Urteil des BGH vom 23.09.2015

Ex Nunc, Versicherer, Versicherungsvertrag, Prämie

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
I V Z R 2 1 5 / 1 4
Verkündet am:
23. September 2015
Schick
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende
Richterin
Mayen,
die
Richterin
Harsdorf -Gebhardt,
die
Richter
Dr. Karczewski, Lehmann und die Richterin Dr. Brockmöller im schriftli-
chen Verfahren mit Schriftsatzfrist bis zum 4. September 2015
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerseite wird das Urteil des
20. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 2. Mai
2014 aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisions-
verfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf
24.482,50
€ festgesetzt.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerseite (Versicherungsnehmerin: im Folgenden d. VN) be-
gehrt von dem beklagten Versicherer (im Folgenden Versicherer) Rüc k-
zahlung geleisteter Versicherungsbeiträge einer Rentenversicherung.
Diese wurde aufgrund Antrags d. VN mit Versicherungsbeginn zum
1. Juli 2003 nach dem so genannten Policenmodell des § 5a VVG in der
seinerzeit gültigen Fassung (im Folgenden § 5a VVG a.F.) abgeschlos-
sen. Unstreitig erhielt d. VN den Versicherungsschein, die Versiche-
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rungsbedingungen, die Verbraucherinformation nach § 10a des Versiche-
rungsaufsichtsgesetzes (VAG) und eine im Versicherungsschein enthal-
tene schriftliche Belehrung über das Widerspruchsrecht.
D. VN zahlte in der Folge Prämien. Zum 1. September 2011 kün-
digte d. VN den Versicherungsvertrag und der Versicherer zahlte den
Rückkaufswert aus. Mit Schreiben vom Mai 2012 erklärte d. VN den W i-
derspruch nach § 5a VVG a.F.
Mit der Klage verlangt d. VN - soweit für das Revisionsverfahren
von Bedeutung - Rückzahlung aller auf den Vertrag geleisteten Beiträge
nebst Zinsen abzüglich des bereits gezahlten Rückkaufswertes, insge-
samt 24.482,50
€.
Nach Auffassung d. VN ist der Versicherungsvertrag nicht wirksam
zustande gekommen, weil das Policenmodell mit den Lebensversich e-
rungsrichtlinien der Europäischen Union nicht vereinbar sei.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Oberlandesgericht
die hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen. Mit der Revision ve r-
folgt d. VN das Klagebegehren hinsichtlich des Bereicherungsanspruchs
weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Z u-
rückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
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I. Dieses hat einen Prämienrückerstattungsanspruch aus ung e-
rechtfertigter Bereicherung verneint. Der Versicherer habe im Versiche-
rungsschein zwar nicht ordnungsgemäß über das Widerspruchsrecht b e-
lehrt. Der Vertrag sei aber gemäß § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. ein Jahr
nach Zahlung der ersten Prämie rückwirkend endgültig wirksam gewo r-
den.
II. Die Revision ist begründet.
1. Ein Anspruch auf Prämienrückzahlung aus § 812 Abs. 1 Satz 1
Alt. 1 BGB kann d. VN mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begrün-
dung nicht versagt werden.
a) Der zwischen den Parteien geschlossene Versicherungsvertrag
schafft keinen Rechtsgrund für die Prämienzahlung. Er ist infolge des
Widerspruchs d. VN nicht wirksam zustande geko mmen. Der Wider-
spruch war - ungeachtet des Ablaufs der in § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F.
normierten Jahresfrist - rechtzeitig.
aa) Nach den revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Festste l-
lungen des Berufungsgerichts belehrte der Versicherer d. VN - auch un-
ter Berücksichtigung des Vorbringens der Revisionserwiderung - nicht
ordnungsgemäß i.S. von § 5a Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. über das Wide r-
spruchsrecht. Die Widerspruchsbelehrung im Versicherungsschein ist
drucktechnisch nicht im Sinne von § 5a Abs. 2 Sa tz 1 VVG a.F. hervor-
gehoben. Sie unterscheidet sich nicht vom übrigen Text.
