleisteter Versicherungsbeiträge einer Kapitallebensversich e-
rung.
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Diese wurde aufgrund eines Antrags d. VN mit Versicherungsb e-
ginn zum 1. November 2003 nach dem so genannten Policenmodell des
§ 5a VVG in der seinerzeit gültigen Fassung (im Folgenden § 5a VVG
a.F.) abgeschlossen. Nach den Feststellungen des Berufungs gerichts
erhielt d. VN mit dem Versicherungsschein die Versicherungsbedingu n-
gen und eine Verbraucherinformation nach § 10a des Versicherungsauf-
sichtsgesetzes (VAG), die eine Belehrung über das Widerspruchsrecht
nach § 5a VVG a.F. enthielt. Mit Schreiben vom 2. Dezember 2011 er-
klärte d. VN "den Widerspruch gem. § 5a VVG a.F.", weiterhin "den W i-
derruf nach § 8 VVG, bzw. den Widerruf nach § 355 BGB, höchstvorsorg-
lich die Anfechtung nach § 119 I BGB, sowie hilfsweise die Kündigung".
Der Versicherer akzeptierte die Kündigung und zahlte den Rückkaufs-
wert aus.
Mit der Klage verlangt d. VN Rückzahlung aller auf den Vertrag g e-
leisteten Beiträge nebst Zinsen abzüglich des bereits gezahlten Rüc k-
kaufswerts, insgesamt 2.333,12
€.
Nach Auffassung d. VN ist der Versicherungsvertrag nicht wirksam
zustande gekommen. Auch nach Ablauf der Frist des - gegen Gemein-
schaftsrecht verstoßenden - § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. habe der W i-
derspruch noch erklärt werden können.
Der Versicherer hat die Einrede der Verjährung erhoben.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landgericht die
hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt
d. VN das Klagebegehren weiter.
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Entscheidungsgründe:
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zu-
rückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. Dieses hat einen Prämienrückerstattungsanspruch aus ung e-
rechtfertigter Bereicherung verneint. Bei Erklärung des Widerspruchs
acht Jahre nach Vertragsschluss habe kein Widerspruchsrecht mehr be-
standen, denn die 14-tägige Widerspruchsfrist sei durch ordnungsgem ä-
ße Belehrung über das Widerspruchsrecht in Lauf gesetzt worden und
zum Zeitpunkt des Widerspruchs längst verstrichen gewesen. Bereits auf
Seite 1 des Versicherungsscheins im dritten Satz des ersten Absatzes
sei auf das Widerspruchsrecht hingewiesen und zu den Einzelheiten auf
die allgemeinen Informationen verwiesen worden. Dort finde sich die W i-
derspruchsbelehrung direkt am Anfang. Sie sei daher s elbst für einen
flüchtigen Leser sofort erkennbar gewesen. Sie entspreche den gesetzl i-
chen Anforderungen.
II. Die Revision ist begründet.
1. Der Anspruch auf Prämienrückzahlung folgt dem Grunde nach
aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB.
a) Der zwischen den Parteien geschlossene Versicherungsvertrag
schafft keinen Rechtsgrund für die Prämienzahlung. Er ist infolge des
Widerspruchs d. VN nicht wirksam zustande gekommen. Der Wide r-
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spruch war - ungeachtet des Ablaufs der in § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F.
normierten Jahresfrist - rechtzeitig.
aa) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts belehrte der
Versicherer d. VN nicht ordnungsgemäß i.S. von § 5a Abs. 2 Satz 1 VVG
a.F. über das Widerspruchsrecht. Die Belehrung auf Seite 1 des Vers i-
cherungsscheins ist unvollständig, weil sie den Beginn der Wide r-
spruchsfrist nur vom Erhalt des Versicherungsscheins abhängig macht.
Sie ist zudem inhaltlich falsch, weil sie darauf abstellt, dass d. VN mit
den Versicherungsbedingungen und Tarifbestimmungen nicht einver-
standen ist. Die Belehrung auf Seite 5 des Versicherungsscheins ist, wie
die Revision zu Recht rügt, nicht in drucktechnisch deutlicher Form g e-
staltet. Nur der erste Satz, der auf das Widerspruchsrecht und den Z u-
gang der für den Beginn der Widerspruchsfrist maßgeblichen Unterlagen
- des Versicherungsscheins, der Versicherungsbedingungen und der
Verbraucherinformation - hinweist, ist im Fettdruck gehalten. Im Übrigen
ist die Belehrung nicht durch Fettdruck oder auf sonstige Weise hervo r-
gehoben, so dass insbesondere der Hinweis darauf, dass die rechtzeitige
Absendung des Widerspruchs genügt, übersehen werden kann.
Für einen solchen Fall einer nicht ordnungsgemäßen Wide r-
spruchsbelehrung bestimmte § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. zwar, dass
das Widerspruchsrecht ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie erlischt.
Das Widerspruchsrecht bestand hier aber nach Ablauf der Jahre s-
frist und noch im Zeitpunkt der Widerspruchserklärung fort.
Das ergibt die richtlinienkonforme Auslegung des § 5a Abs. 2
Satz 4 VVG a.F. auf der Grundlage der Vorabentscheidung des G e-
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richtshofs der Europäischen Union vom 19. Dezember 2013 (VersR
2014, 225). Der Senat hat mit Urteil vom 7. Mai 2014 (IV ZR 76/11,
BGHZ 201, 101 Rn. 17-34) entschieden und im Einzelnen begründet, die
Regelung müsse richtlinienkonform teleologisch dergestalt reduziert
werden, dass sie im Anwendungsbereich der Zweiten und der Dritten
Richtlinie Lebensversicherung keine Anwendung findet und für davon e r-
fasste Lebens- und Rentenversicherungen sowie Zusatzversicherungen
zur Lebensversicherung grundsätzlich ein Widerspruchsrecht fortbesteht,
wenn d. VN - wie hier - nicht ordnungsgemäß über das Recht zum W i-
derspruch belehrt worden ist und/oder die Verbraucherinformation oder
die Versicherungsbedingungen nicht erhalten hat.
bb) Die (hilfsweise) Kündigung des Versicherungsvertrages steht
dem Widerspruch nicht entgegen (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO
Rn. 36 m.w.N.). Ein Erlöschen des Widerspruchsrechts nach beiderseits
vollständiger Leistungserbringung kommt ebenfalls nicht in Betracht (vgl.
Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 37 m.w.N.).
b) Die bereicherungsrechtlichen Rechtsfolgen der Europarecht s-
widrigkeit des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. sind nicht auf eine Wirkung
ab Zugang des Widerspruchs (ex nunc) zu beschränken, sondern nur ei-
ne Rückwirkung entspricht dem Effektivitätsgebot (dazu im Einzelnen
Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 42-44).
2. Aus der wirksamen Widerspruchserklärung folgende bereich e-
rungsrechtliche Ansprüche waren bei Erhebung der Klage im Februar
2013 noch nicht verjährt. Zu diesem Zeitpunkt war die maßgebliche r e-
gelmäßige dreijährige Verjährungsfrist des § 195 BGB nicht abgelaufen.
Diese konnte erst mit Schluss des Jahres 2011 beginnen, da d. VN erst
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in diesem Jahr den Widerspruch erklärte. Der nach einem Widerspruch
gemäß § 5a VVG a.F. geltend gemachte Bereicherungsanspruch en t-
stand erst mit Ausübung des Widerspruchsrechts im Sinne von § 199
Abs. 1 Nr. 1 BGB; jedenfalls zu diesem Zeitpunkt hatte der Versich e-
rungsnehmer Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen und
der Person des Schuldners im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB (vgl.
Senatsurteil vom 8. April 2015 - IV ZR 103/15, VersR 2015, 700
Rn. 19 ff.).
3. Der Höhe nach umfasst der Rückgewähranspruch nach § 812
Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB nicht uneingeschränkt alle gezahlten Prämien.
Vielmehr muss sich d. VN bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwic k-
lung den jedenfalls bis zur Kündigung des Vertrages genossenen Vers i-
cherungsschutz anrechnen lassen. Der Wert des Versicherungsschutzes
kann unter Berücksichtigung der Prämienkalkulation bemessen werden;
bei Lebensversicherungen kann etwa dem Risikoanteil Bedeutung z u-
kommen (Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 45 m.w.N.; vgl. weiter
zur Rückabwicklung Senatsurteile vom 29. Juli 2015 - IV ZR 384/14,
VersR 2015, 1101 Rn. 35 ff.; IV ZR 448/14, VersR 2015, 1104 Rn. 33 ff.).
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Da es hierzu an Feststellungen fehlt, ist der Rechtsstreit zur neuen
Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuve r-
weisen. Es wird den Parteien Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag zu
geben haben (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 46).
Mayen Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
Lehmann Dr. Brockmöller
Vorinstanzen:
AG Geldern, Entscheidung vom 16.01.2014 - 17 C 597/12 -
LG Kleve, Entscheidung vom 25.09.2014 - 6 S 28/14 -
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