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Zutreffend hat das Berufungsgericht weiter ausgeführt, dass die im
Versicherungsschein enthaltene Belehrung auch inhaltlich fehlerhaft ist,
weil sie keinen Hinweis darauf enthält, dass der Widerspruch in Textform
zu erheben war. Die notwendige Belehrung über das gesetzliche Forme r-
fordernis (vgl. Senatsurteil vom 28. Januar 2004 - IV ZR 58/03, VersR
2004, 497 unter 3 b) erfolgte entgegen der Auffassung der Revisionse r-
widerung nicht dadurch, dass d. VN mitgeteilt wurde, zur Fristwahrung
genüge die rechtzeitige "Absendung" der Widerspruchserklärung an den
Versicherer. Selbst wenn ein verständiger Versicherungsnehmer nur ve r-
körperte Erklärungen als der Absendung zugänglich ansieht, so bleibt für
ihn dennoch unklar, ob hierzu eine Verkörperung in Textform ausreicht
oder ob es nicht der traditionellen Schriftform bedarf (vgl. Senatsurteile
vom 29. Juli 2015
– IV ZR 448/14, VersR 2015, 1104 Rn. 24 und IV ZR
112/14, juris Rn. 12).
Für einen solchen Fall bestimmte § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F.
zwar, dass das Widerspruchsrecht ein Jahr nach Zahlung der ersten
Prämie erlischt. Das Widerspruchsrecht bestand hier aber nach Ablauf
der Jahresfrist und noch im Zeitpunkt der Widerspruchserklä rung fort.
Das ergibt die richtlinienkonforme Auslegung des § 5a Abs. 2
Satz 4 VVG a.F. auf der Grundlage der Vorabentscheidung des G e-
richtshofs der Europäischen Union vom 19. Dezember 2013 (VersR
2014, 225). Der Senat hat mit Urteil vom 7. Mai 2014 (IV ZR 76/11,
BGHZ 201, 101 Rn. 17-34) entschieden und im Einzelnen begründet, die
Regelung müsse richtlinienkonform teleologisch dergestalt reduziert
werden, dass sie im Anwendungsbereich der Zweiten und der Dritten
Richtlinie Lebensversicherung keine Anwendung findet und für davon er-
fasste Lebens- und Rentenversicherungen sowie Zusatzversicherungen
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zur Lebensversicherung grundsätzlich ein Widerspruchsrecht fortbesteht,
wenn d. VN - wie hier - nicht ordnungsgemäß über das Recht zum W i-
derspruch belehrt worden ist und/oder die Verbraucherinformation oder
die Versicherungsbedingungen nicht erhalten hat.
bb) Die Kündigung des Versicherungsvertrages steht dem späteren
Widerspruch nicht entgegen (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO
Rn. 36 m.w.N.). Ein Erlöschen des Widerspruchsrechts nach beiderseits
vollständiger Leistungserbringung kommt ebenfalls nicht in Betracht (vgl.
Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 37 m.w.N.).
b) Die bereicherungsrechtlichen Rechtsfolgen der Europarecht s-
widrigkeit des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. sind nicht auf eine Wirkung
ab Zugang des Widerspruchs (ex nunc) zu beschränken, sondern nur e i-
ne Rückwirkung entspricht dem Effektivitätsgebot (dazu im Einzelnen
Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 42-44).
2. Der Höhe nach umfasst der Rückgewähranspruch nach § 812
Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB nicht uneingeschränkt alle gezahlten Prämien.
Vielmehr muss sich d. VN bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwic k-
lung den jedenfalls bis zur Kündigung des Vertrages genossenen Vers i-
cherungsschutz anrechnen lassen. Der Wert des Versicherungsschutzes
kann unter Berücksichtigung der Prämienkalkulation bemessen werden;
bei Lebensversicherungen kann etwa dem Risikoanteil Bedeutung z u-
kommen (Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 45 m.w.N.; vgl. auch
Senatsurteile vom 29. Juli 2015 - IV ZR 384/14, VersR 2015, 1101
Rn. 35 ff. und IV ZR 448/14, VersR 2015, 1104 Rn. 33 ff.).
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Da es hierzu an Feststellungen fehlt, ist der Rechtsstreit zur neuen
Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuver-
weisen. Es wird den Parteien Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag zu
geben haben (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 46).
Mayen Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
Lehmann Dr. Brockmöller
Vorinstanzen:
LG Köln, Entscheidung vom 04.03.2013 - 26 O 301/12 -
OLG Köln, Entscheidung vom 02.05.2014 - 20 U 59/13 -
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